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Videoclips XXX

Fuckin’ perfect - Stereo

Andreas Mertin

Unterschiedlicher könnten die Videos, die ich heute vorstellen möchte, kaum sein. Ein Video, das nahezu perfekt menschliches Empowerment betreibt und eines, das mit klassischen Vorurteilen aus dem 19. Jahrhundert operiert und auf der Klaviatur gesellschaftlicher „Stereotypen“ spielt und letztlich in alte Rollenklischees zurückfällt.

Pink: Fuckin’ perfect

Wie häufig bei Pink ist das Musikvideo sehr zugespitzt, aber auch beeindruckend. In diesem Falle geht es im Rückblick um die Biographie einer jungen Frau vom kleinen Mädchen bis zu ihrem aktuellen Weg zum Erfolg. In die Zuspitzung ist das Video streckenweise schwer auszuhalten, aber es ist für die Auseinandersetzung auch sehr lohnend.

Das Online-Lexikon Wikipedia fasst die Story des Videoclips so zusammen:

Das Video beginnt mit einem Liebespaar, der Mann und die Frau liegen zusammen im Bett und haben Sex; die Frau sieht unbeteiligt zur Seite. Der Mann lässt von der Frau ab und beide drehen sich voneinander weg. Sie starrt auf einen Teddybär und das Lied beginnt. Der Zuschauer blickt in die Kindheit der Frau zurück. Das Mädchen ist im Kindergarten und ein Junge reißt ihr ihren Teddybär aus der Hand und ärgert sie, indem er ihn wegwirft. Daraufhin schlägt sie den Jungen und wird dabei von einer Kindergärtnerin erwischt und bekommt Ärger. Nun werden verschiedene Lebensabschnitte des Mädchens gezeigt: sie ist einsam, streitet sich mit ihrer Mutter (weil sie sich ausgefallen schminkt und kleidet), sie wird geärgert und von ihren Mitschülern ausgeschlossen, ist schlecht in der Schule und eifersüchtig auf ihre schlanken, gut aussehenden Klassenkameradinnen, klaut in einem Laden ein Kleid und wird dabei erwischt.

Danach beginnt ihre Magersucht und man sieht sie vollkommen abgemagert in einem Badezimmer. Sie legt sich in die Badewanne und schneidet sich mit einer Rasierklinge das Wort "Perfect" in den Unterarm. Zum Sterben bereit lehnt sie sich in der Badewanne zurück und die Musik stoppt. Ihr Blick gleitet durch das Badezimmer und sie erblickt den Teddybär. Sie wird sich ihrer Tat bewusst, erhebt sich (die Musik geht mit neuer Kraft weiter) und steigt aus der Wanne. Unter Tränen schneidet sie sich ihre langen Haare ab, scheint aber neuen Lebensmut gefunden zu haben und wandelt ihren Selbsthass in Kreativität um, welche schon in früheren Szenen als Ventil und Leidenschaft angedeutet wurde. Sie malt ein Selbstportrait und man sieht sie zum ersten Mal lächeln. Auf einer anschließenden Kunstausstellung lernt sie einen Mann kennen.

Nun befindet man sich wieder am Anfang des Musikvideos und sieht das Liebespaar im Bett, der Mann (derselbe, den sie auf der Kunstausstellung kennen lernte) dreht sich wieder zu seiner Frau und umarmt sie, sie lächelt ihn an und steht aus dem Bett auf. In der letzten Szene geht die Frau in das Zimmer ihrer Tochter und legt den Teddybär neben diese. Sie schaut das schlafende Kind an und sagt "You are perfect to me".

Theatralisch ist das Ganze relativ klassisch nach dem Fünf-Akte-Schema des Regeldramas aufgebaut, von der Exposition über die Steigerung/Komplikation zur Peripetie und zurück über die Retardation zur Lysis. Das ist ein für Videoclips mit narrativem Gehalt häufig verwendeter Aufbau. Mit Lessing kann man davon ausgehen, dass er vor allem auf das Mitleid des Zuschauers zielt und auf dessen Katharsis zielt: „Durch das Mitfühlen solle im Zuschauer eine Wandlung vor sich gehen, die ihn tugendhafter mache.“ (Wikipedia, Hamburgische Dramaturgie)

„Tugendhafter“ wäre hier aber moderner zu übersetzen mit (weiblichem) Empowerment im Sinne der Beschreibung die John Fiske dem Phänomen in seinen „Lesarten des Populären“ am Beispiel von Madonna gegeben hat.[1] Danach werden Rollenmodelle akzentuiert, die Nutzerinnen und Nutzer reflektieren und gegebenenfalls übernehmen können.

Anna Abreu – Stereo

Nach dem ersten Betrachten des Videos zu „Stereo“ von Anna Abreu kann man nur feststellen: Da hat wohl jemand zu viel Sister Act gesehen und gedacht, das machen wir auch, packen noch ein paar scheinbare Verruchtheiten wie lesbische Liebe und Zigaretten rauchende und Karten spielende Nonnen oben drauf und hoffen dann, damit öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Aber so geht das nicht, der Funke springt nicht über (im doppelten Wortsinn) und das Ganze ist nur peinlich. Ein Studienobjekt für misslingende und klischeehafte Inszenierungsstrategien. Wenn man sich fragt, warum religiöse Menschen manchmal religionskritische Menschen belächeln, dann sollte man auf solche Produkte schauen, da findet man die Ursache. Eine Ansammlung von Klischees macht noch keine spannende Story.

Der Plot: Ein Mädchen wird in ein karges Frauenkloster gebracht und trifft dort auf eine Gruppe gelangweilter und daher zu diversen Sünden bereiter Nonnen. Nach ein paar Tanzbewegungen und ein paar heißen Küssen flieht Frau mit einer neu gefundenen Partnerin aus dem Kerker der Religion in die Freiheit.

Das Lied ist samt visueller Umsetzung dem Musikantenstadl verwandter als irgendeiner kritischen Aufklärung in Sachen Religion. In einem englischsprachigen Blog fand ich folgende Ankündigung: Want to see lesbian nuns kung-fu kicking a church bell? Well, we just happen to have the video for you. Und genau so ist es dann auch.

Nun ist die Sängerin Anna Abreu aus Finnland, das, wie wir ja alle wissen, voll von derartigen merkwürdigen katholischen Frauenklöstern ist. 78% der Finnen gehören der ev.-luth. Kirche an, 1,1% der orthodoxen Kirche. Die Zeugen Jehovas haben 19.00 Anhänger. Und die römisch-katholische Kirche? Nun ganze 10.00 Mitglieder, vor allem Einwanderer aus Polen. 0,2 % der Bevölkerung sind also katholisch. Wie soll man also ein Video nennen, das mit derartigen Klischees operiert? Verhetzend? Dumm? Auf billige Reflexe spekulierend?

Der Schaden, der hier angerichtet wird, trifft ja weniger die Religion. Nur außerordentlich dumme Menschen halten das für ein Abbild dessen, was in einem Frauenkloster normalerweise passiert. Der Schaden betrifft die Kultur an sich, die Standards, auf die wir uns in der (visuellen) Kommunikation einlassen. Nun kann man sagen, von einem Teilnehmer eines finnischen Idol-Wettbewerbs (also der deutschen Variante von DSDS) würde man eh’ nicht mehr erwarten. Aber das heißt, von vornherein auf jeden kulturellen Anspruch zu verzichten.

Dirk Käsler schrieb 1995 angesichts eines ähnlichen Spektakels: ‘Wer unbekanntes und unpraktiziertes Christentum zur Theaterkulisse für harmonische Abendunterhaltung verkommen lässt, dem droht religiöser Analphabetismus, er wird Opfer der völligen Entsakralisierung des Lebens. Genau wie diejenigen, die Karneval und Fasching als Dauerparty missverstehen und nicht um den inneren Zusammenhang von Aschermittwoch und Fastenzeit wissen. Den Preis dafür zahlen wir, nicht die Religion’. [2] So ist es.

Anmerkungen

[1]    Fiske, John (2003): Lesarten des Populären. Unter Mitarbeit von Christina Lutter, Markus Reisenleitner und Stefan Erdei. Wien: Löcker (Cultural studies, 1), insbes. S. 103ff.

[2]    Käsler, Dirk (1995): Menetekel. In: MAX, S. 185.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/75/am378.htm
© Andreas Mertin, 2012