4′33″ - Oder: die wahre Provokation des NICHTS

Was man von der Kunst hätte lernen können

Andreas Mertin

Mit dem NICHTS zu arbeiten, ist sicher eine der größten Herausforderungen. Es kann im schlimmsten Fall auf aggressive Gegenreaktionen stoßen oder auch: gar nicht bemerkt und mit einem Achselzucken quittiert werden. In der Kunst des 20. Jahrhunderts war die Suche nach dem Nullpunkt der Malerei, dem NICHTS der Kunst zentral. Und bei dieser künstlerischen Erkundung der absoluten Reduktion wurde nichts und niemand geschont: der Veranstalter nicht, der Künstler nicht, das Kunstwerk nicht, der Betrachter nicht. Jeder dieser am Kunstsystem beteiligten Größen wurde im Laufe der Zeit einmal auf das NICHTS reduziert – nur um zu schauen, was dann passiert.

Nun kann man naiv fragen, worin denn die Provokation besteht, wenn man doch nur einfach NICHTS macht, aber so einfach ist das nicht. Letztlich spielt man virtuell mit dem Schritt zurück vom Cro-Magnon-Menschen zum Neanderthaler, von der Kultur zur Natur, von dem, was uns Menschen auszeichnet zur bloß zufälligen Geste. Bis zum 20. Jahrhundert war deshalb der malende Affe (z.B. bei Decamps) ein Symbol der Frage danach, was denn kontingente Natur und was zivilisatorische Errungenschaft, also Kultur sei. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Künstler Arnulf Rainer dem NICHTS genähert, indem er zum einen beim Malen mit Affen konkurrierte und zum anderen Bilder durch Übermalen mit schwarzer Farbe der Annihilation annäherte. Frage: Was bleibt, wenn man das Subjekt und die gestaltenden Farben entfernt? NICHTS!

Deshalb wurde das NICHTS in der Kunst immer sorgfältig inszeniert, um dem Verdacht zu begegnen, es sei Zeugnis mangelnder Fähigkeit oder Ausdruck künstlerischen Versagens.

„Das schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch aus dem Jahr 1914/15 gehört in diese Geschichte des Ringens mit dem NICHTS, wie Malewitsch selbst darlegt: „Als ich 1913 den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien, stellte ich ein Gemälde aus, das nicht mehr war als ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Grundfeld ... Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“ Dabei ist das Bild nicht einmal das eines Quadrats, sondern nur das eines Vierecks, wie sein Titel auch ursprünglich anzeigte. In der Sache zeigt es aber, welche Wirkungen die Reduktion auf das NICHTS haben kann, wenn es mehr ist, als das bloße Weglassen von Etwas, denn dieses Bild gehört zu den wichtigsten Kunstwerken des 20. Jahrhunderts, so sehr, dass man später vom „gequälten Quadrat“ sprach.

Die Wikipedia verweist darauf, dass es eine Art Vor-Bild für Malewitschs Arbeit gibt und zwar aus dem Jahr 1617: „Der englische Arzt und Naturphilosoph Robert Fludd hat im ersten Band von Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris Metaphysica, physica atque technica Historia (Metaphysik und Natur- und Kunstgeschichte beider Welten, nämlich des Makro- und des Mikrokosmos), ... eine Schöpfungsgeschichte visualisiert, die mit dem ... Nichts, als ein schwarzes Viereck beginnt.“ Das bezieht sich auf die Creatio ex nihilo im Sinne von 2. Makk 7, 28: „sieh alles, was es da gibt, und erkenne: Gott hat das aus dem Nichts erschaffen“.

Ein Sonderfall der künstlerischen Inszenierung des NICHTS, aber mindestens so folgenreich wie Malewitschs Schwarzes Quadrat sind die Readymades von Marcel Duchamp nach 1915. Hier geht es weniger um das NICHTS in der Kunst, als vielmehr um die VerNICHTung des traditionellen künstlerischen Aktes. Wenn man in den Baumarkt gehen und einen dort gekauften Gegenstand als Kunstwerk ausstellen kann, was ist dann noch künstlerische Arbeit daran? Und was künstlerisches Können? NICHTS? Oder ist es der Gestus der künstlerischen Auswahl aus dem NICHTS – jene Lösung, auf die sich schließlich die Kunstkritik und die jüngere Kunstgeschichte geeinigt haben? Für die weitere Kunstgeschichte war diese Lösung jedenfalls maßgebend.

Im Jahr 1951 hat dann Robert Rauschenberg mit seinen weißen, schwarzen und roten Bildern versucht, „die Malerei auszulöschen“. Im gleichen Jahr hat er eine Arbeit seines Kollegen de Kooning „vernichtet“, indem er sie ausradierte. Und nun bemalte er die Leinwand mit weißer Wandmalfarbe und erläuterte, der Betrachter und die Umgebung würden mit zur Arbeit gehören. Ähnliches gilt für die schwarzen Bilder: „er bemalte die Leinwände mit glänzender schwarzer Farbe und übermalte diese anschließend mit matter schwarzer Farbe. Robert Rauschenberg benutzte die Farbe Schwarz, um darunter die Spuren der Tradition und der eigenen Konditionierung verschwinden zu lassen und darauf ihr Grundvokabular neu zu erfinden. Schwarz stand bei Rauschenberg für die Selbstbeschränkung auf das Quasi-Nichts, das ihm bei der Suche nach sich selbst als Ausgangspunkt diente. Für Rauschenberg bedeutete Schwarz auch das Nicht-Wissen, wie es für ihn künstlerisch weitergehen würde“ [wikipedia, Art. Rauschenberg].

Beeindruckt und beeinflusst von Rauschenbergs Experimenten ist dann der Künstler John Cage 1952 noch einen Schritt weiter gegangen und hat das Stück 4′33″ veröffentlicht, das vielleicht bis heute in unüberbietbarer Radikalität die Frage nach dem Nichts und dem Etwas stellt. Der Titel bezeichnet dabei die Gesamtdauer des Stückes. Freilich darf während dieser Dauer kein einziger Ton gespielt werden. Die Komposition des Stückes gliedert sich in drei Sätze ohne Noten, deren jeweilige Länge aber nicht festgelegt ist. „In der Uraufführung am 29. August 1952 in Woodstock, N.Y. zeigte der Pianist David Tudor die 3 Sätze durch Schließen und Öffnen des Klavierdeckels an. Er erwürfelte vor der Aufführung die jeweilige Dauer der drei Sätze mit 33″, 2′40″ und 1′20″, was eine Gesamtlänge von 4′33″ ergibt.“ [wikipedia, Art. 4’33″]

Dass es hier nicht um das bloße Verzichten auf Töne geht, wird aus den sich aus dem Ablauf stellenden Fragen deutlich, die die Wikipedia so zusammenfasst:

  • „’Spielt’ der Interpret überhaupt, wenn er keine Töne erzeugt?
  • Ist die Stille das Stück – oder die Geräusche, die man sonst beim Musikhören ausblendet, also Klimaanlage, Publikumsgeräusche, draußen vorbeifahrende Autos usw.?
  • Worin liegt die Kunst des Komponisten, wenn man nichts hört? (Klassisches Argument hierzu: ‚Das kann ja jeder!’)
  • Was ist der Unterschied zwischen den Sätzen und den Pausen dazwischen bzw. danach?
  • Wird hier nur mit einer Erwartungshaltung des Hörers gespielt, die dann nicht befriedigt wird, wird also die Aufführungs-Situation problematisiert, oder geht es um das Erlebnis des Nichts, der Stille oder der sonst nicht wahrgenommenen Nebengeräusche?“

Und nur wenn diese Fragen entstehen, entfaltet sich auch die der ästhetische Erfahrungsgehalt dieses NICHTS.

Neben den Künstlern, die sich dem NICHTS in der Kunst näherten bzw. die Kunst dem NICHTS annäherten, gab es solche, die verwandte Fragestellungen im Blick auf andere Komponenten des Betriebssystems Kunst entwickelten, von der Ausschaltung des Distributionssystems über die Virtualisierung des Ausstellungsprozesses bis zur Fiktionalisierung des Kunstereignisses.

So hat der Künstler Gregor Schneider am 31. Mai 2007 zu einer Performance in die Berliner Staatsoper eingeladen, um dann das Warten der Besucher auf das Ereignis in der Warteschlange zum Kunstereignis zu erklären. Der Besucher bekommt quasi NICHTS außer anderen Besuchern zu sehen und soll dieses NICHTS als die eigentliche Kunst begreifen. Das Ereignis selbst wurde aber natürlich sorgfältig choreografisiert, auch wenn es sich, wie es so schön heißt, um ein „ereignisloses Geschehen“ handelte. Die wütenden und entsetzten Reaktionen kann man sich ausmalen, aber sie sie provozieren die Frage, was Kunst ist und woran man das festmacht. Es gibt eine Fülle ähnlicher Kunstaktionen, die jeweils die Rolle beteiligter Kunstakteure auf ein Minimum begrenzen.

Bleibt die Frage: Kann man heute noch diesen Gestus des NICHTS pflegen? Ich denke schon, dass das geht, nur zeigen die hier vorgestellten historischen Beispiele, dass es jeweils einer ganz spezifischen Inszenierung bedarf, um dem NICHTS Ausdruck zu verschaffen. Ohne diese Rahmungen, ohne Resonanzkörper verpufft die Wirkung und das Geschehen wird banal. Ohne einen Reflexionsrahmen ist Gregor Schneiders Aktion nur ein Gag, ohne konzertante Aufführung macht 4’33″ keinen Sinn und es entstehen keine Fragen, nur im Kontext einer langen Kunstgeschichte erweisen sich die Bilder Rauschenbergs als radikale Zuspitzung, nur nach der 400 Jahre währenden Zelebration des Künstlers als Alter Deus wird seine Infragestellung durch Duchamp so schmerzhaft und nur angesichts der letztlich nicht geklärten Transformation von der Ikone zur Kunst wird die Inszenierung des Schwarzen Quadrats erkenntnisproduktiv.

Sich nur hinzustellen und zu sagen, wir machen mal NICHTS ist dagegen nicht erkenntnisproduktiv, sondern Flucht vor der Herausforderung, ETWAS zu gestalten.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/77/392.htm
© Andreas Mertin, 2012