Kunst-Reflexionen

Rezensionen

Andreas Mertin

Es gibt Bücher, die sind unentbehrlich. Das sind solche Bücher, die Schneisen schlagen in das Dickicht des Wissens der letzten 2500 Jahre, die einem helfen, die Texte und Kontexte zu verstehen, die für die Erschließung und Aneignung eines Themas wichtig sind. Ein solches Buch ist der Band „Ästhetik und Kunstphilosophie“, herausgegeben von  Monika Betzler und Julian Nida-Rümelin, neu bearbeitet  von Mara-Daria Cojocaru, das jetzt in der 2. aktualisierten und ergänzten Auflage erschienen ist. Niemand kann wirklich alle Texte zur Ästhetik und Kunstphilosophie gelesen haben, wenn er nicht gerade ausgewiesener Spezialist auf diesem Gebiet ist. Der Überblick wird spätestens dann schwierig, wenn – wie gerade bei den Darstellungen in diesem Buch deutlich wird – viele wichtige Erkenntnisse gar nicht in dezidierten Schriften eines Autors, sondern verstreut in seinem Gesamtwerk zu finden sind. Da hilft es, wenn einem ein Buch Hilfestellungen gibt, wie ein Philosoph in Fragen der Ästhetik oder Kunstphilosophie einzuordnen ist, welches seine Thesen und Impulse sind und wo man im Gesamtwerk diese findet. Genau dies leistet das Buch in vorbildlicher Weise in 160 Einzeldarstellungen von der Frühzeit bis zu jene Philosophengeneration, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurde.

Natürlich erschlägt einen zunächst – und zwar auch für jemanden, der sich für Ästhetik und Kunstphilosophie interessiert – die Fülle an Informationen, die hier auf knapp 1000 Seiten ausgebreitet werden. Manchmal bekommt man auch ein schlechtes Gewissen, weil man nicht alle der vorgestellten Denker kennt. Dann aber ‚rutscht’ man in die Lektüre, ist versucht, das Buch wie eine Monographie zu lesen oder wenigstens doch als postmoderne Textur. Das ist deshalb nahe liegend, weil in jeder Einzeldarstellung nicht nur die Ästhetik bzw. Kunstphilosophie des Betreffenden vorgestellt wird, sondern auch der Kontext seines Denkens und die Rezeption seiner Gedanken. Und das führt dazu, dass man dann bei den entsprechenden Verzweigungen weiter liest und weiter liest ....

Zur ersten Auflage schrieb Julian Nida-Rümelin 1998: „Die Auswahl fiel für längst vergangene Epochen leichter als in er aktuellen Ästhetik und Kunstphilosophie. Es wurde jedoch versucht, der Vielfalt zeitgenössischer Strömungen durch eine ausgewogene Berücksichtigung von Philosophinnen und Philosophen hermeneutischer, phänomenologischer und analytischer Provenienz Rechnung zu tragen. ... Die Auswahl der in diesem Buch berücksichtigten Beiträge folgt einem konzentrischen Muster sowohl in zeitlicher wie in regionaler Hinsicht. Das 20. Jh. ist mit 60 Artikeln stärker als das 19. mit 31, das 18. mit 22 oder das 17., 16.und 15. Jh. mit jeweils fünf Artikeln repräsentiert. 13 Artikel behandeln Theorien aus dem Mittelalter und 9 aus der Antike. Von den großen europäischen Kultur- und Sprachkreisen ist der deutsche mit 55, der englische mit 29, der französische mit 24, der italienische mit 9 und der slawische mit 6 Beiträgen vertreten.“

Die schon früher im Blick auf die erste Auflage geäußerte Kritik an der Nicht-Aufnahme des einen oder des anderen in die Runde der zu berücksichtigenden Positionen (etwa Fichte oder Schleiermacher) ist vielleicht nachvollziehbar, aber letztlich bleibt eine solche Auswahl notwendig immer in einem gewissen Sinne willkürlich. Im vorliegenden Falle sind aber nahezu alle relevanten Positionen der Ästhetik-Diskussion abgedeckt, so dass der Leser wirklich einen exzellenten Überblick über das philosophische Denken zur Kunst bekommt.

Das Buch empfiehlt sich nicht nur für fachlich Interessierte als Nachschlagewerk, sondern auch als Einstieg in die weitere Beschäftigung mit dem Thema. Man kann sich anregen lassen, Texte und Positionen, die man bisher so noch nicht wahrgenommen hatte, nun genauer zu verfolgen und für sich zu erschließen. Man kann einen historischen Querschnitt wählen oder noch einmal alle jene Positionen sich nahe bringen lassen, die einem bei der persönlichen Erschließung der Kunst bisher nicht eingeleuchtet haben und kann so prüfen, ob sie im Konzert all der anderen Positionen an Plausibilität gewinnen. Ja, ein Begriffsregister wäre schön gewesen, aber es hätte vielleicht auch das ganze noch einmal erheblich im Umfang erweitert. Einfacher zu befriedigen wäre der Wunsch gewesen, die Liste der vorgestellten Positionen einmal in chronologischer Reihenfolge abzudrucken. Die Mühe muss man sich nun selber machen. Aber das trübt den außerordentlich positiven Gesamteindruck des Buches nicht wirklich.


„Seit 2500 Jahren deuten die Menschen sich selbst und ihre Stellung in der Welt immer neu nach dem Muster der Tragödie. Deren Frage- und Erklärungspotenzial vermag uns offenbar bis heute zu erregen, zu fesseln und zu schöpferischer Leistung anzuregen.“ So steht es auf dem Klappentext dieses Lehrbuchs zur Tragödie und ganz sicher ist dieser Beobachtung zuzustimmen. Trotz aller Eventisierung unserer Kultur, trotz eines unbestreitbaren Trends, nahezu alles zu trivialisieren, trotz all dem hat die Tragödie eine unbestreitbare Gegenwartsrelevanz. Bernhard Greiner, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Tübingen, legt mit diesem 864 Seiten umfassenden Lehrbuch die Grundlagen für den Leser, sich den Reichtum der zentralen dramatischen Gattung systematisch anzueignen.

Sein Lehrbuch gliedert sich in drei große Abschnitte:

A – Die Tragödie in Antike und Neuzeit bis zum 17. Jahrhundert
B – Deutschsprachige Tragödien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert
C – Tod der Tragödie und Wiederkehr

Der erste Abschnitt nähert sich dem Thema „Tragödie“ als Teil des europäischen Bewusstseins, erörtert die Frage Was ist tragisch? und widmet sich dann der griechischen Tragödie (Ödipus, Antigone) und ihrer Bedeutung für die Tragödientheorie. Anschließend geht es um die europäische Tragödie der Neuzeit (Shakespeare, Marlowe, Goethe, Racine) und ihrer Wirkungsgeschichte (Benjamin).

Der zweite Abschnitt behandelt die Tragödie des bürgerlichen Subjekts anhand einer Vielzahl von Tragödien (Gottsched, Lessing, Schiller, Goethe, Kleist) sowie die Tragödie jenseits des bürgerlichen Subjekts (Büchner, Grillparzer, Hofmannsthal, Wedekind, Kaiser, Toller, Brecht und Müller).

Der dritte sehr knappe Abschnitt behandelt „die neue Heraufkunft der Tragödie“ am Beispiel von Steiner und Strauß.

Jeweils bezogen auf die einzelnen Tragödien, z.T. aber auch grundsätzlich werden dann die zentralen Tragödientheorien von Aristoteles bis Benjamin vorgestellt und erörtert.

Das Buch bietet so eine solide Grundlage und eine empfehlenswerte Einführung in die Geschichte der Tragödie von den Anfängen bis zur Gegenwart.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/am397.htm
© Andreas Mertin, 2012