Ein theologischer Spaziergang über die d(13)

2 – Die documenta-Halle

Andreas Mertin

Anders als bei den vorausgegangenen Ausstellungen bildet dieses Mal die documenta-Halle ein wichtiges Element im Konzept. Insbesondere die untere Ebene versammelt mehrere bedenkenswerte Kunstwerke, die sich auch in einen theologischen Diskurs einzeichnen lassen, während die Kunstwerke der oberen Ebene eher grundsätzlich danach fragen, was (noch) Kunst ist und wie stark die Kunst sich gegen sich selbst richten kann. Beginnen möchte ich im unteren Bereich:

01 – Die Wieder-Holung

Zu den kunstinternen Überraschungen dieser documenta zählt sicher die Präsentation der Werke von Thomas Bayrle (*1937). Nicht weil Bayrle nicht documenta-würdig wäre, ganz im Gegenteil.[1] Aber man hätte nicht erwartet ihn so zeitgenössisch präsentiert zu sehen. Als Teilnehmer der documenta III und der documenta 6 hätte man ihn als etablierte Position des 20. Jahrhunderts rubriziert, die dann wie etwa Salvador Dali oder Julio Gonzales auf der d13 zitiert wird. Aber auf der documenta 13 wird er nun zwar auch mit einer wichtigen älteren Arbeit gezeigt, zugleich aber mit neuen Werken, die von einer überaus erfrischenden Präsenz sind.

Dominant im Raum wirkt zunächst seine große Arbeit aus dem Jahr 1982-83, die ich zuerst 1984 auf der Düsseldorfer Ausstellung „von hier aus“ gesehen habe; damals waren das meine ersten aufregenden Kontakte mit der zeitgenössischen Kunst.[2] Diese 30 Jahre alte Arbeit spannt also einen weiten Bogen, denn damals war die Zeit des malerischen Aufbruchs in der deutschen Kunst. Ausführlich wird im damaligen Katalog die Herstellung des Bildes beschrieben, wie aus 3000 gleichformatigen Bildern der Himmel geschaffen wird, während aus 780 Bildern, die in der Form variiert werden, die Binnenform des Flugzeugs hergestellt wird. Interessant ist im Katalog von 1984 eine kleine Abbildung, die die Fenster der Kathedrale von York zeigen und mit einem Zitat von Bayrle ergänzt werden: „Ziel meiner Arbeit“.

Und in einem gewissen Sinne knüpfen die anderen auf der documenta 13 gezeigten Arbeiten von Thomas Bayrle an diese Zielbestimmung an. Wer die documenta-Halle unten betritt stößt auf mehrere Motoren, die früher einmal in verschiedenen Kontexten ihren Dienst getan haben und nun von Bayrle auf ihre funktionale Grundform reduziert wurden. Sie arbeiten vor sich hin und wenn man näher an sie herantritt, hört man plötzlich aus ihrem Motorenlärm die Litanei katholischer Mönche aus einer Rosenkranzandacht im Kölner Dom heraus. Der Gleichklang der Litaneien erinnert an das benediktinische bzw. spätmittelalterliche Ora et labora (et lege), Deus adest sine mora / Bete und arbeite (und lies), Gott ist da ohne Verzug. Rosa-Maria Gropp kommentiert dies in der FAZ so: „Da schließen zwei Maschinen aneinander an: Die im Beten zu einer Stimme vereinte Gemeinde, der kollektive Körper der religiösen Maschine ist kurzgeschlossen mit dem Dröhnen der Motoren von Autos und Flugzeugen. Das bewegte Innere der im Längsschnitt geteilten Maschinen vereinigt sich mit dem bewegten Innenleben der Gläubigen, die im gemeinsamen Gebet in eins verschmelzen. Die Maschinen sind in ihrer ausgeweideten Ungeschütztheit jetzt so bloßgelegt wie die Gesänge der Gläubigen.“[3]

02 – Poesie der Gewalt

Einen Raum weiter ertönen ganz andere Klänge. Und ich habe ganz unterschiedliche Erfahrungen mit diesem Raum gemacht. Das erste Mal war ich im Rahmen einer documenta-Führung dort und habe von der Stirnfront des Raumes vor allem auf die fünf im Raum schwebenden Zylinder geschaut. Ich fand das Wahrzunehmende poetisch und in einem gewissen Sinne romantisch, wenn man unter Romantik eben auch die „Hymnen an die Nacht“ des Novalis oder die „Blumen des Bösen“ von Baudelaire[4] versteht. Außerhalb des Raumes wurden wir dann von der so genannten Worldly Companion über den literarischen Hintergrund der Installation von Nalini Malani (*1946) informiert, wie er sich auch im Begleitbuch zur documenta findet: „In Search of Vanished Blood (2012) ist ein neues Video/Schattenspiel mit fünf Zylindern, das die Künstlerin für das rückwärtige Kabinett 4 in der documenta-Halle geschaffen hat. Der Titel zitiert eine Zeile aus dem auf Urdu verfassten Gedicht »Das Schattenbild des Rebellen« des pakistanischen Dichters Faiz Ahmed Faiz (1911-1984). Auf der Grundlage dieses Gedichts und zweier Erzähltexte - Christa Wolfs Kassandra mit den vier Vorlesungen, die die Autorin über die Erzählung hielt, und Rainer Maria Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge - gestaltet diese Arbeit aus mehreren Projektionen einen provokanten Raum, dessen Bilderwelt sich um komplexe Themen wie den Fluch der Sehergabe, die verhängnisvolle Stellung der Witwe in der indischen Gesellschaft und das Scheitern zwischenmenschlicher Verständigung rankt. Für die Klanglandschaft entlehnte Malani ausgewählte Passagen aus Heiner Müllers Hamletmaschine, Samuel Becketts Das letzte Band und aus der Kurzgeschichte »Draupadi« der indischen Sozialaktivistin und Schriftstellerin Mahasweta Devi.“

In der Diskussion mit der Gruppe, mit der ich die documenta besuchte, gab es dann eine Auseinandersetzung darüber, wie der Gesamteindruck des Kunstwerks zu bewerten sei. Als Ausdruck des Schreckens und des Leidens der gequälten Frauen oder eben doch stärker als ästhetische Gestaltung desselben. Das ist eine Frage, die seit Adornos Vermutung, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben, virulent ist. Ich bin dann am Tag nach dieser Diskussion noch einmal in den Raum gegangen und habe mich anders gesetzt und nicht auf die bunten Bilder der Zylinder. sondern auf die Spiegelungen und Projektionen an der Wand geblickt. Und der Eindruck war nun ein ganz anderer. Das ist vielleicht auch die Stärke dieser Arbeit von Nalini Malani, dass sie die Ambivalenz der ästhetischen Bearbeitung des Leidens nicht einseitig auflöst, sondern erfahrbar macht. Die später wiederholte Begehung des Kunstwerks eröffnet immer weitere Perspektiven. Sicher eine der stärksten Arbeiten dieser dOCUMENTA(13).

03 – Die Gegenwart der Vergangenheit

Wie werden künftige Menschen versuchen, unser heutiges (künstlerisches) Leben zu rekonstruieren und zu verstehen? Welchen Blick werfen sie auf uns? Das ist die Frage, die Moon Kyungwon (*1969) und Jeon Joonho (*1969) in ihrem gemeinsamen documenta-Video-Projekt "El fin del mundo" ins Zentrum stellen.

Der Betrachter blick auf zwei Leinwände: rechts ist er in der erzählerischen „Gegenwart“ und schaut auf eine Frau, die in einem aseptisch anmutenden Labor, isolierte Elemente aus der Vergangenheit (eines angrenzenden Raumes) zu rekonstruieren sucht. Es ist ein post-apokalyptisches Szenario, kalt, steril, ohne Leben und Chaos. Auf der linken Seite sieht der Betrachter einen Raum, in dem ein Mann mit verschiedenen Materialien arbeitet (die dann auf der rechten Seite rekonstruiert werden). Wenn man nichts vom Weihnachtsbaumketten weiß, wie rekonstruiert man sie – formal, funktional, intentional?

Szeneübergreifend wirkt ein Hund, der zwar nur auf dem linken Video auftaucht, dennoch aber Resonanzen auf dem rechten Video auslöst. Er scheint mit dem Tod in mythischer Weise verbunden, ohne eine direkte Adaption des Cerberus zu sein.

Diese Arbeit gehört ganz sicher ebenfalls zu den herausragenden Werken der dOCUMENTA(13), auch wenn ich mir über ihre Rezeption durch die Besucher nicht so ganz im klaren bin. Eine Vielzahl von Betrachtern wird die klinische rechte Seite als Ergebnis der Zerstörung und der Apokalypse sehen und für das „wilde Leben“ der linken Seite optieren. Ich könnte mir aber vorstellen, dass gerade jüngere Besucher, die mit der Ästhetik von MTV, insbesondere von Chris Cunningham und den Videos von Björk vertraut sind, die rechte Seite viel faszinierender finden. Die Inszenierung hat auch viel vom Minority Report, nur wäre es dann eine Inversion der Zeitlogik. Wie dem auch sei, die Video-Installation ist eine Herausforderung, fast eine visuelle Kurzgeschichte, deren Lehren sich der Betrachter selbst erarbeiten muss. Dem übergreifenden Thema „Collapse & Recovery“ ist sie aber eng verbunden.

***

Im oberen Bereich der documenta-Halle finden sich vier künstlerische Positionen, die darüber reflektieren, was Malerei heute ist. Auf zwei sei nur kurz eingegangen:

04 – Auslöschung

Yan Lei (*1965) hat 360 Bilder aus dem Internet geladen und jeweils auf Leinwände übertragen. Diese Bildermasse ist nun an den Wänden, unter der Decke und in einem Lagerregal aufgereiht. Man kann sie betrachten, erkennt vieles aus der Bilderflut des Alltags und der Medien wieder. Jeden Tag entfernt der Künstler eines der Bilder und lässt es übermalen und bringt es in die Ausstellung zurück. Am Ende sind dann alle Bilder ausgelöscht bzw. durch monochrome ersetzt. Man ist ein wenig unbefriedigt von dieser Arbeit, zu oberflächlich der Ansatz und weit hinter den Aktionen von Robert Rauschenbergs Auslöschung eines De-Kooning-Bildes oder den Übermalungen von Arnulf Rainer zurückbleibend. Nicht einmal das weiße Rauschen bleibt. Man ist nur verärgert über diese Arbeit.

05 – Auto-Destruktion

Dass die Frage der Negativität in der Kunst und der Ästhetik auch ganz anders angegangen werden kann, zeigen die Arbeiten von Gustav Metzger (*1926). Er ist „ein Vertreter der Aktionskunst. In seinem Werk thematisiert er das Destruktionspotential des 20. Jahrhunderts, speziell übt er Kritik am kapitalistischen System und am Kunstbetrieb. Er gilt als Erfinder der "Auto Creative Art", "Auto Destructive Art", "kinetische Gemälde" und "Historic Photographs".“ 1959 veröffentlicht er sein erstes Manifest der autodestruktiven Kunst und gibt die Malerei auf. Er produziert nun eine Form der sich selbst zersetzenden Kunst, was dazu führt, dass seine Werke nur in Manifesten oder Modellen erhalten sind. Die documenta zeigt nun – soll man das ironisch nennen? – Arbeiten von Metzger aus der vor-autodestruktiven Phase, also aus der Zeit zwischen 1945 bis zum Ende der 50er-Jahre.

Und weiter geht es mit dem Kulturbahnhof.

Anmerkungen

[1]    Bayrle, Thomas; Gallwitz, Klaus (1981): Rasterfahndung. Frankfurt a.M (Edition Suhrkamp, 1069).

[2]    König, Kasper (1984): Von hier aus. [2 Monate neue deutsche Kunst. Köln: DuMont. S. 154-157.

[3]    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/documenta-13/thomas-bayrle-auf-der-documenta-13-die-froemmigkeit-der-maschinen-11773989.html

[4]    Wikipedia: „Die Grundstimmung dieser formal und sprachlich äußerst ausgefeilten, meist eher kurzen Gedichte ist (wie auch oft bei den Romantikern) Desillusion, Pessimismus, Melancholie; die evozierte Realität erscheint dagegen (anders als bei den Romantikern) als überwiegend hässlich und morbide, der Mensch als hin- und hergerissen zwischen den Mächten des Hellen und Guten („l'idéal“) und denen des Dunklen und Bösen, ja Satans („le spleen“)“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/am400.htm
© Andreas Mertin, 2012