„Der Papst ist nur die Spitze des Eisbergs“

Oder: Sisyphus im Papstgewand

Andreas Mertin

Die „Katholische Zeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur“ mit dem Titel „Die Tagespost“ ist eindeutig meine virtuelle Lieblingslektüre. Ihre Kommentare und Artikel sprühen von neuartigen Metaphern, von kühnen Sprachschöpfungen und von intellektuellen Herausforderungen bei der Suche nach dem Sinn hinter den Zeilen. Am Liebsten sind mir die Vatikanisten, die jeden Hauch in den heiligen Hallen als Zeichen deuten und die gefallene Welt über die römische Parallelwelt informieren.

Natürlich musste das jüngste Titelblatt der Satirezeitschrift Titanic die römische Welt erschüttern. Wo der Nachfolger des Petrus nicht mehr als Mensch, sondern als anzubetender Heiliger angesehen wird, da wird auch die satirische Darstellung seiner Person zur Verletzung religiöser Gefühle. In einem Ordo, in dem seit Jahrhunderten jede Abweichung verdächtig ist, ist es natürlich unerträglich, wenn eine Satirezeitschrift eine ironische Misslektüre der Bezeichnung „undichte Stelle“ vorlegt.

Gewiss, besonders originell ist das Titelblatt der Titanic nicht. Es pflegt eine Art Holzhammer-Satire. Da war die Southpark-Folge mit dem Titel Bloody Mary wesentlich subtiler und theologisch treffender – auch wenn sie sich mit der blutenden Maria und dem sie begutachtenden Joseph Ratzinger eine höhere Ebene der metaphysischen Pyramide ausgesucht hatte. Für die Titanic reicht es nur zur plumpen Anspielung unterhalb der Gürtellinie. Das schädigt mehr das Ansehen der Zeitung als das Ansehen des Katholizismus. Wenn dem Gegner keine anderen Witze mehr einfallen als diese, braucht man sich keine Sorgen zu machen. Die Titanic-Redaktion blickte vermutlich sorgenvoll auf die Absatzzahlen, brauchte einen vordergründigen Konflikt ... und wer reagiert da nicht zuverlässiger als die katholische Kirche? So weit, so absehbar. Das alles braucht niemanden zu erschüttern, es gehört zu den Gepflogenheiten seit 500 Jahren, dieses Spiel von Beleidigung, großer Empörung und beiderseitig erzielter Aufmerksamkeit. Da könnte man sich wirklich etwas Besseres einfallen lassen.

Interessant sind nun die verwendeten Argumente im Empörungsritual. Man hat den Eindruck, der Papst werde als gottgleich betrachtet, wenn der Vorgang nun unter dem Aspekt der Blasphemie abgehandelt wird. Wer den Papst beleidigt, beleidigt auch Gott? Da sollte man doch noch einmal nachdenken und etwas mehr Demut pflegen.

[Um das Missverständnis erst gar nicht entstehen zu lassen: Ich halte das Titelbild der Titanic für eine Beleidigung der Person des Papstes, gegen die dieser mit Recht vorgehen kann. Das ist aber ein rein privatrechtliches Problem zwischen der Titanic und Benedikt XVI. und sollte auf dieser Ebene gelöst werden. Das ist hier aber nicht der Kern der Auseinandersetzung.]

Schauen wir uns an, was Markus Reder in der Tagespost schreibt:

Nun ist ein Punkt im Rechtssystem der BRD ja gar nicht strittig und ganz einfach justiziabel: Die Meinungsfreiheit findet ihre Grenze im Schutz der persönlichen Ehre gegen Beleidigung oder Verleumdung. Reders formuliert aber einen tautologischen Satz: Wer die Freiheit missbraucht, pervertiert die Freiheit. Das ist insoweit klar.

Der Streit geht aber vermutlich doch darum, ob die Freiheit hier missbraucht wird. Die Problematik wird im nachfolgenden Satz deutlich, in dem Reder in anrüchiger Sprache von einem „pathologischen Freiheitsverständnis“ spricht. Das wiederum macht mich „krank“. Es mag ein falsches oder überzogenes Freiheitsverständnis sein, aber „pathologisch“? Es tut mir leid, für diese Wortwahl fehlt mir jedes Verständnis.

Und das gilt auch für die sich anschließende Formulierung, die nun direkt aus der Nomenklatur der römischen Kurie entnommen sein mag, aber trotzdem ungeheuerlich bleibt: dass die „Diktatur des Relativismus“ Freiheit, Humanität und Toleranz ‚zersetzt’. Ich kann diese Beleidigungen humanistischen Denkens nicht mehr hören. Nein, relativistische Positionen „zersetzen“ keinesfalls Freiheit, Humanität und Toleranz. Ganz im Gegenteil. Relativistische Positionen stehen für Freiheit, Humanität und Toleranz, weil sie gegen Positionen antreten, die absolutistisch, rigide und intolerant agieren.

Man mag als Katholik eine „Diktatur des Relativismus“ empfinden, weil man für eine absolute Wahrheit eintritt, sollte das aber nicht mit wirklicher Diktatur verwechseln und erst recht nicht so tun, als handele es sich um eine solche. Letztlich ist die Insinuation, mit dem Papst stünde mehr auf dem Spiel, als bloß eine Privatperson, nichts anders als das: eine Zumutung. Da kann man wirklich nur zum Ikonoklasmus aufrufen.

Aber das gibt die Tagespost selber zu, wenn sie abschließend schreibt, was sie sicher nicht meint: Der Papst sei nur die Spitze eines Eisberges. Was für eine bitter-böse Ironie. Aber dazu muss man Metaphern lesen können: „Nur die Spitze des Eisberges sein“ bedeutet, nur ein kleiner, sichtbarer Teil eines gesamten, negativen Ganzen zu sein.

Sprache ist manchmal etwas Wunderbares.


Als wenn die Tagespost das gerade Beschriebene bestätigen und noch eins drauf setzen wollte, erscheint am selben Tag ein Text von Guido Horst zur gleichen Thematik unter dem sprachlich interessanten Titel: „Sisyphus im Papstgewand“. Guido Horst eröffnet seinen Text mit folgenden Worten:

Das ist schon eine mehr als ambivalente Formulierung. Die Medien, so versucht uns der Autor nahe zu legen, versuchen den Papst daran zu hindern, die Kirche erfolgreich zu steuern. Aber das reicht ihm nicht als These, er muss durch eine sprachliche Ungenauigkeit noch etwas Anderes eintragen. Denn die säkularen Medien erweisen sich nicht nur als die Widersacher des Papstes, sondern sind auch noch Symbole des Widersachers, also des Teufels. Die sprachliche Konstruktion (die Medien erweisen sich als einer der Widersacher) ist schon bezeichnend. Es hätte ja gereicht zu schreiben, die Medien erweisen sich als Widersacher des Papstes. „Der Widersacher“ hat aber eine Konnotation, die man sich nicht entgehen lassen wollte.

Anschließend skizziert Horst noch einmal die zahlreichen Skandale der römischen Kirche in der letzten Zeit, um dann nahe zu legen, dass diese nicht an sich Skandale waren, sondern erst durch die Berichterstattung zu solchen wurden. Und das machen die Medien nicht, um aufzuklären, sondern um die Auflage der eigenen Blätter zu steigern. Alle Skandale dienen in den Worten von Guido Horst den

Das ist wieder ein interessantes Sprachbild, wenn es auch wieder etwas verwirrt. Zum einen weiß ich wirklich nicht, wie man das macht, „Honig aus vermeintlichen Sorgen zu saugen“? Das klingt irgendwie nach creatio ex nihilo.

Dann aber will mir auch das zugrunde liegende Sprachbild aus der Biologie nicht einleuchten. Man ahnt irgendwie, worauf der Autor hinaus will, aber das sprachliche Mittel dazu ist doch nicht wirklich geeignet. Wenn ich es recht sehe, dann produzieren einige Pflanzen Honig, um Nektarsauger anzulocken, weil diese so für den Fortbestand der Pflanzen sorgen. Gegenüber dem Zufallsprinzip der Windbestäubung ist das Anlocken von Bienen oder Vögeln mittels Nektar ein evolutionärer Vorteil. Deshalb handelt es sich nicht um parasitäres Verhalten, sondern um eine Art Symbiose.

Wenn ich das gewählte Sprachbild also recht verstehe, dann müsste der Vatikan die Skandale für die Medien bewusst bereitgestellt haben, damit er mit Hilfe der so erzeugten Öffentlichkeit langfristig überleben kann? Oder habe ich da etwas missverstanden? Vermutlich ist es sogar wahrer, als man denkt. Es könnte natürlich sein, dass Horst mit seinem Sprachbild nicht die fleißigen Bienen meint, sondern andere, parasitäre Pflanzensaftsauger wie Läuse oder Wanzen. Dann sollte er das aber auch sagen.

Im Folgenden versucht Horst dann, wie es sich für einen anständigen Vatikanisten gehört, den Papst im besten Licht erscheinen zu lassen. Und er schildert tapfer, wie dieser immer wieder vor neuen Herausforderungen steht und diese bravourös löst. Aber dann kommen wieder neue Schwierigkeiten. Und das scheint nie ein Ende zu nehmen. Und das führt ihn nun zum nächsten Sprachbild:

Erinnern wir uns: Sisyphus ist eine Gestalt der griechischen Mythologie, kein sympathischer Typ, eher ein Betrüger und Lügner, der nicht nur seinen Bruder töten will, sondern auch die Götter hinters Licht zu führen versucht und sich darüber lustig macht. Er gilt als der verschlagenste aller Menschen. Aber letztendlich, so erzählt der Mythos, wird er bestraft: er muss einen ungeheuren Felsblock einen Hügel hinaufschaffen. Und immer, wenn er dieses Ziel erreicht zu haben scheint und er den Fels über die Hügelspitze werfen will, entgleitet ihm der Stein und er muss seine Arbeit von neuem beginnen. Die Arbeit des Sisyphus ist eine Strafarbeit für das, was er den Göttern zugefügt hat.

Was aber hat Benedikt XVI. getan, dass er nun von Guido Horst mit dem Übeltäter Sisyphus verglichen wird und angeblich wie dieser die Fronarbeit der unentwegten und mit Sicherheit scheiternden Kraftanstrengung leisten muss? Welche göttlichen Direktiven hat er ausgehebelt, wo dem göttlichen Auftrag zuwider gehandelt? Nein, für diesen Papst ist Sisyphus kein angemessenes Bild. Es wird Päpste gegeben haben, denen man dieses Schicksal wünschen würde, im vorliegenden Fall macht das keinen Sinn. Und im antiken Mythos gibt es auch keine Bösewichte, die dem Sisyphus irgendwelche Steine in den Weg rollen. So ein Unsinn. Will man es metaphorisch deuten, dann ist es die Schuld, die ihn immer wieder überwältigt und zurückwirft.

Albert Camus hat diesem antiken Mythos dann einen humanistischen Sinn entrungen, der bis heute Gültigkeit hat: auch wenn der Mensch im Spannungsfeld von Sinnwidrigkeit der Welt und Sehnsucht nach Sinn gefesselt sei, mache es keinen Sinn, dem entrinnen zu wollen, sondern man müsse sich dieser Situation stellen. Und Camus schließt seine Überlegung zum Schicksal des Sisyphus mit folgenden Worten:

„Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

Ich vermute aber, auch in diesem humanistisch-atheistischen Sinne will uns Guido Horst den  Papst nicht nahe bringen. Gerade da, wo es spannend würde im Vergleich von Sisyphus und Petrus als dem Fels der Kirche, setzt Guido Horst nicht nach. Denn bei Camus heißt es ja:

„Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.“

Ja, so macht es Sinn. Ohne die Herausforderung des Felsens wäre das Petrus-Amt keines. Aber um das zu begreifen, müsste man über Sprachbilder nachdenken.

Bleibt zum Schluss die Titel gebende Formulierung vom Sisyphus im Papstgewand. Da muss noch eine mir verborgen gebliebene Botschaft drin stecken. Normalerweise würde man ja schreiben: Wie einst Sisyphus versucht Benedikt XVI. den Stein nach oben zu wälzen ...

Was aber ist ein Sisyphus im Papstgewand? Ein Wolf im Schafspelz? Vielleicht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/am407.htm
© Andreas Mertin, 2012