Kunst ist Revolution, Gestaltung des Lebens, Gestaltung der Welt

Barbara Wucherer-Staar

Das von der Heydt-Museum Wuppertal zeigte mit der Jubiläums-Ausstellung „Der Sturm – Zentrum der Avantgarde “ herausragende Meisterwerke der legendären Berliner Avantgarde-Galerie von Herwarth Walden

Dahineilend, ein Kulturkämpfer auf dem Posten“, mit blutiger Nase und Stirn, zerzaustem Haar und zerknittertem Gehrock, so hat ihn Oskar Kokoschka 1910 porträtiert: Herwarth Walden (eigentlich Georg Levin, *1878 Berlin - †1941 bei Saratow), Verleger, Schriftsteller und Musiker, gab in der lebendigen Berliner Kunst-Szene 1910 erstmals eine mehrblättrige „(Wochen)schrift für Kultur und Künste“ heraus. „Der Sturm“ war eine der bedeutendsten Streitschriften für moderne Kunst, Musik und Literatur. Heute sind Kunstwerke der inzwischen klassischen europäischen Avantgarde kaum noch erschwinglich. Damals konnten dort - in der Öffentlichkeit heftig umstrittene - junge Künstler („Horde farbespritzender Brüllaffen“) erstmals selbst ihre Konzepte einem größeren Publikum vorstellen. Wichtig war die Verbindung zu dem rebellischen Wiener Kreis um den Herausgeber der „Fackel“, Karl Kraus, zu Adolf Loos und Oskar Kokoschka.

Zu den literarischen Mitarbeitern zählten u.a. Waldens erste Ehefrau, die aus (Wuppertal-)Elberfeld stammende, in einer der zahlreichen Reformbewegungen engagierte Dichterin und Zeichnerin Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin, Heinrich Mann, Selma Lagerlöf, Oskar Kokoschka. Jede Ausgabe enthielt Grafiken der später in der Sturmgalerie ausgestellten Künstler sowohl auf dem Titelblatt als auch im Innenteil (Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Sonia Delauny-Terk, Karl Schmidt-Rottluff).

Internationales Forum für die Avantgarde in Europa

1912 eröffnete Walden die Sturm-Galerie, bis Ende der 1920er Jahre war sie weit über Berlin hinaus ein wichtiges Zentrum der europäischen Avantgarde. Walden favorisierte die Weltanschauung der Expressionisten, sah in ihr eine wichtige Aufbruchsbewegung: Das „Geistige in der Kunst“ (Kandinsky), hatte Vorrang vor der Natur - eine neu gewonnene Freiheit der Farbe, der Form und des Lichtes - ihre elementaren und emotionalen Wirkungen - sollte, entgegen der Endzeitstimmung des fin de siécle, der Salonkunst und des Spätimpressionismus, eine gesellschaftliche Wiederbelebung bewirken. „Revolution“, so Walden, sei keine Kunst, aber Kunst Revolution“. Allerdings subsumierte er unter „Expressionismus“ unterschiedliche neue Entwicklungen, womit nicht alle Künstler einverstanden waren, etwa Marc Chagall.

Panorama einer Epoche

Jetzt, hundert Jahre später, ermöglicht das von der Heydt-Museum eine exzellente Zeitreise und stellt die etwa 80 Künstler vor, die Walden vertrat: ein einzigartiger „who is who“ der Avantgarde mit über 200 hochkarätigen Leihgaben aus großen Museumssammlungen wie der Berlinischen Galerie, dem Kunstmuseum Bern, dem Centre Georges Pompidou in Paris oder der Sammlung Thyssen-Bornemisza in Madrid, Solomon R. Guggenheim Museum, New York, aus Privatsammlungen und Werken aus der eigenen Sammlung. Lag bisher der Schwerpunkt auf der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, werden hier, so Kuratorin Antje Birthälmer, erstmals auch Tendenzen der 20er Jahre bis zur Schließung der Galerie (1928) und Zeitschrift (1932) näher untersucht. Eigentlich hätte diese Schau in Berlin ausgerichtet werden müsse, es finden sich jedoch auch vielfältigen Beziehungen zum Rheinland. Das „Gesamtwerk Sturm“ - so Museumsleiter Finckh - habe seine Wurzeln eigentlich in Wuppertal.

Zeichen einer neuen Zeit am Vorabend des Ersten Weltkrieges

Die erste Schau präsentierte vor allem Künstler des „Blauen Reiters“, die auch den Schwerpunkt der Retrospektive bilden: eine spektakulär neue, leuchtende Farbigkeit und unterschiedliche, vitale Bild-Raum-Konzepte mit Franz Marcs „ Affenfries“ (1911, Hamburger Kunsthalle) und „Die Blauen Fohlen“ (1913, Kunsthalle Emden), Alexej Jawlenskis „Mädchen mit Pfingstrosen“ (1913, von der Heydt-Museum), mit einer Zirkusszene von August Macke, (1913), mit Gabriele Münter, Campendonk, dem Amerikaner Albert Bloch, „Der Redner“ des rumänischen Malers Arthur Segal. Wassily Kandinsky, für Walden „das Beste, was morgen heute bietet“ ist mit mehreren Werken vertreten - von spätimpressionistischen Spaziergängerinnen im Park („Helle Luft“, 1901, Collection du Centre Pompidou) bis hin zu seinen abstrakten lyrischen Improvisationen („Herbst II“, 1912, The Philipps Collection, Washington, D.C.). Ein eigenes Kabinett zeigt weitere Porträts von Oskar Kokoschka: Else Lasker-Schüler, Waldens zweite Ehefrau Nell Walden oder den Sozialreformer und Arzt Auguste Forel.

„Evviva Futurista“

Die Welt wird schneller und lauter, Raum und Zeit verschieben sich – Walden greift dieses neue Phänomen in der zweiten Schau 1912 auf, in der Sturmzeitschrift wurde Filippo Tommaso Marinettis Futuristisches Manifest über die „Malerei der Zukunft“, die „Schönheit der Schnelligkeit“ publiziert. Alfred Döblin begeisterte sich über diese sensationelle erste Schau der italienischen Futuristen: „Der Maler hat nicht die eine Dimension, die Fläche, die er zu zwei, drei umtauschen muß …, sondern genau so viel, als ihm seine Phantasie gewährt“.[1] Individuell erlebte und objektive Wahrnehmung der Außenwelt werden simultan verschränkt. Es finden sich Werke von Carlo D. Carra und Gino Severini. Umberto Boccionis „Simultanvision“ (um 1912, von der Heydt-Museum) zeigt das Erlebnis der Großstadt mit vielfältigen gleichzeitigen Sinneseindrücken aus der Vogelperspektive. Als Symbol gegen starre Traditionen schiebt Luigi Russolo eine rote Dreieck-Formation in eine blaue Fläche.

Zu Waldens zahlreichen Kontakten zählte Richard Reiche, der im Barmer Kunstverein die im Rheinland bereits lebendige Avantgarde vorstellte. Es gab enge Verbindungen zu Förderern und Sammlern wie August Freiherr von der Heydt und Karl Ernst Osthaus, der in Hagen das Folkwangmuseum für zeitgenössische Kunst gründete.

In Opposition zu Reiches Kölner Sonderbundausstellung 1912 und nach dem Vorbild des Pariser „Salon d´automne“ stellte Walden 1913 im“ Ersten Deutschen Herbstsalon“ aktuelle, internationale Tendenzen der jüngeren Avantgarde vor: 366 Exponate von 90 Künstlern aus Amerika, Deutschland, Holland, Österreich, Frankreich, Italien, Russland und der Schweiz. Darunter in Köln ausjurierte Künstler des „Blauen Reiters“, Lyonel Feininger, Delauny, Carlo Mense, Marc Chagall („Die fliegende Kutsche“, 1913, Solomon R. Guggenheim Museum, New York), Pariser Kubisten wie Jean Metzinger („Fußballspieler“) und Albert Gleizes sowie die Prager Kubisten, beispielsweise Otakar Kubin. Eine Hommage an Henri Rousseau zeigt poetisch-ironische Traumlandschaften wie „Die fröhlichen Spaßmacher“ (1906, Philadelphia Museum of Modern Art) - Tiere die stoisch aus einem Dschungel in unendlich vielen, akkurat aufgefächerten Grüntönen blicken. Bis in die Gegenwart wirkt Kandinskys Verdikt, dieser Vertreter einer „neuen großen Realistik“ sei ein Gegenpol zu seiner eigenen „großen Abstraktion“, beide Wege würden zum „inneren Klang“ führen.

Orphismus

Robert Delauny war neben Kandinsky und Chagall einer der einflussreichsten Maler. Paul Klee übersetzte sein Theorem des Orphismus „Über das Licht“ („La Lumière“) für die Sturmzeitschrift - Licht selbst ist rhythmische Teilung und Zusammenklang von Farben; sie zeigt sich am reinsten in seinen spektralanalytischen, kosmischen Kreisformen. In prismatischen Fensterbildern wie „Die drei Fenster, der Turm und das Rad“ (1912, Museum of Modern Art, New York) liegen hinter jedem Bild-Fenster unterschiedliche Bildräume und Wirklichkeiten, die sich wechselweise spiegeln, mit gegenständlichen Assoziationen.

Künstlerinnen

Wie auch noch lange Zeit danach war Waldens Förderung von Künstlerinnen ungewöhnlich. Meist stellten sie mit ihren Partnern oder unter Männernamen aus: Sonia Delauny-Terk, Gabriele Münter oder Natalija Gontscharowa, wenig bekannte wie Jacoba van Heemskerck, Emmy Klinker. Neu zu entdecken sind faszinierende Bleistiftzeichnungen von Köpfen der Belgierin Marthe Donas (alias Tour Donasky) mit eigener kubistischer Prägung.

Tendenzen der 1920er Jahre

Traten expressionistische Werke zurück, entwickelten sich in der Weimarer Republik neue Tendenzen mit Werken von Kurt Schwitters, Oskar Schlemmer, Carl Buchheister, Willi Baumeister und Künstlern, die in den 1920er Jahren aus mittel- und osteuropäischen Ländern übersiedelt waren: Prager Kubisten, belgische und ungarische Konstruktivisten, beispielsweise Moholy-Nagy. Viele hier entwickelte Ansätze „mit Kunst das alltägliche Leben zu gestalten“ wurden im „Bauhaus“ weitergeführt.

Moskau

Die Sturm-Zeitschrift, in der sich die lebendige Entwicklung der Avantgarde von “Blauem Reiter“ über Klee, Segal, Sonia Delauny bis zu den Konstruktivisten findet, ging 1932 bankrott. 1933 übersiedelte Walden nach Moskau. Er fiel dort einer stalinistischen Säuberungsaktion zum Opfer und starb im Straflager Saratow. Seine a-politische, idealistische Vorstellung einer zukünftigen (kommunistischen) Gesellschaft von Kunst und Politik an den totalitären politischen Systemen in Ost und West scheiterte. Bis heute gilt er als der "gewaltigste Propagandist der modernen Kunst in Deutschland", er war - so Museumsleiter Gerhard Finckh, so etwas wie der Kahnweiler Deutschlands. Ohne Walden wäre mancher bedeutende Künstler heute unbekannt.

Spiegelt die Sturm-Zeitschrift die internationale künstlerische Entwicklung aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik bis 1932, verleihen alleine mehrere Werke von Kandinsky, Macke, Marc, Delauny oder Marthe Donas der Schau einen Rang, der weit über eine reine Dokumentation dieser Zeit hinausgeht.

Der Sturm, Zentrum der Avantgarde, Katalog und Forschungsband, 40,00 EUR, von der Heydt-Museum, Wuppertal, bis 10. Juni 2012

www.von-der-heydt-museum.de /
Abbildungen finden sich unter: http://www.der-sturm-ausstellung.de/

Anmerkung

[1]    Auch Kunsthistoriker wurden von dieser Futuristen-Ausstellung nachhaltig angeregt, Erwin Panofsky entdeckte darin die Zeichen einer neuen Zeit. (Gerda Panofsky, „Futurismus“- Ausstellung 1912. Eine Schau, die die Kunstgeschichte veränderte, in: FAZ.Net, 24.05.2012 und F.A.Z. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.05.2012)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/bwd6.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2012