Die Letzten werden die ersten sein

Jesuanische Paradoxien in Felicitas Hoppes Roman “Hoppe”

Hans-Jürgen Benedict

Felicitas Hoppe: Hoppe. Roman

In ihrem neuem Roman „Hoppe“ erfindet Felicitas Hoppe, in geistreicher, mit Anspielungen gespickter Weise sich eine neue Biographie, nicht weil sie ihre eigene schlecht findet, sondern weil das Leben so reich und vielfältig ist, dass man nicht nur eines haben kann. Und wenn man kein Hochstapler ist, aber schreiben kann, klug ist und Phantasie hat, erfindet man sich mehrere Leben und ein höchst buntes Personal aus Lieblingsgestalten dazu. So erfindet sich „Felicitas Hoppe, *22.Dezember 1960 in Hameln, ist eine deutsche Schriftstellerin“ (wikipedia), einen Erfinder als Vater, der ihre Mutter, eine katholische Klavierlehrerin aus Breslau, früh verlässt, von der sie aber noch schnell Polnisch lernt (die einzige Sprache, in der sie beichten kann). Sie erfindet sich eine Kindheit mit ihrem Erfinder-Entführer-Vater in Brantford/Kanada, der in seiner Werkstatt tüftelt und mit dem sie sich über Kurzmitteilungen verständigt. Zum Ausgleich wird sie ständiger Gast in der kinderreichen Nachbar-Familie des später berühmten Eishockeyspielers Wayne Gretzky, ihres Wahlbruders, in den sie sich verliebt, aber er trainiert ständig auf dem vereisten Rasen hinter dem Haus und sammelt Pokale. Hier lernt sie auf ihre Art Eishockey zu spielen (immer über das Spielfeld hinaus) ,beginnt mit dem Klavierunterricht bei einer Lehrerin, die beim Abschiedskonzert von Glenn Gould war (der auch durch den Roman geistert), hier fängt sie an Briefe zu schreiben an ihre vier angeblichen Geschwister in Hameln. Ein Loblied singt sie auf ihre Wahl-Stiefmutter Phyllis, die Hoppes Erzählungen vom Rattenfänger in Hameln ganz ernst nimmt und von der sie das Rauchen lernt. Schon die kleine Hoppe, die kein fehlerfreies Deutsch spricht, ist hochbegabt, vor der Schrift erlernt sie die Notenschrift, sie hat das absolute Gehör, hört die auf A gestimmte Welt. Schon als Kind verfasst sie phantastische Erzählungen (Der Zauberberg, Satan in der Hölle!), erfindet für sich eine Kindheit mit vier Geschwistern in der deutschen Kleinstadt Hameln - denn seit sie die Geschichte vom Rattenfänger las, träumt sie sich in diese Geschichte hinein, tritt in Rattenkostümen auf und sieht sich vor dem berühmten Hamelner Hochzeitshaus stehen. An die Geschwister schreibt sie Briefe, aus denen ihre späteren Erzählungen entstehen, vor allem die in Picknick der Friseure, Briefe, die sich im Marbacher Literaturarchiv befinden. Denn inzwischen ist sie auch Mitglied der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung geworden (und welch schöne Koinzidenz, kurz nach Veröffentlichung dieses Romans erhält Felicitas Hoppe den Büchnerpreis eben dieser Akademie, die höchste deutsche Literaturauszeichnung. Und es wundert einen fast, dass sie diese „Krönung“ nicht auch bereits in den Roman hinein fantasiert hat. Denn um die Frage „Wie krönt man richtig“ geht es in diesem Roman wie in ihrem Johanna-Roman ja immer wieder.)

Sie erfindet sich eine Schiffsreise auf der MS Queen Adelheid von Canada nach Australien, auf der sie mit der Mannschaft Hockeyspiele einübt. In Australien geht kurz vor weihnachten sie mit einem brennenden Adventskranz auf dem Kopf an Land (Wichren lässt grüßen), hier beginnt sie eine Liebesromanze mit einem blinden Jüngling Joey Blyton, den sie bei der Bewältigung des Blind Cricket unterstützt (klingende Bälle) und bei dessen Vater sie Klavierunterricht nimmt. Sie wohnt in der Pension Grant‘s Children, die von einer Ms Ayrton, bekannt als schöne Helena, geleitet wird, bei der sie Briefmarken mit dem Schiffsmotiv kauft (für die Karten an ihre deutschen Geschwister), sie interessiert sich für den verschollenen deutschen Abenteurer Ludwig Leichhardt und das Buch Schicksal im australischen Busch und beginnt ein Dirigierstudium in Adelaide. Und zwischendrin werden wir aufgeklärt, wie Adelheid und Adelaide zusammenhingen, nämlich über eine deutsche Prinzessin Adelheid von Sachsen-Meinigen, die 1818 die Frau des britischen Königs Wilhelm Heinrich wurde und die der Hauptstadt Adelaide ihren Namen gab. Die Romanze scheitert, die nächste mit ihrem Dirigierkollegen Viktor Seppelt steuert auf die Hochzeit zu, alles ist vorbereitet, Trauzeugen, Torte, Musik ,die Hochzeitsliste reicht von Bernstein bis Michael Tippett (220). Sie schreibt Opernlibrettos (darunter The merry Vineyard!, eine Winzeroper). Dann kommt es zu einem Aufenthalt in New York, besonders im Red Crab Inn, das es gar nicht gibt, wo sie eine Schachpartie gegen einen gewissen Cater spielt, zu einem Aufenthalt in Chittenango,der Stadt Frank Baums, des Autors von Der Zauberer von Oz. Immer sind ihre liebsten Fantasiegestalten dabei, vor allem Cater und Fox aus Pinocchio. Schließlich eine Reise nach Las Vegas, „der schönsten und prächtigsten Stadt der Welt“, die wie das himmlische Jerusalem erscheint, aber nur, wenn man Geld hat wie in Brechts Mahagonny. Deswegen ist sie eher Catchafool, Dummenstadt, und wo es zu einer Hochzeit in der Little White Chapel kommt, aber wer ist der Bräutigam. Und schließlich eine Tätigkeit als Deutsch-Dozentin (sie brachte sich ihre Lektionen zunächst selber bei) in Eugene/Oregon als Freundin des Gelehrten Hans Hermann Haman (HHH), dessen Hauptwerk Holzfäller (Woodcutter) lautet.

In ihren zauberischen Parallelwelten, wo sie „keine Schakale und Araber“ findet, tauchen dennoch viele eigentümliche Gefährten auf, die zum Schluss auf S. 329 alle noch einmal genannt und nach Farben, Tonarten, Ziffern und Buchstaben katalogisiert werden. Zu den Geschichten erfindet sich Hoppe eine Autorin, die gelegentlich Kommentare unter dem Kürzel fh abgibt, selbst kritisch von Hoppes „Tröstungsliturgie und Selbstrettungsprosa“ spricht“ (125), dazu zitiert sie (erfundene) Literaturkritiker wie Strat und Rost ,die kundig-kritisch Hoppes Schreiben kommentieren: „Das Unterwegssein in Hoppes Privatkosmos mag unterhaltsam sein, auf Dauer hinterlässt es aber, im günstigsten Fall, nicht mehr als Ratlosigkeit.“ (103) Strat zu Picknick der Friseure: „Hochbegabte Museumsprosa, die über eine relecture der eigenen Kindheitsgeschichte leider selten hinauskommt.“ Jedenfalls bin ich froh, ganz zum Schluss die beschriebene Hoppe doch als die Felictas Hoppe zu identifizieren, die ich kenne, die mit Picknick der Friseure debütierte, als drittes von fünf Kindern in Hameln geboren wurde, angeblich eine Weltreise unternahm und jetzt in Berlin lebt.

Das ganze Projekt ist so anspruchsvoll wie unerhört. Meines Wissens hat keine Schriftstellerin zuvor für einen Roman kurz und bündig den eigenen Familiennamen benutzt. Wenn mit verschiedenen Identitäten gespielt wurde, hieß es immerhin programmatisch: Mein Name sei Gantenbein. Aber es gelingt, weil keine narzisstische Selbstbespiegelung betrieben wird, sondern ein zutiefst menschliches Spiel mit den Möglichkeiten, dass alles auch anders sein könnte. „Denn auf welchen Namen wir wirklich getauft sind, wer kann das schon wissen.“ (256) Weil ihr das Leben so gefällt, erfindet sich Hoppe eine zauberische Parallelwelt mit wundersamen Gestalten und Erlebnissen. „Denn zwei Schritte hinter der wirklichen Welt tut sich ein unermesslicher Raum auf.“ (217)

Den Inhalt dieses Romans, wie ich ihn versucht habe zu erzählen, wird ein anderer Leser sicher anders wiedergeben. Ich fand ihn ebenso anspruchsvoll wie liebenswert verrückt, habe ihn mit wachsender Freude gelesen und mich an den Verweisen und Selbstbespiegelungen der Autorin vergnügt. Die heitere Stimmung, in die ich geriet, war ungefähr so wie bei der Lektüre von, und jetzt folgt eine hochangesetzte Ahnenreihe, Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal oder bei Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F.St.Siebenkäs, bei E.T.A Hoffmanns Kater Murr, Hebels Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds , Gottfried Kellers Zürcher Novellen und Sieben Legenden, Kafkas Besuch eines Landarztes, Robert Walsers Spaziergang und ähnlichen Kostbarkeiten der deutschen Literatur mehr. Heiterkeit vermischt mit ein wenig Melancholie. Bei mir blieb Staunen über die vielen Einfälle und die wunderbar leichte Sprache, die vielen wie nebenher formulierten zitierfähigen Einsichten, die gleich in den Büchmann wandern könnten. Sicher übertreibt sie zuweilen das Vexier- und Allusionsspiel. Man könnte einwenden, es fehle die Tragik, die das Leben trotz seines Spielcharakters doch auch hat. (Alles, auch das Heiligste und Höchste, wird ihr zum Spiel, wendet die Mutter von Quentin ein). Kaum Sterbefälle und alles mit einigermaßen glücklichem oder offenem Ausgang. Verliebt ins Gelingen, oder um Martin Walser zu zitieren: Literatur sagt etwas so schön, wie es (noch) nicht ist. Das tut auch Religion, und ein wenig hat Hoppes Schreiben mit ihrer positiven Haltung zum Glauben zu tun. Sie schreibt „ex positivo“ zur Religion, und deswegen rutscht ihr unwillkürlich, mit traumwandlerischer Sicherheit die schöne Verheißung des Glaubens ins Erzählen, nicht aufdringlich, eher versteckt, aber immer da.

Es finden sich in Hoppes Traumbiographie immer wieder solche Stellen, die mich an die Struktur jesuanischer Spruch- und Gleichnis-Rede erinnern, an jene paradoxalen Umkehrungen des Gewöhnlichen und Üblichen. Das ist zum ersten ihr Eishockeyspiel. Wunderbar die Passagen über die kleine Eishockeyspielerin, die immer übers Spielfeld hinausdenkt und mit der zu verlieren schöner als Siegen ist, die Eishockey-Version von Jesu Satz: „Die Letzten werden die Ersten sein.“

So moniert ihr späterer Trainer Bamie ihre „lästige Neigung, andauernd über das Spielfeld hinauszudenken.“ Wer so handelt, aus dem wird allenfalls „ein guter Verlierer“. Sie sei „ein Talent, das sich ständig selbst zurückpfeift“… „So viel Begabung und so wenig aufs Tor. Wild entschlossen und niemals auf Sieg.“ Genauer: „Wenn sie gewann, war sie wirklich unschlagbar. Und wenn sie nicht gewann, war sie es auch.“ Ihr Trainer weiter. “Wir verloren ja damals andauernd, aber wenn Felicitas neben mir saß, und damals war sie nicht älter als zehn, hatte ich trotzdem das Gefühl, wir hätten jetzt irgendwas gewonnen.“ (31f) Verlierer als Gewinner, Letzte als Erste – diese jesuanische Umkehrung kennzeichnet das Sportsverhalten von Fly alias Felicitas. Waynes Schwester Kim erinnert sich: „Sie machte ja buchstäblich alles um andauernd zu fallen. Natürlich reines Theater. Sie war einfach ins Fallen verliebt, weil sie so scharf aufs Aufstehen war … Die reinste Hinterhofoper“ (38) Das Aufstehen, ja der Aufstand der Verlierer ist ein Kennzeichen der Jesusbewegung und des frühen Christentums, hier verschoben auf die sportliche Ebene. Jesus ist der Verlierer, der am Ostermorgen auf(er)steht. (Paulus klinkte sich da aus, wenn er das Athletenbeispiel für den christlichen Kampf im 1.Korintherbrief 9 V.24ff benutzt - „nur einer erringt den Siegeskranz.“ Aber er ist doch mit seinem Lobpreis des Kreuzes als Ärgernis und der Erwählung der Schwachen in 1 Korinther 2 wieder auf dieser Linie) Noch mal ihr Trainer: „ihre größte sportliche Leistung bestand darin, der unverletzbarste Verlierer zu sein.“ (39) Hier trägt sich durch ein Merkmal der christlichen Märtyrer, trotz aller ihnen zugefügten Leiden und Martern. Die heilige Katharina wird erst gerädert, als sie noch nicht tot ist, lässt der Statthalter sie enthaupten, ähnlich der von Pfeilen durchbohrte heilige Sebastian, der auch noch extra getötet werden muss. Sie bleiben sie im Kern unverletzt. Sieg ist kein Name Gottes, hat Dorothee Sölle mal gesagt. Diese Seligpreisung der Schwachen und der Verlierer hat bekanntlich Nietzsche außerordentlich geärgert – er sah darin den Sklavenaufstand der Moral, den Herdentrieb der Schwachen, die decadence, die die Antike der starken und großen Geister besiegte. So legt Hoppe in der Rattenfänger-Märchen besonderen Wert auf das blinde und lahme Kind, „die zurückbleiben mussten, weil sie nicht schnell genug waren und die bis heute vor dem Hamelner Hochzeitshaus auf ihre Chance warten. Denn jeder hat ein Recht auf die Reise, als welche sie den Zug des Rattenfängers deutet.

Sie vertraut auch darauf, dass einer, der verschollen ist, gefunden wird, wenn man nur lange genug sucht und fragt. Erst fällt den Leuten gar nichts ein, nein kennen wir nicht, aber dann sagen sie, ja doch, der war doch hier gewesen. So ist keiner endgültig verschollen und verloren. Man muss nur nach ihnen fragen, immer wieder, fragen heißt suchen, keinen aufgeben. Und die Geschichte vom verlorenen Sohn lässt grüßen, die schönste Geschichte über eine Heimkehr von der Reise (wie Hoppe in ihrer Hamburger Poetik-Vorlesung sagte).

Was Hoppe umtreibt, ist die Suche nach dem runden Tisch „ein Familientisch (muss) rund sein, damit es weder Vorzug noch Nachteil gibt“ (147), das wusste Ms Ayrton. Wie Frau Comzemius in Paradiese, Übersee, bei ihr, der „großen Wirtin“, herrscht „eine Zuneigung, die nicht an Blutsverwandtschaft gebunden ist, hier darf jeder zu Haus sein, ohne Tadel und Furcht, unabhängig davon, woher er kommt, was er ist, wohin er geht“. Jesu afamiliäres Ethos, das eine neue Gemeinschaft gründet (wer sind meine Mutter und meine Brüder Mk 3,33f) schimmert durch und die Erzählung vom großen Abendmahl (Lk 14), zu dem auch die von den Hecken und Zäunen eingeladen werden.

Im Hintergrund steht natürlich auch das Krippenspiel und wohl auch die Sternsinger. Sagt doch die Erzählerin über sich: „ einen Hirten wie mich bekommt sie (Lucy) nie wieder, niemand wird jemals einen besseren Hirten geben als ich, den besten Hirten von allen, der weiß, was die Stunde geschlagen hat, weil er die Sterne genau liest und weiß,wie man das feierlich verkündet nicht mit Orgeln etc sondern mit einer Schiffstrompete, unter deren Klang sich das Stampfen der Füße von Matrosen in das Stampfen von Elefanten verwandelt...bis ich, der Hirte im Trikot 99, dem wilden Treiben Einhalt gebietet, indem ich meine Stimme erhebe und für alle gut hörbar von der Arena bis in die höchsten Ränge rufe, dass die Könige kommen.“ (124f) Diese weihnachtliche Vision, Krippenspiel und Spiel auf dem Eis, der Trainer als „unbewegter Beweger“, so hübsch kann Hoppe Aristoteles zitieren, erinnert an Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak, wenn der Junge als König auf einmal Halt ruft. Wird aber gleich wieder in Frage gestellt, weil in Australien längst Sommer ist. Das Königsmotiv, kindlicher Märchenglauben, pubertäres Sehnsuchtspanorama, immer verbunden mit der Frage: wie krönt man richtig, hat auch wieder einen jesuanischen Subtext, weil Jesus seinen Jüngern sagt, dass sie eigentlich die Könige im Reich Gottes sind (Mt 5).

Die Kritik an Gott ist behutsam verpackt und wird erzählt im Zusammenhang der Familiengeschichte ihres Vaters, der der Sohn schlesischer Schneidermeister war (und ihr, der Schülerin peinlich genug, Anziehsachen selbst schneiderte). Ihr Großvater konnte die Qualität eines Stoffes allein durch Sehen bestimmen. „Unter dem Blick meines Großvaters fielen Knöpfe von selbst ab, dürftige Nähte platzten auf, ohne auch nur angefasst zu werden…seien Meisterschaft war faszinierend und schrecklich zugleich.“ (244) Aber er war nicht nur eine großer Entlarver, sondern auch ein „großer Verhüller“, geleitet von der Frage: Wie kleidet man ein? „Wie korrrigiert man die kleinen Missgriffe Gottes? Wie verbirgt man Buckel und runde Rücken, schiefe Schultern, dicke Bäuche und krumme Beine.“ Der Großvater war ein „gnädiger Künstler, der verbesserte, was sich verbessern ließ.“ Das tut auch die Autorin mit ihrem Schreibhandwerk. „Wenn man weiß, wie die Dinge beschaffen sind, hat man plötzlich Lust sie neu einzukleiden, die Missgriffe Gottes zu korrigieren und schreibend ein bisschen den Schöpfer zu spielen.“ (245) Der Künstler als Schöpfer, Heine hat bereits davon gesprochen, wie er als Poet Gott nachahmt, wobei er allerdings den Aspekt betonte, dass er schaffend genesen will. Und mir fällt der jüdische Witz ein von dem Kunden, der sich beim Schneider beschwert, dass er solange für die Anfertigung der Hose gebraucht habe, wo Gott doch die Welt in nur 7 Tagen erschaffen. Ja, sagt der Schneider, schaut euch an die Welt und dann, zärtlich über den Stoff streichend, schaut euch an diese Hose. Schreibend die Mißgriffe Gottes korrigieren, etwas zurechtrücken, etwas im messianischen Licht aufscheinen lassen. Das kann Hoppe – eine Meisterin der Selbsttäuschung und Selbstkrönung, die aber ganz uneitel darum weiß, sich selbst auf die Schippe nimmt und kritisiert.

Ihre kirchlich-katholische Position wird sehr schön beschrieben am Beispiel ihrer Firmung, betrieben von der Mutter, die konventionell den Gang zum Tisch des Herrn und vorher zur Beichte erklärt und anmahnt. Selten ist so kindlich-naiv und erwachsen klug die Beichte beschrieben worden. Sage ihm einfach, was du abends so denkst vor dem Einschlafen, rät die Mutter. „Niemand kann meinen Eltern so fehlen wie ich“, das sagte ich zu jenem Mann hinter dem Gitter der engen Kabine in Breslau, der vielleicht gar nicht da war, „kein Mann jedenfalls, vielleicht nur ein Ohr, das riesige aufgespannte Ohr Gottes, das ganz auf A gestimmt war und plötzlich zu sprechen begann und mir den folgenden klaren Auftrag erteilte: Drei Vaterunser und Grüßmirmaria.“ (293) Das Kind lernt in der Kirche auch, „dass es Pläne gibt, die für niemanden einsehbar sind“ (ebd) Für die kleine Fly (so ihr Spitzname in Canada) ist es die Trennung ihrer Eltern, aber die Last „sorgt dafür, dass ich fest auf der Erde stehe, mit beiden Beinen .“ (ebd) Welch schöne Einsicht, statt der üblichen sofortigen Anklage an den ungerechten Herrn der Welten. Gott ist so ungerecht wie das Leben, und das kann man an der Religion lernen. Und dann auch das Fluchen auf diesen Herrn, ein Satz aus dem Roman Johanna, den Hoppe hier ausdrücklich noch mal zitiert: „Nur ein gläubiges Herz versteht sich aufs Fluchen, nur wer glaubt, dass Gott hört, kann ihn bündig verleugnen.“ (105) (Dies Argument war übrigens der Grund dafür, weswegen Janus Korczak meinte, man müsse Kindern von Gott erzählen).Und da gehört das schöne Apercu dazu, dass der Fluch als „lautstarker Ausdruck der Verzweiflung über die Unmöglichkeit sich zur Sprache zu bringen“ nichts anderes ist als „eine gesteigerte Form des Verstummens“, „eine Art säkulares Stoßgebet.“ (ebd) Bei der Erstkommunion trägt sie auf Veranlassung ihres Vaters einen praktischen Kleiderrock und kein weißes Kleid, denn: „Der Herr braucht keine Bräute, sagte er, er bewirtet jeden, egal, was er trägt“ (294), eine versteckte Kritik an dem Gleichnis vom hochzeitlichen Gewand (Mt 22).

Ihr Lehrer Quentin vermutet über Hoppe: „Womöglich ist das ihr geheimer Wunsch: zu verschwinden, damit man sie suchen muss, Präsenz durch Abwesenheit.“ (184) Auch dies ist eine jesuanische Figur aus dem Johannes-Evangelium: „Ich muss euch verlassen, damit der Tröster kommen kann.“ Ich breche an dieser Stelle ab, damit es nicht eine vorweg genommene Laudatio auf die Büchner-Preisträgerin wird. Und weil ich befürchte, dass sich Felicitas Hoppe, fh, Fly, Hoppe oder wer immer durch meine Auslassungen allzu sehr christlich vereinnahmt sehen könnte.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/hjb10.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2012