Kirchen-Transformationen

Eine interessierte Lektüre

Andreas Mertin

Körs, Anna (2012): Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen. Eine raumsoziologische Studie zur Besucherperspektive. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 453 S. 49,95 € (ISBN 978-3531177366)

Die hier vorgelegte raum-soziologische Dissertation zur gesellschaftlichen Bedeutung von Kirchenräumen aus der Besucherperspektive ist als eine außerordentliche Bereicherung der Diskussion um die Nutzung von Kirchengebäuden anzusehen. Bisher mangelt es ja an Untersuchungen, die empirisch überprüfen, was die Nutzer / Besucher von kirchlichen Räumen erwarten, was sie wahrnehmen und wie sich das, was der Betreiber des kirchlichen Raumes zur Raumnutzung vorstellt, zu dem verhält, was tatsächlich in der Nutzerperspektive Bedeutung hat. Entwickelt hat sich die Dissertation aus einem Forschungsprojekt der Hamburger Universität zum Thema Symbolkirchen im Ostseeraum. Dadurch wird dann auch die konkrete Objektwahl der gotischen Backsteinkirchen an der Ostseeküste plausibel.

Das Buch gliedert sich neben der Einleitung und dem Fazit in drei zentrale Kapitel. Das erste davon gibt den Forschungsstand und den soziologischen Theorierahmen wieder (25-96). Das zweite beschreibt das empirische Forschungsdesign (97-132) und das dritte skizziert die Ergebnisse der empirischen Untersuchung (133-410). Im Anhang findet sich dann noch u.a. der verwendete Fragebogen zur Kirchenbesucherbefragung.

Ausgangspunkt der Arbeit ist die Beobachtung, „dass Kirchengebäude offenbar mehr sind als zweckgebundene Orte für bestimmte religiös eingestellte Gruppierungen, deren Bedeutung sich nicht in ihrer unmittelbaren Nutzung und Funktion erschöpft.“ (21) Die Vermutung ist, „dass die eigentliche Kraft der Kirchengebäude etwas anderes ausmacht: das Symbolische, hier vorläufig allgemein verstanden als etwas, das Bedeutungen im Prozess des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens von einzelnen Personen als auch von Gruppen von Menschen hervorruft.“ (22)

Im ersten grundlegenden Kapitel zum Forschungsstand werden die verschiedenen Herangehensweisen der jeweiligen Forschungsbereiche an das Thema skizziert. Vorgestellt werden die „kunst- und architekturgeschichtlichen Perspektiven“, „theologische Perspektiven“, „kirchlich-handlungsorientierte Reflexionen“ sowie der „soziologische Theorierahmen“. Der Leser bekommt so einen komprimierten Überblick über die jüngere Diskussion zum Thema in den verschiedenen Disziplinen. Ausgelassen hat Körs die radikalen Infragestellungen des Kirchenbaus aus den 60-Jahren, etwa Ernst Langes Modell der Ladenkirche in Berlin, Hans-Eckehard Bahrs Reflexionen über Kirchen in nachsakraler Zeit[1] oder Karl Ledergerbers Abschied vom Sakralen.[2] Zumindest Langes und Bahrs Überlegungen sind stark von der seinerzeitigen amerikanischen Diskussion beeinflusst und wären hier sehr interessant, weil sie noch einmal verschärft die Frage nach den Subjekten, die den Kirchenraum nutzen, stellen. Zudem wird die ganze spätere Diskussion um die Wiedergewinnung des „Heiligen“ erst verständlich, wenn man die Radikalität der alten Positionen in den Blick nimmt.  

Etwas gewagt finde ich die Unterstellung, die von Körs vorgestellten theologischen Modelle verzichteten darauf, das Äußere des Kirchenraumes in die theologische Theoriebildung mit einzubeziehen. Diese Einschätzung mag in der von ihr herangezogenen Literatur begründet liegen, trifft aber m.E. nicht auf alle geschilderten Theorieansätze zu, von denen viele auch unter dem Stichwort „Die Kirche in der Stadt“ geforscht und publiziert haben.[3]

Und noch eine kurze Anmerkung: in der Genealogie der Verwendung der Foucaultschen Heterotopie-These fehlt die früheste Quelle einer theologischen Thematisierung, nämlich Wolf-Eckart Failings 1998 publizierten, aber bereits 1996 auf der einschlägigen Tagung in Arnoldshain „.. räumlich glaubet der Mensch“ vorgetragenen Überlegungen zur Raumfrage: „Die eingeräumte Welt und die Transzendenzen Gottes“[4]

Als Schlussfolgerung für die eigene empirische Erkundung schreibt Körs: „Das Kirchengebäude wird nicht als fixes und starres Gebilde vorbestimmt, sondern als soziale Konstruktion verstanden. Vor diesem Hintergrund ist weniger zu fragen, was der Kirchenraum ist, sondern vielmehr, wie dieser entsteht.“ (92) In diesem Sinne zielt ihre Forschung darauf ab, „empirisch begründete Aussagen über die Bedeutungen von Kirchengebäuden zu treffen“. Dabei „soll empirisch untersucht werden, welche Bedeutungen Kirchengebäuden zugeschrieben werden und wie diese Bedeutungen konstruiert werden.“ (97) Indikatoren dafür ist einmal die Kirche als Objekt, dann die kirchliche Perspektive und schließlich die Besucherperspektive.

Für das Projekt ausgewählt wurden - auch mit Blick auf ihre Vergleichbarkeit - vier Kirchen. Alle vier sind protestantisch genutzte gotische Backsteinkirchen:

o     St. Nikolai Kiel

o     St. Marien Lübeck

o     St. Nikolai Wismar

o     St. Nikolai Stralsund

Im Rahmen der Durchführung der Studie und der Ergebnispräsentation beschreibt Körs zunächst die vier Objekte nach den objektiven Faktoren, das heißt nach Außenbau, Innenraum, Ausstattung, Umfeld, dann in der Nutzungsanalyse nach Organisation, Konzept, Angeboten, erwarteten Veränderungen und Besucherschaft und schließlich in der Umfeldanalyse nach den Vernetzungen, der Öffentlichkeitsarbeit, der Konfessionsbindung der Stadt und des Landes und schließlich nach dem Tourismus.

In einem zweiten Schritt befragt sie so genannte „Experten“, das heißt in der Regel den Hauptpastor sowie zwei mit der Kirche professionell befasste Personen im Rahmen einer qualitativen Befragung. Sie fragt nach Bedeutungsinhalten (Aspekte des Kirchengebäudes, religiöse Aspekte, Aspekte kirchlichen Handelns, Städtische Aspekte) und nach der Bedeutungskonstruktion (Faktoren des Kirchengebäudes, Konzeptionelle Faktoren, Individuumsbezogene Faktoren, Gesellschaftliche Faktoren). Ich empfehle den Lesern, diese Befragungen einmal synoptisch zu lesen, also zu fragen, was sagen eigentlich die „Experten“ aus Kiel, Lübeck, Wismar und Stralsund zum Beispiel zu den religiösen Aspekten ihrer Kirche. Gibt es da Gemeinsamkeiten, vielleicht so etwas wie einen unhintergehbaren Grund auf den sich alle beziehen? An dierser Stelle ist die Arbeit sehr produktiv und erkenntnisreich, denn es zeigt sich, dass es keine gemeinsame zugrunde liegende Theologie gibt. Für die einen sind die Backsteinkirchen Zeichen der Erhabenheit Gottes, für die anderen Ausdruck der Tiefendimension des Lebens. Offenkundig reagieren die befragten Experten bereits auf die vorherrschende Lesart der Besuchergruppen ihrer Kirche, die je nach gesellschaftlichem und regionalem Kontext andere Aspekte an ihren Kirchen hervorheben.

Dazu noch eine weitere kurze Anmerkung: Interessant ist, dass und wie Körs zwischen „religiösen Aspekten“ und „Aspekten kirchlichen Handelns“ differenziert. Problematisch ist das in meiner Perspektive insofern, als der Art und Weise dieser Differenzierung notwendig ein bestimmtes theologisches Modell zugrunde liegt. Wie Körs selbst in ihrem ersten Kapitel zu den theologischen Theorien schreibt, sehen einige Theologen als zentralen religiösen Aspekt vorrangig die religiöse Kommunikation im Raum an (so Mertin und Schwebel). Für sie ist, sich auf entsprechende Äußerungen von Paulus, Luther bzw. Schleiermacher beziehend, das Gebäude der Kirche kein religiöses Ereignis bzw. kein religiöses Objekt an sich, sondern nur der die religiöse Kommunikation von Menschen umfriedende Bau. Die religiöse Kommunikation konstituiert erst den religiösen Raum (so Mertin). Dann aber kann man sachlich diesen Vorgang der religiösen Kommunikation nicht mehr unter „Aspekte kirchlichen Handelns“ ablegen, sondern muss ihn den religiösen Aspekten zurechnen. Oder man legt diese Theorien gleich vorab ad acta. Deutlich wird meines Erachtens, dass Körs an dieser Stelle ein bestimmtes Modell zum Maßstab macht, nämlich jenes, dass dem Gebäude eine religiöse Bedeutung zuschreibt, von dem sich dann die im Gebäude ermöglichten Handlungen abgrenzen lassen. Ich persönlich halte das für eine nicht neutrale Voraus-Setzung und plädiere dafür, an dieser Stelle ergebnisoffener zu agieren.




Im dritten Schritt wurden dann die Besucher der Kirchen befragt, differenziert nach Gemeindegliedern, Stadtbesuchern und Touristen. Es ist hier nicht der Ort, die Ergebnisse im einzelnen zu skizzieren. In der Sache selbst ist es aber sehr erkenntnisreich, was die befragten Menschen zum jeweiligen Kirchengebäude in der von ihnen wahrgenommenen Bedeutung sagen. Manches ist erwartbar. Dass weder Gemeindemitglieder, noch Stadtbewohner, die die Kirche aufsuchen, noch Touristen die Kirche als „fremden Ort“ begreifen, ergibt sich schon beinahe zwangsläufig aus den Begleitumständen. Dass die wesentlichen Faktoren biographische, historische, religiöse, städtische, kirchlich-bauliche und schließlich bauwerklich-atmosphärische Bedeutungen sind, die in ihrem Zusammenwirken erst so etwas wie eine Bedeutung des Gebäudes ergeben, war zu erwarten, wird aber auch durch die Studie eindrucksvoll gezeigt.

Was mich überrascht hat, ist, wie stark die Faktorwerte der Bedeutungsdimensionen zwischen den vier untersuchten Objekten/Orten variieren. Das Beispiel Kiel zeigt dabei m.E. sehr deutlich, dass tatsächlich, wie Körs ja auch hervorhebt, die Bedeutung eines Kirchenraumes / Gebäudes eine nicht irgendwie feststehende, sondern von vielen Faktoren abhängende Konstruktion ist. In Kiel treten als Faktoren insbesondere die kirchlich-gemeindliche Bedeutung und die religiöse Bedeutung in den Vordergrund, während die bauwerklich-atmosphärische Bedeutung zurücktritt. Das scheint mir der besonderen Arbeit vor Ort geschuldet zu sein und dürfte weniger (oder nur negativ) mit dem Gebäude zu tun haben. Das aber hat Konsequenzen für die Kirchen, die nicht so bau-ästhetisch ausgezeichnet sind, wie die hier untersuchten.

Interessant ist noch die Anmerkungsweise vorgetragene Beobachtung, dass zufällig befragte Schulklassen in Wismar und Stralsund, die im Rahmen ihres Religionsunterrichtes die Kirchen besuchten, eine deutlich geringere emotionale Bindung an die Kirchenräume zeigten. Das deutet auf eine in Zukunft eher abnehmende grundsätzliche Bindung hin (wenn z.B. Faktoren wie die Erinnerung an die Zerstörung der Kirchen und Städte im 2. Weltkrieg wegfallen).

Ich wünschte, es gäbe für jeden Kirchenkreis in Deutschland eine derartige Erhebung. Das würde zum einen zeigen, dass Verallgemeinerungen über die Bedeutung von Kirchengebäuden kaum tragfähig sind. Es würde aber auch für die einzelne Gemeinde deutlich machen, wie sie eigentlich empirisch wahrgenommen wird. Und hier scheint es ja sehr viele Unterschiede zu geben. Denn wenn man die zugrunde liegende Auswahl bedenkt – vier bauästhetisch und historisch außerordentlich herausragende Gebäude – dann werden sich bei anderen Gebäuden und im so genannten Regefall der Kirchengemeinden vermutlich ganz andere Bedeutungszuschreibungen ergeben – abgesehen davon, dass für über 90%der Kirchengebäude in Deutschland der Faktor Tourist kaum eine Rolle spielt.

Das aber sollte man bei dieser Studie im Hinterkopf behalten, um keine voreiligen verallgemeinernden Schlüsse zu ziehen. Eigentlich handelt es sich bei den untersuchten Objekten um heute evangelisch genutzte, ursprünglich aber römisch-katholische Bürgerkirchen. Die Frage, was daran denn „evangelisch“ sei, wird im Befragungsbogen nicht unmittelbar erhoben. Die (mögliche und meines Erachtens auch empirisch wahrnehmbare) spezifische Differenz zwischen diesen Kirchen und Kirchen anderer konfessioneller Prägung fällt damit aus der Untersuchung der gesellschaftlichen Bedeutung von Kirchenräumen heraus. Das müsste noch einmal genauer erhoben werden.

Grundsätzlich lautet meine nun über die Studie hinausführende Vermutung, dass wir mit der Arbeit von Anna Körs eine erste Vorahnung von einer gesamtgesellschaftlichen Transformation bekommen, bei der nach und nach Kirchengebäude an religiöser Bedeutung im engeren Sinne verlieren und wieder bürgerliche Bedeutung erlangen. Das könnte bedeuten, dass sie langfristig auch wieder in den gesellschaftlichen oder vielleicht auch staatlichen Besitz übergehen. Man kann es als sich abzeichnende Transformation von der religiösen zur säkularen Spiritualität bezeichnen. Ich bewerte das keinesfalls kritisch, vielleicht ist es sogar ein notwendiger Schritt. Denn wenn biblisch-theologische und auch konfessorische Gesichtspunkte in der Bewertung der Kirchengebäude zunehmend eine immer geringere Rolle spielen, sondern die „Religion“ der Menschen im Sinne ihrer „Bindung“ an bestimmte Werte und Identifikationspunkte, dann ist es nur konsequent, wenn – wie in den Neuen Bundesländern gut zu beobachten – die Bürger respektive die Gesellschaft die Kirchen übernehmen und und als Identität stiftende Punkte pflegen. Die institutionellen Kirchen könnten sie dann temporär für ihre religiösen Riten mieten. Dort aber, wo Kirchengebäude keine bau-ästhetisch ausgezeichnete oder städtebauliche Funktion haben, werden sich die Bedeutungen anders bilden und dementsprechend eher religiöse und gemeindliche Gesichtspunkte in den Vordergrund treten. Aber das müsste empirisch noch in einer weiteren Studie überprüft werden.

Anmerkungen

[1] Bahr, Hans-Eckehard (Hg.) (1968): Kirchen in nachsakraler Zeit. Hamburg: Furche-Verl. (Konkretionen, 2). Vgl. dazu Mertin, Andreas (2009): Sakrale Zeit - Nachsakrale Zeit. Eine Re-Lektüre eines Aufsatzes von Hans-Eckehard Bahr. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 11, H. 58. https://www.theomag.de/58/am281.htm.

[2] Ledergerber, Karl (1961): Kunst und Religion in der Verwandlung. Köln: DuMont Schauberg. Vgl. dazu Mertin, Andreas (2011): Abschied vom Sakralen. Karl Ledergerbers Plädoyer für religiöse Kunst. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 13, H. 71. https://www.theomag.de/71/am337.htm.

[3] Vgl. Schwebel, Horst; Ludwig, Matthias (1996): Kirchen in der Stadt. 2 Bände. Marburg/Lahn: Inst. für Kirchenbau und Kirchliche Kunst der Gegenwart.

[4] Failing, Wolf-Eckart (1998): Die eingeräumte Welt und die Transzendenzen Gottes. In: Failing, Wolf-Eckart; Heimbrock, Hans-Günter (Hg.): Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis. Stuttgart, Berlin: Kohlhammer, S. 91–122.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/79/am410.htm
© Andreas Mertin, 2012