Pussy Riot

Zum Problem der politischen Ingebrauchnahme des Kirchenraums

Andreas Mertin

Der Fall der Verurteilung der russischen anarchistischen Punkband Pussy Riot zu einer zweijährigen Lagerhaft hat viel Staub aufgewirbelt. Unterstützung und Beifall bekam die Band dabei auch von Kreisen, die bei einer analogen Aktion etwa einer anarchistischen Fluxus-Perfomance-Gruppe in einer deutschen Kirche keinesfalls begeistert gewesen wären. Es scheint, als ob Solidarität mit Andersdenkenden dann besonders leicht fällt, wenn diese weit weg in einem anderen Land und unter einer anderen Führung und einer anderen Kirche leben. Diese Solidarität aber ist billig, weil folgenlos.

Auf der anderen Seiten zeigen die zahlreichen Unterstützer, die nun in evangelische oder katholische Kirchengebäude eindringen, um durch gezielte Störung des Gottesdienstes ihre Solidarität mit der Gruppe Pussy Riot zu bekunden, dass auch sie überhaupt nicht begriffen haben, worum es eigentlich geht. Welchen Sinn macht es, die evangelische Frauenkirche in Dresden oder den katholischen Kölner Dom zu stürmen, um gegen die russisch-orthodoxe Kirche in Russland und ihr Verhältnis zur Macht und ihren Umgang mit den Kritikerinnen zu protestieren? Haben sich die evangelische oder die katholische Kirche mit dem russisch-orthodoxen Patriarchat in dieser Frage solidarisiert? Nein, haben sie nicht. Man muss also schon sehr verdreht im Kopf sein, um in der protestierenden Intervention in eine westliche Kirche eine politische Logik entdecken zu können. Vielleicht können einige zwischen evangelisch, katholisch, orthodox – und hier noch einmal griechisch-orthodox, russisch-orthodox ... – gar nicht mehr unterscheiden? Ist ja eh alles Religion. Und Hauptsache, es gibt einen deftigen Protest. Sinnvoller wäre es allerdings gewesen, vor der russischen Botschaft des jeweiligen Landes zu protestieren, denn diese wäre als Repräsentanz des russischen Staates ja der eigentliche Adressat eines humanistischen Protests.

Ich glaube zudem, dass nur die wenigsten sich in der Sache mit dem politischen Anliegen der Gruppe Pussy Riot solidarisch erklären würden. Der Anarchismus in der hier repräsentierten Form hat in unserer Gesellschaft nur wenig Apologeten. Wogegen man allerdings protestieren muss, ist, dass Menschen, die eine simple Störung durch das Eindringen in einen zum Zeitpunkt der Intervention nicht einmal genutzten religiösen Raum begangen haben, wie Staatsfeinde abgeurteilt und weggeschlossen werden. Das ist nicht vertretbar und maßlos. Und in dieser Sache gehört der Gruppe Pussy Riot unsere Solidarität.

Staat – Kirche – Kunst

Nun aber zum Grundsätzlichen: Offenkundig geht es im vorliegenden Falle ja um einen Konflikt zwischen drei beteiligten Größen: dem Staat, der Kirche und der Kunst. Und dieses Verhältnis ist auch in Deutschland historisch wie aktuell ein ebenso interessantes wie fragiles Verhältnis. Man kann die drei Größen zunächst ganz modern für sich betrachten, als ausdifferenzierte Sphären der Gesellschaft. In der Kirche geht es zunächst nicht nach den Regeln der Kunst und auch nicht nach denen des Staates zu, im Staat geht es nicht um Regeln der Kunst oder der Kirche und in der Kunst sollten weder Staat noch Kirche die Regeln vorgeben. Das ist ein idealtypisches Modell der Moderne, von dem wir wissen, dass es keinesfalls die Realität spiegelt und sie auch nicht spiegeln kann, weil man die Räume von Kunst, Kirche und Staat eben nicht überschneidungsfrei denken und beschreiben kann. Denn schon das theoretische Auseinanderhalten der Kreise ist selbst Teil eines politischen, religiösen oder ästhetischen Programms – und keinesfalls wertneutral.

Tatsächlich bestimmt der heutige Staat grundsätzlich – in der Regel durch seine Verfassung – die Freiheit und die Grenzen der Kunst wie der Religion (und gibt ihnen damit einen Rahmen vor) und spätestens bei Konflikten muss zum Beispiel zwischen religiösen, aber auch bürgerlichen Werten und der Kunstfreiheit abgewogen werden. Dies macht der Staat mit Hilfe seiner Rechtsinstitutionen und in Gesetzgebungsverfahren. Und auch im Bereich der Kirchen kommt Kunst natürlich vor, aber die dort geltenden Regeln sind eben nicht automatisch mit denen des Systems Kunst identisch. Und im Konfliktfall muss zunächst dialogisch, oftmals aber auch unter Rückgriff auf staatliche Rechtsinstitutionen eine Klärung herbeigeführt werden. Diese Überlappungen von Staat, Kirche und Kunst stehen nicht ein für allemal fest, sondern werden immer wieder neu bestimmt. Der innere Kern, in dem Staat, Kirche und Kunst aufeinander treffen, ist keine Zone der Übereinstimmungen, sondern ein Bereich des Konflikts.

Öffentlicher Raum Kirche

In früheren Zeiten war der Raum der Kirche ganz selbstverständlich öffentlicher Raum – eine gemeinsame Schnittstelle von Staat, Kirche und Kunst. Und von diesem frühneuzeitlichen Verständnis zehrt auch das Verhalten der russisch-orthodoxen Kirche und einiger Teile des Staatsapparats Russlands. Der Schriftsteller Wiktor Jerofejew hat das im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE so beschrieben: „Der Kreml wendet sich von europäischen Werten ab und einem neuen ideologischen Code zu: der Vereinigung von Staat und Kirche. Unter dem Motto "Orthodoxe Zivilisation" soll eine neue Utopie geschaffen werden.“[1] Es ist aber weniger ein iranisches Modell, wie Jerofejew meint, sondern schlicht ein vormodernes Modell vom christlichen Staat, von dem nebenbei gesagt, auch die Piusbrüder im Westen heute immer noch träumen[2] und das ihre Anhänger mit rabiaten Methoden gegen Andersdenkende durchzusetzen versuchen.[3] Dieses Modell geht letztlich von einer dem Staat übergeordneten Kirche aus, bei der der Staat als katholischer, lutherischer oder orthodoxer Staat die Wahrheit der christlichen Religion schützt und durchsetzt – notfalls auch unter Androhung und Anwendung von Gewalt.

Diese Allianzen von Staat und Kirche sind de facto ein verführerisches Modell und auch in Deutschland in der Perspektive von Kirchenvertretern keineswegs historisch erledigt. Denn wenn diese Kirchenvertreter die Möglichkeit bekommen, wie Kyrill I. in der Öffentlichkeit aufzutreten, nutzen sie sie auch. Die Selbstverständlichkeit, mit der in Deutschland Kirchenfunktionäre als potentielle Staatsfunktionäre gehandelt werden zeugt davon. Auch wenn etwa in Hamburg Prominente, die schon vor Jahrzehnten aus der Kirche ausgetreten und somit ihre Distanz zum christlichen Glauben haben erkennbar werden lassen, im Rahmen eines quasi staatlichen Gottesdienstes im Michel als der zentralen Kirche Hamburgs verabschiedet werden („offizielle Trauerfeier“), dann sind wir auch im Bereich einer gefährlichen Staats-Kirchen-Verbindung.[4] Exakt dann hat man das alte Modell des Staatskirchentums vor sich, denn die Kirche erfüllt hier eine Funktion, die sich eben nicht aus dem Vollzug des Glaubens ergibt, sondern aus dem Selbstverständnis als Repräsentantin des öffentlichen Raumes.

Nun kann die Kirche als öffentlicher Raum unterschiedlich genutzt werden. Es ist dabei entscheidend, ob der öffentliche Raum der Kirche neben seiner grundsätzlichen primären Funktion als Verkündigungsraum zusätzlich als öffentlicher Artikulationsraum (Suchet der Stadt Bestes) oder aber als öffentlicher Repräsentationsraum gedacht wird. Alle drei Momente prägen den Kirchenraum historisch, sind aber aktuell unterschiedlich präsent – unterschiedlich vor allem im Blick auf die Nutzergruppen. In Räumen wie dem Berliner Dom oder der Christ-Erlöserkirche in Moskau sind schon rein architektonisch die Repräsentationsfunktionen den Verkündigungs- und Artikulationsfunktionen vorgeordnet.

Kontroverser Raum – das Beispiel Pussy Riot

Interessant ist, dass Pussy Riot bei ihrer Aktion die 1883 im pseudorussischen Stil erbaute, 1931 unter Stalin zerstörte

 

und 2000 rekonstruierte Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau in allen drei Funktionen wahrgenommen und in Anspruch genommen hat.

Zunächst einmal protestieren sie gegen Missbrauch der Erlöserkirche als Verkündigungsraum zugunsten des russischen Staatssystems. Und sie setzen dem – ob nun ironisch oder nicht - ihre eigene Verkündigung entgegen. Ihre Protestaktion bediente sich ja durchaus der rituellen Sprache der Kirche[5]: Die Jungfrau Maria ist bei den Protesten mit uns! Mutter Gottes, Du Jungfrau, vertreibe Putin! Vertreibe Putin, vertreibe Putin!

Zum zweiten hat Pussy Riot die Erlöserkirche als Artikulationsraum wahrgenommen und genutzt. Wenn schon der Moskauer Patriarch und die russische Staatsführung diesen Raum als Artikulationsraum nutzen, dann wollen Pussy Riot dieses Recht auch für sich in Anspruch nehmen: Kirchlicher Lobgesang für die verfaulten Führer - Kreuzzug aus schwarzen Limousinen ... Der Patriarch glaubt an Putin. Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben.

Ambivalent bleibt die Frage nach dem Repräsentationsraum – denn dieser setzt ein Leitbild voraus. Unbestritten ist, dass Putin die Erlöserkirche als politischen Repräsentationsraum nutzt. Seine öffentliche Teilnahme an diversen Gottesdiensten ist kaum seiner Frömmigkeit, sondern ideologischen Strategien geschuldet. Die russisch-orthodoxe Kirche hat die Erlöserkirche beim Wiederaufbau bewusst als religiös-nationalen Repräsentationsraum gestaltet. In wie weit haben ihn Pussy Riot selbst als Repräsentationsraum genutzt? Er war für sie eine Bühne – so viel ist klar. Die Frage ist aber, welche Ideen hier repräsentiert werden sollten: Mutter Gottes, Du Jungfrau, werde Feministin, Werde Feministin, werde Feministin? Das ist keine dem Bau kompatible Botschaft, das wissen auch Pussy Riot: Der Gürtel der Seligen Jungfrau ersetzt keine Demonstrationen.

Zur Kritik der Raumnutzung zum öffentlichen Protest

Im Prozess hat die Band Pussy Riot betont, man habe den Repräsentationsraum der Politik, nicht den der Kirche angreifen wollen. Eine Verletzung der Gefühle der Gläubigen sei nicht intendiert gewesen. Das ist wenig glaubhaft. Eine Formulierung wie „Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck! Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck!“ als Litanei im engeren Kultraum einer orthodoxen Kirche vorgetragen, zielt erkennbar auf Grenzüberschreitungen, welche Verletzungen der religiösen Gefühlswelt einschließen. Sicher, man wollte vielleicht keine religiösen Subjekte vor Ort schockieren. Aber man hat es in Kauf genommen und im Blick auf die durch Youtube repräsentierte Weltöffentlichkeit bewusst medial provoziert. Auch im Blick auf die notwendige Solidarität mit Pussy Riot sollte man nicht in die naive Attitüde verfallen, den provokativen Gestus einfach klein zu reden. Nein, hier sollte an den Grundfesten der Orthodoxie gerüttelt werden. Die Verletzung religiöser Gefühle wurde riskiert, um einen übergeordneten Zweck zu erreichen, nämlich die in der Perspektive von Pussy Riot illegitime Verschränkung von Staat und Kirche anzuprangern. Insoweit könnten sich Pussy Riot allenfalls auf die prophetischen Zeichenhandlungen biblischer Figuren wie Jesaja oder auch die Tempelreinigung Jesu berufen. Ich weiß nur nicht, ob man ihnen damit nicht zu viel Ehre antut. Mir leuchtet die Aktion als kirchliches Reformprogramm kaum ein. Der Schriftsteller Wiktor Jerofejew meint, es ginge bei dem Ganzen kaum um Kunst: „Pussy Riot haben den Raum der Kunst verlassen und sind in den Raum der Kirche eingedrungen. Diese Entgrenzung der Räume habe die Kirche und den Staat provoziert.“[6] Pussy Riot wäre damit aber als vor allem politische Gruppierung zu bewerten, die genau das getan haben, was sie der Gegenseite vorwerfen: Politik und Religion (unzulässig) zu vermischen.

Femen und Bonifatius – Exkurs zu den Grenzen symbolischer Handlungen

Nebenbei bemerkt: Es ist schon faszinierend, wie sehr sich die Aktionen der Kritiker und der Kritisierten gleichen. In Solidarität mit Pussy Riot hat die ukrainische Frauengruppe Femen in Kiew am Tag des Urteils ein Kruzifix mit der Motorsäge gefällt. Dazu riefen sie alle - so wörtlich - "gesunden Kräfte der Gesellschaft" auf, "unbarmherzig die überholten religiösen Vorurteile aus den Hirnen herauszusägen, die der Diktatur als Stütze dienen und die Entwicklung der Demokratie und die Freiheit der Frauen behindern". Da fühlt man sich gleich an Bonifatius und die Fällung der Eiche des Thor erinnert. Der Triumph des Fortschritts über einen abergläubigen Gegner. Ist das wirklich ein Fortschritt?

Femen hat noch einmal deutlich gemacht, dass der Protest sich de facto auch gegen die religiöse Gedankenwelt richtet und diese nicht wirklich respektiert. Femen versteht sich als „konsequent antireligiös und antikirchlich“ und meint: "Was ist denn ein kleines Stück Holz im Vergleich zu drei verlorenen Leben? Es ist uns egal, was für ein Kruzifix das war - ob katholisch, ob muslimisch, ob hugenottisch. Das spielt keine Rolle für uns. Es war ein säkularer Akt, eine Demonstration gegen die Kollaboration von Kirche und Staat."[7] Hugenottische oder muslimische Kruzifixe? Drei verlorene Leben?

Spätestens hier zeigt sich, wie abgrundtief dumm und beliebig derartige Aktionen werden können – vor allem, wenn man dazu noch bedenkt, dass das gefällte Kreuz tatsächlich von der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine für die Opfer des stalinistischen Terrorsystems errichtet wurde. Stalin, der in seinem Hass gegen alles Religiöse schon die Erlöserkirche in Moskau hatte sprengen lassen, hätte die Aktion von Femen vermutlich gefreut.

Nun muss man nicht Pussy Riot für die Dummheiten der Gruppe Femen verantwortlich machen. Es zeigt aber, dass der Protest von Pussy Riot in der positiven Füllung so konturlos blieb, dass nun jede beliebige Gruppierung in scheinbarer Solidarisierung ihr eigenes Süppchen daraus kochen kann. Pussy Riot erweist sich so als Passepartout.

Schlussfolgerungen

Macht es Sinn, Aktionen wie die von Pussy Riot in Kirchengebäuden – gleich welcher Denomination – zu erlauben? Ich glaube nicht, dass das auch nur annähernd sinnvoll ist, vor allem weil die Gefahr einer willkürlichen Funktionalisierung und einer politischen Theologie zu offensichtlich ist – und da ist es gleich, ob es sich um rechte oder linke politische Theologie handelt.

Sollte man aber derartige Aktionen erdulden bzw. tolerieren? Ja, wenn Toleranz meint, einen Schaden zu erleiden und im Interesse eines übergeordneten Gesichtspunkts auf die legitime Durchsetzung des eigenen Rechts zu verzichten. Pussy Riot hat ja die Verletzung des Hausrechts der Kirche bewusst begangen, denn ohne diese Verletzung hätte ihre Aktion gar keinen öffentlichen Schliff gehabt. Sie können also nicht von sich aus verlangen, für ihre Aktion nicht sanktioniert zu werden, denn dann entwerten sie diese. Aber die Kirche (ganz gleich ob orthodoxe, katholische oder evangelische) könnte und sollte meines Erachtens auf das Verlangen nach Sanktion verzichten, nicht zuletzt, weil die Durchsetzung des Rechts noch mehr Unrecht bewirkt. Entsprechend hat die griechisch-katholische Kirche der Ukraine, die das Kreuz in Kiew errichtet hatte, das Femen aus angeblichem Protest fällte, auf eine Anzeige verzichtet und auf den grundsätzlich friedensstiftenden Charakter des Kreuzes Jesu Christi verwiesen. Und so empfiehlt es sich wohl auch in allen anderen ähnlich gelagerten Fällen.

Wenn der Raum der Kirche über die Verkündigung hinaus entweder zum Artikulationsraum oder zum Repräsentationsraum wird, dann ist – zumindest in der Wahrnehmung zahlreicher Gläubiger, aber auch anderer Nutzer – der Verkündigungsraum immer auch mit berührt. Es gibt keine wirkliche reine Trennung zwischen diesen drei Räumen. Aber es könnte die unterschiedlichen Raumfunktionen deutlich machen und den Handelnden vor Augen führen, im Blick auf welchen Raum sie gerade handeln. Die deutsche Kirchengemeinde, die durchaus gut evangelisch einem Veranstalter außerhalb des Gottesdienstes erlaubt, ihre Kirche zu anderen Zwecken zu nutzen, muss sich bewusst sein, dass sie den Verkündigungsraum nicht „rein“ halten kann. Etwas von der werktäglichen profanen Nutzung wird im Raum der Verkündigung nachschwingen. Das kann man in Kauf nehmen, sollte es aber reflektieren. Umgekehrt, wenn die Kirche ihren Raum selbst als Artikulationsraum oder als Repräsentationsraum nutzt (sei es politisch oder kulturell), hat auch dies Folgen für die öffentliche Wahrnehmung des Raumes. Es ist ein Zeichen an andere, diesen Raum eben auch als Artikulationsraum oder als Repräsentationsraum zu nutzen. Pussy Riot haben wahrgenommen, dass die russisch-orthodoxe Kirche die Kathedrale in Moskau eben nicht nur als Verkündigungsraum betrachtet hat, sondern in zunehmendem Maße als Repräsentationsraum und nicht zuletzt als politischen Artikulationsraum. Daraus haben sie im Gegenzug das Recht abgeleitet, auch ihre abweichenden Ideen über Staat und Kirche in diesen Raum hineinzutragen. Sie haben das „Angebot“ zur Artikulation ihrer Ideen angenommen.

Wenn die Kirche also den Kirchenraum als öffentlichen Raum deklariert, muss sie mit dem Risiko abweichender Artikulationen leben. Sie wird zum Beispiel – wie im Hamburger Michel – der ZEIT Raum für ihre Veranstaltungen geben oder - wie in der Johanneskirche in Altona – kommerziellen Veranstaltern eine Bühne bieten. Schwierig wird es dann, wenn die Kirche nun aus der Zahl möglicher Anbieter bestimmte bevorzugt und andere abweist. Dann bekommt man den Eindruck, als ob die Zulassung der ZEIT auf übereinstimmenden Werten beruht, während die Abweisung anderer eben aufgrund mangelnder ideologischer Übereinstimmung erfolgt. Das ist und bleibt ein riskanter Weg. In der Erlöserkathedrale in Moskau meinte das Patriarchat der politische Herrschaft repräsentiert durch Putin bevorzugt einen Repräsentationsraum anbieten zu müssen bzw. zu dürfen. Die weltweite Resonanz auf die Aktion von Pussy Riot zeigt, dass diese Haltung zumindest außerhalb Russlands heute nicht mehr geteilt wird. Der Protest gegen die Allianz von Thron und Altar (im Sinne der gemeinsamen Nutzung des Repräsentationsraumes Kirche durch Staat und Kirche) scheint Common Sense geworden zu sein.

Anmerkungen

[2]    Etwa wenn der Distriktobere der Piusbruderschaft meint, der (katholische) Staat habe die Pflicht, „im öffentlichen Bereich die Anhänger falscher Religionen daran zu hindern, ihre religiösen Überzeugungen durch öffentliche Kundgebungen, Missionierungsarbeit und Errichtung von Gebäuden für ihren falschen Kult in die Tat umzusetzen.“

[4]    http://www.welt.de/print-welt/article262830/Augstein-Trauerfeier-Flaggen-auf-halbmast.html: „Die Hansestadt Hamburg wird am Montag Abschied von ihrem Ehrenbürger [Rudolf Augstein] nehmen. Anlässlich der Trauerfeier werden am kommenden Montag an allen öffentlichen Gebäuden die Flaggen auf halbmast gesetzt. Auf Grund der Vielzahl geladener Gäste ist der Michel für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.“

[5]    "Mutter Gottes, Du Jungfrau, vertreibe Putin! Vertreibe Putin, vertreibe Putin! Schwarzer Priesterrock, goldene Schulterklappen - Alle Pfarrkinder kriechen zur Verbeugung. Das Gespenst der Freiheit im Himmel. Homosexuelle werden in Ketten nach Sibirien geschickt. Der KGB-Chef ist Euer oberster Heiliger, er steckt die Demonstranten ins Gefängnis. Um den Heiligsten nicht zu betrüben Müssen Frauen gebären und lieben. Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck! Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck! Mutter Gottes, Du Jungfrau, werde Feministin, Werde Feministin, werde Feministin! Kirchlicher Lobgesang für die verfaulten Führer - Kreuzzug aus schwarzen Limousinen. In die Schule kommt der Pfarrer, Geh' zum Unterricht - bring ihm Geld. Der Patriarch glaubt an Putin. Besser sollte er, der Hund, an Gott glauben. Der Gürtel der Seligen Jungfrau ersetzt keine Demonstrationen - Die Jungfrau Maria ist bei den Protesten mit uns! Mutter Gottes, Du Jungfrau, vertreibe Putin! Vertreibe Putin, vertreibe Putin!"

[6]    Gathmann, Moritz (16.08.2012): Die Kritik ist Putin egal. In: Der Tagesspiegel, 16.08.2012. Online verfügbar unter http://www.tagesspiegel.de/kultur/pussy-riot-die-kritik-ist-putin-egal/7010008.html.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/79/am412.htm
© Andreas Mertin, 2012