Etwas von allem

Besprechungen ausgewählter Videoclips - XXXIII

Andreas Mertin

Madonna – Nobody knows me (2012)

Madonnas Pausenfüller in ihrer aktuellen Welttournee hat es in sich und hat stellenweise die Berichterstattung über das Bühnengeschehen überlagert. Da Madonna hier nicht nur sehr engagiert für die Rechte der Homosexuellen eintritt und auf das Leiden jugendlicher Homosexueller in ihrer Angst vor Mobbing und Diskriminierung aufmerksam macht, sondern sich auch mit der rechten Szene anlegt, hat ihr dies mehrere Anzeigen eingebracht

Insbesondere die Überlagerung des Gesichtes der Vorsitzenden der französischen Front National mit einem Hakenkreuz sorgte für Proteste. Aber auch die religiösen Konservativen bekommen ihr Fett weg. Ausgangspunkt der visuellen Argumentation Madonnas ist aber ihre persönliche Erfahrung – wie die Presse mit ihr Umgeht, wie Medien mit Gerüchten arbeiten und wie die Gerüchte die Persönlichkeit überlagern. Aber de facto gilt: Nobody knows me. Eine sehenswerte Intervention.


Justice – Civilization (2011)

In Alejandro Amenäbars Film “Agora – Die Säulen des Himmels” stellt sich nach der Eroberung des Museions durch einen christlichen Mönchsmob die Welt auf den Kopf – zumindest aus der Perspektive der mitfühlenden Kamera. Wie das ist, wenn sich die Welt auf den Kopf stellt, ist auch das Rhema des Videoclips zu dem Stück „Civilization“ der Gruppe Justice. Nur dass diesmal keine Menschen Opfer der Verkehrung aller Werte sind, sondern eine Herde Bisons, die in einer offenkundig künstlichen Welt mit archetypischen Kulturrelikten zunächst friedlich grasen. Die Welt ist künstlich, weil sich am Firmament das äquatoriale Koordinatensystem samt einigen Sternbezeichnungen erkennen lässt. Mitten in dieser die Erde umgebenden Himmelskugel ist aber ein Loch, durch das Licht in das geozentrische Weltbild fällt.

Man sieht eine Felsplatte die fragil auf einem Felsen in einer ausbalancierten Lage ruht. Der umherschweifende Blick erkennt einige scheinbare zivilisatorische Überreste: eine Art Arche Noah, einen ägyptischen Tempel, überdimensionierte Götterstatuen, Mamorhände, die aus dem Boden ragen, Statuen, die auf Bergen thronen, eine Justitia mit verbundenen Augen, Stonehenge, eine Buddhastaue, einen kolossalen Atlas, der der Weltkugel trägt:

Dann aber gerät zunächst die Felsplatte und mit ihr die gesamte Himmelskugel aus dem Gleichgewicht und stürzt zwischen bzw. auf die grasenden Bisons, die panisch fliehen. Die Welt gerät in eine immer größere Schieflage und die Monumente der menschlichen Geschichte geraten in Rutschen.

Zur Hälfte des Clips (also nach etwa 2 Minuten) ist die Kugel so weit gerollt, dass die Welt nun auf dem Kopf steht. Die überlebenden Bisons irren nun auf die Himmelskugel umher, während über ihnen die Erde in Stücke bricht. Nach und nach fallen ihnen nun die Monumente auf den Kopf und zersplittern spektakulär auf dem Boden/Himmel. Götterdämmerung sozusagen. Die Herde der Bisons wird von den herabstürzenden Monumenten auf jenes Loch im Firmament zu getrieben, aus dem der Lichtschein auf die Erde kam. Sie nähern sich panisch dem Loch, stoppen und werden doch von der Wucht des Geschehens hinab getrieben. Aus dem Loch aber, der schmelzenden Glut des Lichts taucht etwas auf. Es ist ein goldenes Gesicht oder eine goldene Maske mit roten Augen, in die die von den Relikten des Alten bedrängten Tiere voll panisch Angst hinabstürzen. Ende des Clips.

Der Liedtext hilft zur Interpretation des Gesehenen nur bedingt weiter:

Standing in line as we march to the drums of the east
Paralyzed and possessed by crusader's deceit
Lost to the sirens that call from the turbulant tide
Bound by the science that lives on the lips of the wise

The beating of a million drums
The fire of a million guns
The mother of a million sons
Civilization

Stand aside as they bow to the call of the east
Tantalized and seduced by the demons relief
Dance to the ground by the whim of the merciless sky
Born to the fire that burns in the all seeing eye

Wie immer bei apokalyptischen Texten, hängt es vom eigenen Hintergrund ab, wie man Text und Bilder deutet. Im Internet wird kräftig spekuliert und interpretiert. Einige beziehen es auf die Apokalypse nach Offenbarung 16 (also dem Ausgießen der sieben Schalen des Zorns). Andere wollen die Metaphorik auf Nationen bzw. Kontinente bezogen wissen: The beating of a million drums = Africa / The firing of a million guns = Europe/America / The mother of a million sons = China.

Unverkennbar aber hat die Maske, die aus der Tiefe emporsteigt, eine Art drittes Auge. Und hier könnten wir dann eher bei einer modernisierten Form der indischen Mythologie sein, bei Surya, der Personifizierung der Sonne, dem Sonnengott.

Der Bezug auf den indischen Gott Surya scheint mir insgesamt auch besser zum Liedtext von Civilization zu passen und es gibt entsprechende Masken des Sonnengottes. Aber es ist natürlich nur eine und vielen anderen möglichen Interpretationen.

Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass der veröffentlichte Teaser zur Ankündigung des Musikstückes ein im Videoclip nicht verwendetes Motiv zeigt, nämlich ein großes umstürzendes und alles erschlagendes Kreuz (das dann im Namen von Justice wieder aufgenommen wird).

Zwar gibt es im Videoclip den umstürzenden monumentalen Christus aus Rio de Janeiro, aber die hier abgebildete Kreuzessymbolik (mit vielen weiteren Konnotationen) fehlt.


Cinnamon Chasers – Luv Deluxe (2009)

Ein verstörendes Video von Cinnamon Chasers aus dem Jahr 2009. Im Grunde ist es eine Variante von „Lola rennt“, mit dem Unterschied, dass es jedes Mal schlecht ausgeht. In den ersten 20 Sekunden des Clips sehen wir mit der Kamera in einen blauen Himmel, dann schweift der Blick über eine öde Landschaft nach links, wo ein Mädchen zusammengesunken an einem Auto sitzt, während eine von der Kamera kommende Hand vorsichtig nach ihr tastet. Es erfolgt ein Schnitt und wir hören einen Wecker, der jemanden, den wir nicht sehen, weil er mit der Kameraperspektive identisch ist, um 3:20 Uhr weckt. Kurz darauf klebt er einen Zettel an die Kühlschranktür: „Dear Mom and Dad, Leaving for good“. Dann sehen wir eine Autofahrt, diverse Zwischenstopps und schließlich eine Rast, bei der der Protagonist auf ein junges Mädchen trifft und es auf seine Fahrt mitnimmt. Bei einer weiteren Rast – es sind inzwischen etwa 60 Sekunden des Clips vergangen - eröffnet sich dann nach einem Essen der Ereignisbaum.

Variante 1: Weibliche Aggressivität (0:58-2:11) – Festnahme  
In der ersten Variante zerreißt sie die Essensrechnung und sie flüchten aus dem Restaurant. Mit Hilfe der Kreditkarte machen sie sich zunächst ein schönes Leben, bis der Kreditrahmen erschöpft ist. Daraufhin beginnt sie, die Portemonnaies von Passanten zu stehlen. Auch er beteiligt sich schließlich an den Diebstählen. Sie treiben es immer bunter, bis sie schließlich von der Polizei verhaftet werden. Rasend schnell bewegt sich der Film zurück zur Ausgangssituation.

Variante 2: Männliche Aggressivität (2:11-3:22) – Beziehungsmord    
Dieses Mal zerreißt er die Rechnung und drängt sie, aus dem Restaurant zu fliehen. Sein Verhalten  ist nun betont männlich-aggressiv. Auch hier geht das Geld schnell zu Ende und er beginnt, Passanten Gegenstände zu klauen (bis hin zum Penner, dem er den Spendenbecher entwendet). Es ist eine Odyssee mit Alkohol und Aggressivität, die schließlich in einem Waffenladen endet, in dem er sich ein Messer für Überfälle kauft – mit dem sie ihn dann umbringt ... Und wieder bewegt sich der Film rasend schnell zurück zur Ausgangssituation im Restaurant.

Variante 3: Unterdrückte Aggressivität (3:22-5:12) – Raubmord und Beziehungsmord       
In der dritten Variante bezahlt er die Rechnung und ist auch sonst sehr zurückhaltend. Als ihnen des Geld ausgeht und sie ein Portemonnaie entwenden will, hält er sie davon ab. Die Reise dauert dieses Mal wesentlich länger. Aber dann entführt sie jemanden, um an Geld zu kommen und das geht schief. Sie flüchten und kommen in eine Einöde. Dort versucht er den Notruf zu wählen, um die Polizei über den Entführten zu informieren. Sie greift zur Waffe im Handschuhfach und schießt auf ihn. Er ertastet die Waffe und schießt zurück. Wir sind in der Situation der Eingangsszene des Clips, der letzte Blick gilt der ‚Freundin’ am Wagen und dann schließen sich die Augen und dem Sterbenden schießen die letzten gemeinsamen Szenen durchs Hirn.


Carmen Maria Vega - La Menteuse (2009)

Wem so viel Aggressivität und Negativität zu viel ist, der sollte sich „La Menteuse“ von Carmen Maria Vega anschauen. Heiter, ironisch singt sie mit viel Swing und Jazz über ihre unausrottbare Neigung: sie ist, wie der Titel des Liedes schon andeutet, eine Lügnerin. Das aber natürlich bezaubernd und charmant: Well I do lie, passionately / To my friends, to my parents / To the shopkeeper, to Sir the agent / I lie so much, it is embarassing. Lügt sie jeden an, also auch den Zuhörer, an den sie sich mit ihrem Bekenntnis wendet (was zum Paradox des Epimenides über die lügenden Kreter führen würde)? Nein, natürlich nicht, denn Well I do lie, but not to you / Cause with you, I wanna speak about me / I hope you won't do like the others / Who are laughing and pointing at me.

Im Clip wird das so umgesetzt, dass sie immer wieder in Bilderrahmen und damit in Rollen fixiert wird. Es ist zum Verrücktwerden.


Carmen Maria Vega - La Menteuse 

Und damit hat es eine gewisse Ähnlichkeit mit „It must be something psychological” von Katie Lee, das man noch hören konnte, bevor es von der Axe-Werbung missbraucht wurde. Ein Schicksal, das es mit Civilization von Justice teilt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/79/am413.htm
© Andreas Mertin, 2012