Provokation der Vernunft

Philosophie-Performance in St. Johannis

Christian Gefert

Die Philosophie-Performance in St. Johannis: Erschließung philosophischer Texte mit Mitteln des Theaters. Existenzielle Situationen als Thema von Kirche und Philosophie. Die Rolle des Kirchenraums aus Sicht der Performer. Produktionsleiter Dr. Christian Gefert im Gespräch mit den Mitwirkenden Birger Breese, Björn Hipp, Karolina Pietrek, Hannah Sievers und Cynthia Wijono

In den Jahren 2007 bis 2010 arbeiteten die Performer der SplittergruppeTP in der St.-Johannis-Kirche. Dabei entstand in jedem Jahr eine Performance, bei dem der Text eines Philosophen Ausgangspunkt und Material des Arbeitprozesses war: Zarathustra 2007 kreiste um den berühmten Text „Also sprach Zarathustra“ von Friedrich Nietzsche. Bei Marx – Das Manifest stand 2008 das „Kommunistische Manifest“ im Mittelpunkt. 2009 widmeten sich die Performer im Rahmen von Playing Kant dem Text „Was ist Aufklärung?“ des Philosophen. 2010 lotete die Gruppe schließlich die Bedeutung der „Apologie“ Platons im Rahmen des performativen Experiments Sokrates kommt. in der St. Johanniskirche aus.

Immer wandte die Gruppe dabei das Verfahren des theatralen Philosophierens an – ein unkonventionelles Verfahren zur Bedeutungseröffnung philosophischer Texte. Der Prozess des Philosophierens wird dabei nicht rein kognitiv aufgefasst, vielmehr werden auch die leiblichen Ausdrucksfähigkeiten einbezogen. Beim theatralen Philosophieren geht es um die Suche nach prägnanten Körperbildern, die für die aktuelle Bedeutung eines philosophischen Textes stehen. Dabei philosophieren die Performer in Gesprächen und durch theatrale Improvisation miteinander. Die Bedeutungsfülle eines vermeintlich abstrakten Textes wird so künstlerisch verdichtet und physisch wahrnehmbar.

Ein Abenteuer im kreativen Denken

Die Performer riskieren sich beim theatralen Philosophieren im aktuellen und persönlichen Weiterdenken eines philosophischen Textes, indem sie eine gegenwärtig relevante Leseart suchen. Sie gestalten dadurch einen Texteröffnungsprozess, der auch ein Abenteuer im kreativen Denken ist.

Das theatrale Philosophieren ermöglicht die Textinterpretation jenseits der (Denk-)Routine: Zu Beginn weiß nämlich noch niemand, welche performative Bedeutungsgestalt der Text im Arbeitsprozess annehmen wird. Theatrales Philosophieren gestaltet sich immer eng am Text, denn eine improvisierte Szene wird nur weiter bearbeitet, wenn sie in einem nachvollziehbaren Bezug zu einem philosophischen Text steht.

Die Ergebnisse wurden jeweils im Rahmen einer Performance an vier Abenden in der St.-Johannis-Kirche präsentiert. Anschließend fand meist eine moderierte Diskussion zwischen Publikum und Performern statt. Im Oktober 2010 reflektierte Christian Gefert, der Produktionsleiter, zusammen mit den Mitwirkenden Birger Breese, Björn Hipp, Karolina Pietrek, Hannah Sievers und Cynthia Wijono den bisherigen Arbeitsprozess im Rahmen der Kulturkirche in einem Gespräch.

Zum Amauon ShopC. Gefert: Lasst uns über die Frage sprechen, was uns der Kirchenraum ermöglicht hat. Was ist das Besondere, in einer Kulturkirche zu arbeiten?

C. Wijono: Die spielerische Freiheit. Als ich in die Kirche kam, war dies das erste, was mich für die Theaterarbeit bei Sokrates kommt. inspiriert hat. Ich habe mir keine großartigen Gedanken gemacht, welche Position Sokrates zu Gott und der Kirche haben könnte, sondern ich habe mich umgesehen und fand es unglaublich spannend, die verschiedenen Räume spielerisch einbinden zu können: die Emporen, kleine Treppchen und Gässchen, die verschlossenen Türen, die man öffnen konnte. Das hat mich alles sehr inspiriert.

H. Sievers: Ich finde, die Kirche stellt etwas dar, zu dem man natürlich in irgendeiner Weise Bezug hat. Durch ihre enorme Größe denkt man an Religion und Gott, wenn auch unterbewusst. Das ist das erste, was diese Kirche von anderen Räumen unterscheidet.

B. Hipp: Sie ist kein neutraler Raum wie eine Bühne oder eine Halle, sondern der Raum selbst bringt schon eine Geschichte und ein Setting mit. Ohne dass man im Spiel explizit auf den Raum Bezug nimmt, spielt er immer mit und wird dadurch lebendiger. Die Bühne ist quasi auch als Protagonist unterwegs.

K. Pietrek: Um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, verlangt einem der Raum so wenig ab. Wenn ich etwas vermitteln möchte, was mit mir persönlich zu tun hat, muss ich nicht viel von mir preisgeben. In einer Kirche habe ich nämlich das Gefühl, sowieso immer privat zu sein. Ich muss nicht so viel Angst vor dem Raum haben – aber ich habe trotzdem Respekt und auch das Gefühl, dieser Raum respektiert meine Privatheit und unterstreicht sie.

B. Breese: Ihr sprecht jetzt alle davon, dass der Raum schon etwas darstellt. Ist es dann nicht auf der anderen Seite so, dass er wiederum einschränkt, gerade weil er diesen Charakter hat?

H. Sievers: Ja, auf jeden Fall, aber ich sehe eher die Bereicherung. Natürlich wirkt der Raum auf eine bestimmte Weise, weil er schon einen Subtext mitliefert und man das Geschehen interpretiert. Das kann man als Einschränkung empfinden – oder eben als Bereicherung, weil einem vieles ermöglicht wird.

B. Hipp: Der Raum ist einfach echt. Er ist kein neutraler Raum, in dem man etwas aufbauen muss, sondern der Raum ist eine Kirche. Wir haben ja extra Stücke gemacht, die sich mit der Kirche auseinandersetzen. Die Projekte waren immer darauf angelegt, den kirchlichen Subtext zu behandeln. Deshalb habe ich den Kirchenraum nie als Einschränkung empfunden.

K. Pietrek: Das ist genau der Punkt. Durch die Rolle, die die Kirche in der Geschichte gespielt hat, bietet sie Raum für unterschiedliche Situationen. Wenn man zum Beispiel in der Zarathustra-Performance eine Hochzeit sieht, kann man den Raum in diesem Moment als feierlich wahrnehmen. Bei der Sokrates-Performance ist der Raum durch Trauer erfüllt. Und beim Marx-Projekt ist er Zufluchtsraum – auch eine Funktion, die die Kirche etwa in Kriegssituationen erfüllt hat. Insofern ist der Raum nicht neutral, aber dadurch, dass die Kirche in der Geschichte so unterschiedliche Bedeutungen hatte, unterstützt sie fast jede Stimmung, die man hineinbringen möchte.

H. Sievers: Neue Bilder oder Szenen wirken durch den Subtext des Kirchenraums deutlicher als in einem neutralen Raum. Es ist immer wieder dieses Unterschwellige: Natürlich kann man sich im Spiel neutral zum Altar hinwenden und ihn als Steinblock betrachten, aber gleichzeitig wird dies auch anders wahrgenommen, denn der Altar bietet viele Assoziationen.

C. Gefert: Der Raum ermöglicht die Wahrnehmung existenziell zugespitzter Situationen. Es sind Situationen wie Bedrängnis, Tod oder Hochzeit, in denen die Sinnfrage aufbricht. Da ist auch die Nahtstelle zum Philosophieren: Es geht in diesem Raum immer ganz schnell um das Grundsätzliche.

K. Pietrek: Es ist nie banal gewesen.

C. Gefert: Ich erinnere mich an Improvisationen, in denen wir versucht haben, dort eine harmlose Strandszene zu spielen, oder an Situationen, die ein bisschen seichter angelegt sind. Da sind wir auf ganzer Linie gescheitert. Bei allen Projekten haben wir solche Anläufe gemacht. Aber wir waren immer wieder gezwungen, sehr grundsätzlich und existenziell zu werden.

B.Hipp: Ich glaube, dass man sich auch über die Zeit bewusst wird. In der Geschichte hat die Kirche einen Großteil der bedeutenden Fragen geregelt. Zu allem, was Bedeutung im Leben hatte, bezog die Kirche Stellung. Sie formulierte Aufgaben und einen Katalog mit Maßnahmen.

B. Breese: Ihr sprecht jetzt von der Vielseitigkeit des Kirchenraums. Trotzdem gehe ich davon aus, dass ein Stück oder ein Text, die überhaupt nichts mit der Kirche zu tun haben, dort nicht funktionieren würden.

C. Wijono: Ja, die Kirche bringt ihre eigene Geschichte mit, und diese ist bei unserer Arbeit von vornherein gegeben. Damit müssen wir als Gruppe umgehen: Wir haben den Raum, wir haben den philosophischen Text, und jetzt müssen wir einen neuen Zusammenhang zwischen dem Raum und dem Text schaffen. Dabei versuchen wir Ansätze der Philosophie neu zu beleuchten, und zwar in diesem Kirchenraum mit seiner Geschichte.

C. Gefert: Ich glaube, dass es eine Korrespondenz gibt zwischen dem Raum und der Philosophie. Der Raum legt nahe, sich mit existenziellen Situationen zu beschäftigen, und das tut Philosophie auch. Es wird schwierig, in diesem Raum ein reines Unterhaltungsspektakel zu inszenieren, bei dem es nicht um Sinnfragen geht. Ich glaube, das würde in diesem Raum nicht funktionieren. Er ist prädestiniert für die Auseinandersetzung mit Kunst, wenn Kunst den Anspruch hat, existentielle Fragen zu stellen, und nicht nur Unterhaltung sein will. In der St.-Johannis-Kirche funktionieren unsere Projekte, weil der Raum und der Text stark sind. Wir werden, wenn wir sensibel genug sind, durch diese Spannung immer wieder mitgerissen.

H. Sievers: Weil ein philosophischer Text den Anspruch hat, existenzielle Fragen zu beleuchten, kommt es immer wieder zu Nahtstellen zwischen Text und Raum sowie zu neuen Perspektiven auf beide. In der Kirche inszenieren wir eigentlich nie ein Unterhaltungsspektakel. Das wäre aber auch grundsätzlich nicht unser Ziel.

B. Breese: Also ist am Ende lediglich die Frage, wo man die Brücke vom Text zum Raum schlägt.

C. Gefert: Aus meiner Sicht entstand immer eine Spannung. Viele Inszenierungsideen wurden aber auch schnell als Provokation wahrgenommen. An diesem Punkt habe ich mir meist Sorgen gemacht: Alles, was wir im Rahmen einer Performance taten, wurde als schwerwiegend und provokativ wahrgenommen. Ich glaube, die Szene mit zwei Männern und einer Frau, die sich auf einem Altar küssen, hätte ohne den Altar bei Weitem nicht so provoziert. Auch die Frage, ob man einen Menschen auspeitschen darf, wie in der Performance Playing Kant, war vor dem Hintergrund der Kirchengeschichte dringlich und provokant. Dagegen war es immer schwer, in unseren Arbeiten im Raum Momente der Leichtigkeit zu erzeugen.

C. Wijono: Die Bühne ist hier nicht grundsätzlich vom Publikumsraum getrennt. Dadurch wurde der Raum zum Handlungsraum, zum Freiheitsraum für das Publikum. Es ist ein gemeinschaftlicher, ein öffentlicher Raum. Das Publikum fühlte sich immer schnell berührt und aufgefordert einzugreifen. Jeder hatte die Wahl: Will ich etwas ändern oder belasse ich die Szene so provokant, wie sie auf mich wirkt? Die Leute konnten selbst entscheiden, ob sie in diesem Moment als Zuschauer sitzenbleiben oder als handelnde Menschen dazwischengehen. Diese Tatsache hat die Provokation immer erst ermöglicht.

B. Hipp: Ich denke, jeder Zuschauer hatte sofort Zugang zu unseren Arbeiten, weil jeder, der sich in dieser Kultur bewegt, eine Meinung oder Stellung zur Kirche hat – sei es eine gute oder eine schlechte. Die Dringlichkeit, in ein Thema einzusteigen, empfinden viele vor diesem Hintergrund als höher. Wenn man selbst eine Position hat und dann auf einen anderen mit einer Position trifft, ist das viel ergiebiger und spannender, als wenn dem anderen die Situation egal ist. Somit regten unsere Arbeiten im Kirchenraum zum Denken an, und dadurch kamen wir viel besser mit den Zuschauern in Dialog als in einem anderen Raum.

K. Pietrek: Wir haben ja niemals den Anspruch gehabt, bloß zu provozieren, und deswegen fand ich das Provokative nie problematisch. Man war zwar irgendwie empört, aber trotzdem sah ich immer auch das Bemühen des Publikums zu verstehen, warum wir das machen. Das hat für mich gezeigt: Ein Kirchenraum wird in unserem Zeitalter sehr viel aufgeklärter wahrgenommen, als ich es erwartet hätte oder von anderen Gemeinden kenne. Die Leute haben es tatsächlich geschafft, den Raum nicht nur in gewohnter Form symbolisch oder emotional zu betrachten, sondern konnten sich darüber hinwegsetzen.

C. Gefert: Könnte man nicht eher sagen, dass es Menschen heute gelingt, in Kirchen eine andere Symbolik zu sehen? Ich fand interessant, dass sich die Menschen in diesem Raum, in dem alles eine symbolische Funktion hat, auf unsere performative Symbolik einstellen konnten. Das zeigt eine hohe Abstraktionsfähigkeit, von dem Abstand zu nehmen, was die Kirche vorgibt, und sich darauf einzulassen, diesen Raum neu zu sehen. Und trotzdem: Wenn dann drei Personen auf dem Altar stehen, hat das wieder viel mit dem religiösen Symbol der Dreifaltigkeit zu tun. Die Zuschauer ‚sprangen’ deshalb hin und her. Das ist spannend, denn wir haben es als Effekt genutzt: So war etwa das räumliche Setting bei Sokrates kommt. eine Gerichtsverhandlung. Zugleich sah es im Kirchenraum wie das Abendmahl aus. Und natürlich ist ein Apfel, der auf einem Tisch liegt, in einer Kirche mit einer biblischen Geschichte besetzt. Außerhalb des Kirchenraums hätte er bei weitem nicht diese symbolische Kraft.

Vielleicht beinhalten solche Inszenierungen sogar eine Chance für die Institution Kirche. Denn nach meinem Eindruck spricht die Symbolik, die im Rahmen eines Gottesdienstes inszeniert wird, kaum noch Menschen an. Vielleicht sollte in Kirchen, in denen nur zehn oder zwanzig Leute im Gottesdienst sitzen, mehr (philosophische) Kunst entstehen, um Menschen wieder im Hinblick auf ihre Sinnfragen anzusprechen und sich dabei auch mit christlicher Symbolik auseinanderzusetzen.

Mir waren die Gespräche mit dem Publikum nach unseren Performances wichtig. Es waren immer sehr philosophische Gespräche. Das passiert ja beim Gottesdienst leider nicht: Man sitzt da und vorne erzählt jemand etwas zu Sinnfragen. Man selbst fühlt sich berührt oder auch nicht, aber man kann nichts dazu sagen. Während wir am Ende unserer Performances immer wieder neu und lebhaft mit den Zuschauern diskutiert haben. Für mich bekam der Kirchenraum auf einmal wieder eine Funktion, denn dieser öffentliche Raum, von dem wir vorhin bereits gesprochen haben, war auf einmal spürbar: Ich kann in diesen Raum kommen, es geht um Sinnfragen, die mich betreffen, und danach kann ich mich mit anderen Menschen und insbesondere mit denjenigen, die diese Fragen aufgeworfen haben, direkt auseinandersetzen.

B. Hipp: Bei der Philosophie-Performance haben es die Leute sehr geschätzt, partizipieren zu können. Sie fühlten sich sehr viel ernster genommen, und viele nahmen es als Chance wahr, in einem Kirchenraum einmal etwas zu sagen, Gehör und auch Antwort zu bekommen. Das ist auch für uns Performer wichtig: Man schreit nicht etwas wild ins Nichts hinaus und erhält keine Rückmeldung, sondern man setzt sich in einem Kirchenraum wirklich damit auseinander, an einem Ort, an dem man das normalerweise nicht kann.

K. Pietrek: In der Kirche ist man einfach auf einer anderen Ebene angesprochen, und deswegen sind auch die Nachgespräche emotionaler und persönlicher.

B. Hipp: Ich bin eigentlich nicht gläubig, aber wenn ich in eine Kirche komme, habe ich immer das Gefühl, dass sich dort sofort eine Gemeinde formt. Man ist verbunden mit den Menschen, mit denen man da ist. Ich hatte in einer Kirche nie negative Gefühle gegenüber den Leuten um mich herum. Wenn wir nach einer Performance in dieser Kirche zusammensaßen, hatte ich immer das Gefühl, dass sich dort einfach durch den Duktus des Raumes eine Gemeinde bildete und wir den Zuschauern eher auf Augenhöhe begegneten, als dies in einem normalen Theaterraum geschehen wäre. Im Rahmen unserer Arbeit hatten Menschen einfach mal die Möglichkeit, die Kirche weder stark zu verneinen noch sie bedingungslos zu bejahen, sondern wir haben in einem Kirchenraum einfach einen Diskurs geöffnet. Es waren alle Türen offen und jeder konnte teilhaben. Das ist auf andere Art dort nur schwer herbeizuführen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/79/cg1.htm
© Christian Gefert, 2012