Kontextkompetenz

Zur Rolle der Kirche in der Metropole Hamburg


Im Folgenden dokumentieren wir einen Text, der von der Hamburger Arbeitsgruppe "Kirche und Stadtentwicklung" formuliert wurde. Zu der Arbeitsgruppe gehörten Dr. Friedrich Brandi-Hinnrichs, Frank Düchting, PD Dr. Jörg Herrmann, Dr. Nils Petersen, Joachim Tröstler, Arnd Schomerus und Käthe Stäcker.

Die Gruppe war von der "Koordinierungskommission Hamburg", einem landeskirchlichen Gremium zur Beratung Hamburger Themen, eingesetzt worden, um eine Bestandsaufnahme und Orientierung im Blick auf den Kirche und Stadt-Diskurs in der ehemaligen Nordelbischen Kirche zu erarbeiten.

Das Papier ist ein Baustein im Rahmen eines Diskussionsprozesses, der zu entsprechenden Beschlüssen der Kirchenleitung, der Kirchenkreisräte der Hamburger Kirchenkreise und des Vorstandes des Diakonischen Werkes geführt hat. Sie sehen vor, dass unter dem Titel "Die Stadt mitgestalten" ein Diskurs- und Fortbildungsprogramm zur Stärkung der Mitgestaltungskompetenz kirchlicher Arbeit in der Stadt initiiert werden soll.



Die Rolle von Religion und Kirche in Hamburg stellt sich differenziert dar und lässt sich als ein Spiegel gesamtgesellschaftlichen Bedeutungswandels der Religion in der Moderne lesen. Beschrieb der amerikanische Theologe Harvey Cox die Stadt in seinem 1966 auf deutsch (USA 1965) erschienenen Bestseller „Stadt ohne Gott?“ noch als einen Ort, an dem sich die damals für unaufhaltsam gehaltene Säkularisierung am frühesten und deutlichsten manifestiert, so musste er 20 Jahre später (1985) die Rückkehr der Religion in die postmoderne Stadt konstatieren.[1] Heute, wiederum knapp 30 Jahre später, gilt Religion als wichtiger Faktor einer multireligiösen urbanen Kultur. In der Öffentlichkeit wird Religion dabei gegenwärtig vor allem im Kontext der Integrationsdebatte wahrgenommen.

Ist Religion also auf die Agenda der medialen und urbanen Öffentlichkeiten zurückgekehrt, so lässt sich Vergleichbares für die Stadtthematik im Blick auf die kirchliche Agenda nicht sagen. Zwar ist das Thema der Stadt in Theologie und Kirche an einigen Orten immer wieder wahrgenommen worden – und hier hat Hamburg mit Wolfgang Grünberg und der Arbeitsstelle Kirche und Stadt wegweisende Akzente gesetzt[2] –, aufs Ganze gesehen ist es vor allem in der kirchlichen Praxis aber ein Randthema geblieben bzw. wieder geworden, denn Interesse und Engagement für die Stadt als Gemeinwesen sind seit den 70er Jahren deutlich zurückgegangen. Eine gewisse Ausnahme bildet die kulturelle Dimension von Urbanität, die mancherorts stärker in den Blick gekommen ist – jedoch ohne damit zugleich auch die gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Stadt innerhalb der Kirche zu vergegenwärtigen. Diese mangelnde Präsenz der Stadt als Polis im Bewusstsein und im Handeln der Kirche spiegelt sich in der fehlenden Wahrnehmung des Faktors Kirche im Denken der Stadt.

Als der damalige Stadtentwicklungssenator Thomas Mirow Anfang der 90er Jahre ein Konzept zur Stadtentwicklung Hamburgs vorlegte, wurden weder die evangelische Kirche, die immerhin über Jahrhunderte hinweg die Stadtordnung und das gesellschaftliche Leben Hamburgs entscheidend geprägt hatte, noch die römisch-katholische Kirche oder irgendeine andere Religionsgemeinschaft erwähnt oder als die Stadt prägende Faktoren einbezogen. Auch wenn die Nordelbische Kirche darauf mit einem viel beachteten Symposium reagierte, hat sich dadurch nichts an dem schleichenden Bedeutungsverlust der Kirche in der Stadt geändert. Das mag auch daran gelegen haben, dass sich zumindest die Evangelisch-Lutherische Kirche in Hamburg nach einer Phase der Politisierung in den 60er und 70er Jahren bis heute immer weiter aus dem öffentlichen Diskurs zurückgezogen hat. Besinnung auf die „Kernkompetenz“ von Glaube und Spiritualität, Wiederentdeckung der spezifischen Tradition der Kirche, Gottesdienst und Gemeindeidentität wurden zu Schlüsselbegriffen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte kirchlicher Selbstverständnisdiskussionen. Und angesichts der schwindenden finanziellen Ressourcen mit den Folgen von Personalabbau und der Konzentration auf Fusionsprozesse auf allen Ebenen der Nordelbischen Kirche (Gemeinden, Kirchenkreise, Landeskirche) beschäftigt sich die Kirche derzeit zunehmend mit sich selbst und läuft somit Gefahr, den gesellschaftskulturellen Kontext, in den sie eingebunden ist, aus den Augen zu verlieren.

Doch die persönliche Frömmigkeit, also individuelle und familiale Glaubenspraxis, Seelsorge, Sterbebegleitung etc., ist nur eine Ausdrucksform des Christentums. Weitere Formen sind das institutionelle und das öffentliche Christentum. In diesem Sinne betont der EKD-Text „Gott in der Stadt“ zu Recht: „Die Kirchen leisten einen einzigartigen Beitrag zur Entwicklung einer Stadtkultur, wenn sie sich für die Wiedergewinnung und Gestaltung von Räumen – im lokalen, geistigen und geistlichen Sinne – einsetzen, in denen Menschen in der Stadt mit Leib und Seele leben können.“[3]

Auch die Bibel kennt keine Gottesbeziehung ohne den Kontext, in den die Gott Suchenden eingebunden sind. Prophetisches Reden, Jesu Verkündigung, Kreuz und Auferstehung wie auch die paulinischen Briefe und die Zeugnisse der ersten Christen sind ohne die Einbettung des religiösen Selbstverständnisses in das politische, soziale und kulturelle Geschehen der jeweiligen Zeit nicht zu denken.

Wenn Kirchengemeinden, vielleicht aus gutem Grund, zu bestimmten Fragen des öffentlichen Lebens keine eindeutige Stellung beziehen möchten, so sollten sie doch in der Lage sein und von leitenden Stellen ermutigt werden, Kommunikationsprozesse anzustoßen, Runde Tische zu installieren oder Räume zur Verfügung zu stellen, in denen gesellschaftspolitisch relevante Themen verhandelt werden. Die Kirche sollte Moderationsprozesse initiieren und sich dabei aber auch nicht scheuen, selber Position zu beziehen, dabei eine Gesprächskultur praktizierend, die den Respekt gegenüber der anderen Position betont und einwirbt. Nächstenliebe oder, wenn man so will, Feindesliebe, könnten so sichtbar Gestalt gewinnen.

Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen sind die folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Stadt und Kirche – speziell im Blick auf Hamburg als einzige Metropole in der entstehenden Nordkirche – entwickelt worden. Sie sollen als Anregung zum Weiterdenken und auch zum Handeln ermutigen oder, besser noch, auffordern.


Kirche in der urbanenm Kultur

Kultur ist eine zentrale Dimension urbanen Lebens. Zugleich ist Kultur als Kontext und Gegenstand kirchlicher Arbeit in der Stadt in den letzten Jahren etwas mehr in den Blick gekommen. Nach der starken Prägung der lutherischen Kirche durch die Ressentiments der Dialektischen Theologie gegenüber der liberalen Theologie, dem Kulturprotestantismus und allem, was nicht in Übereinstimmung mit dem 1. Artikel der Barmer Theologischen Erklärung steht, kommt man zunehmend zu der Überzeugung, dass Gottes Offenbarung nicht allein im Christusgeschehen zu erkennen und zu erfahren ist. Auch Musik, ein Kunstwerk und sogar mancher Hollywood-Film können Spuren Gottes in der Welt aufweisen. Durch die kulturtheologische und kulturpraktische Arbeit der letzten Jahrzehnte sind vielfältige Überschneidungsfelder und Verwandtschaften zwischen Religion und Kultur (in ihrer ganzen Breite vom Videoclip bis hin zur Oper) deutlich geworden, die Anknüpfungspunkte für die kirchliche Arbeit bieten. Zahlreiche Angebote der Evangelischen Akademie der Nordelbischen Kirche belegen das ebenso wie Literaturveranstaltungen, Theateraufführungen und Konzerte zeitgenössischer Musik in den Kirchen. Aber auch die Kultur ist wieder offener für die Themen Kirche und Religion geworden. Religion ist kein Tabu mehr, wird in den Feuilletons wieder diskutiert und in der Hamburger Staatsoper herrscht beim Ballett zu Händels Messias oder bei der getanzten Matthäuspassion eine geradezu sakramentale Atmosphäre. Die Hamburger Kunsthalle veranstaltet schon seit Jahren interreligiöse Gesprächsreihen zu ausgewählten Bildern, die noch nicht einmal einen ausdrücklich religiösen Bezug aufweisen. Kunst findet in der Kirche und Kirche (in einem weiten Sinne) in den Einrichtungen des Kulturbetriebs statt. Dazu zählen auch die zahlreichen, von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen kulturellen Aktivitäten in den Stadtteilen Hamburgs. Die ständig um ihr Überleben ringende Stadtteilkultur ist häufig recht gut mit den Parochialgemeinden vernetzt, auch weil, vice versa, einige Kirchengemeinden mit ihren Kirchenchören, mit Theaterprojekten und gezielten Kooperationen mit den Schulen dafür sorgen, dass sich Menschen kulturell engagieren und auf diese Weise angeregt werden, Schnittstellen zwischen Kultur und Religion zu entdecken.

Im Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ wird unterstrichen, wie bedeutsam das weit gefächerte, qualitätsvolle und dazu zumeist noch frei zugängliche oder jedenfalls erschwingliche kulturelle Angebot der beiden großen Kirchen für unsere kulturelle Infrastruktur ist und was uns fehlen würde, wenn es, gerade in ländlichen Räumen, die kirchenmusikalischen Angebote, die Bibliotheken, die Kunst in den Kirchen und die Kirchengebäude selbst – um nur einen Ausschnitt zu nennen – nicht gäbe.[4] Es wird u.a. festgestellt, dass die Kirchen „mit ihren Aufwendungen für Kultur im Vergleich der öffentlichen Ebenen gleichauf mit den Kommunen und Ländern“ liegen.[5] Es wird hervorgehoben, dass die Einbeziehung des Ehrenamtes und die Förderung der Jugend (hier ist vor allem an die Musikangebote zu denken) besondere Charakteristika des kirchlichen Engagements seien, das als „öffentlich-nichtstaatlich“ eingeordnet wird. Angemahnt wird, und das können wir von Seiten der Kirche nur unterstreichen, die Notwendigkeit der staatlichen Mithilfe und gerade nicht des Rückzuges bei der Pflege der vielen Baudenkmäler und historischen Orgeln in kirchlichem Besitz. Hier sind die Länder gefordert. Ingesamt betont der Bericht das hohe Eigeninteresse des Staates an der Fortsetzung der kirchlichen Kulturarbeit im Sinne des Gemeinwohls. Und in der Regel versteht sich kirchliche Kulturarbeit, wo sie denn geschieht, auch in diesem gesellschaftsbezogenen Sinne als öffentliches Angebot von ästhetischer Erfahrung, von Sinn- und Identitätsstiftung und dabei zugleich als Ausdruck des Glaubens, als Dienst am Nächsten und als Beitrag zur Entwicklung einer humanen Kultur und Gesellschaft. [6]

Trotz diverser Aktivitäten und Bemühungen, dieses Wechselverhältnis von Kultur und Kirche zu pflegen, wird es vom Gros der Kirchengemeinden eher vernachlässigt und theologisch nicht wirklich reflektiert. „Kultur“ wird als mögliche Konkurrenz zur Wortverkündigung eher misstrauisch wahrgenommen und spielt z.B. auch in der Vikarsausbildung eine nur untergeordnete Rolle. Dass kulturelle Angebote in den Kirchen Sinn stiftend sein und den Horizont des Glaubens erweitern können, gehört nicht unbedingt zu den Grundüberzeugungen von Pastorinnen und Pastoren oder den Leitungsgremien der Kirchengemeinden.

Und so besteht durchaus die Gefahr, dass auf Grund der Marginalisierung von Kirche und christlicher Tradition in unserer Gesellschaft die Konzentration auf Spiritualität, Wortverkündigung, Katechese und Kasualien die kirchliche Kulturarbeit mehr und mehr verdrängt und damit eben auch wichtige Zugänge zu Religion und Glaube verbaut werden. Dabei ist neben den offenen kulturellen Angeboten (z.B. Kirchenmusik) und den Veranstaltungen, die sich dem Dialog von Kirche und Kultur in besonderer Weise widmen, auch an die tägliche pastorale Praxis zu denken. Ohne die beständige Auseinandersetzung mit den heute zumeist medienvermittelten gegenwartskulturellen Kontexten ist eine pastorale Praxis auf der Höhe der Zeit nicht zu leisten. Denn wie soll eine Predigt das sinnstiftende Potenzial biblischer Texte erschließen, wenn sie nicht in der Lage ist, das Gespräch mit den Sinnorientierungsangeboten der Gegenwartskultur (von der TV-Serie bis zum Kinofilm) zu führen, die die individuellen Sinnhorizonte prägen? Gegenwartskulturelle Zeitgenossenschaft war und ist vor diesem Hintergrund eine elementare Herausforderung heutiger kirchlicher und pastoraler Praxis. Relevanter geworden ist die Herausforderung des Kulturthemas heute auch darum, weil die ständig fortschreitende Medialisierung der Gesellschaft Kultur noch bedeutsamer für die Sozialisation und Lebensorientierung der Individuen macht.


Die Kirche im politischen Kontext

Die gegenwärtige (Sozial-) Politik trägt dazu bei, dass sich die soziale Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet. Hamburg zählt zu den reichsten Städten Europas, in der die Armutsrate aber ebenfalls eine der höchsten in Europa ist. Dies ist in vielen Kirchgemeinden zu spüren. So hat sich in den letzten Jahren ein erhöhter Bedarf an Beratung derer ergeben, die keine Arbeit finden und mit der Finanzierung ihres Lebensunterhalts sowie mit der Organisation ihres Alltags überfordert sind. Gesellschaftliche Teilhabe beschränkt sich aufgrund fehlender finanzieller Mittel für einen großen Teil der Hamburger Bevölkerung auf ein Minimum. Gleichzeitig sind viele städtische Beratungsangebote den Kürzungen im sozialen Bereich zum Opfer gefallen, so dass auf Kirchengemeinden als letztem Rettungsanker, vor allem im Bereich sozialer Brennpunkte, neue Herausforderungen zukommen. Die Zahl der Bittsteller wächst, ebenso auch die Zahl derjenigen, die mit den Regelsätzen staatlicher Förderung nicht mehr zurechtkommen. Die Schuldnerberatung des Diakonischen Werkes ist auf lange Sicht ausgebucht und die örtlichen Kirchengemeinden sind nicht in der Lage, umfassend Hilfe in den unterschiedlichen Notlagen zu bieten.

An zahlreichen Standorten wurden deshalb diakonische Projekte eingerichtet - vermehrt integriert in ein gemeinwesendiakonisches Konzept -, die auf diese Herausforderungen reagieren und in der Regel gut vernetzt sind mit anderen Einrichtungen im Quartier (Wilhelmsburg, Harburg, Iserbrook, Altona....). An zahlreichen Standorten wurden zudem Arbeitsformen etabliert, die sich den Herausforderungen mit einem gemeinwesendiakonischen Konzept stellen. In solchen Gemeinden wird nicht nur im Interesse der Notleidenden vernetzt gehandelt, sondern auch die sozialpolitische Dimension des Armutsproblems thematisiert und in die Arbeit im Stadtteil einbezogen.

Aber viele Kirchengemeinden ziehen sich angesichts dieser Überforderung und der fehlenden fachlichen Kompetenz oder der mangelnden personalen Ausstattung zurück auf die vermeintliche Kernkompetenz der Innerlichkeit. Heinrich Bedford-Strom reagierte in einem Vortrag auf dem EKD-Zukunftskongress 2009 in Kassel auf diese schleichende Entpolitisierung mit einer Kritik an der gegenwärtigen Definition des Begriffs „kirchliche Kernkompetenz“:

„Wenn von ‚Kernkompetenzen’ im EKD – Reformprozess die Rede ist, ist in der Regel Gottesdienst und Seelsorge gemeint. Das Wort ‚Gerechtigkeit’ fehlt merkwürdigerweise in den meisten Fällen. Und das obwohl ein charismatischer Mann, der für die Wurzeln und die Botschaft der Kirche zusammen mit einigen anderen Gestalten einmal sehr wichtig werden würde, vor bald 3000 Jahren das Volk Gottes mit leidenschaftlichen Worten auf die Kern- kompetenz Gerechtigkeit hingewiesen hat: ‚Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach’ (Amos 5,23f).“ [7]

Andererseits ist aber auch zu beobachten, dass die Identifizierung mit dem lokalen Quartier in jüngster Zeit wächst. Ob die Globalisierung Grund für die Entdeckung des Lokalen und damit auch des Überschaubaren ist, lässt sich vermuten, aber nur schwer verifizieren. Unterschiedliche Beobachtungen belegen jedenfalls den Trend zur Wiederentdeckung des Lokalen. So legt z.B. die moderne Stadtarchitektur seit neuestem verstärkt Wert auf soziale und kommunikative Aspekte, so erfreuen sich Straßenfeste enormer Beliebtheit, und wenn städtebauliche Veränderungen im Quartier vorgenommen werden, gehen selbst notorische Demonstrationsverweigerer auf die Straße. Ob Internationale Bau-Ausstellung 2013 (IBA) in Wilhelmsburg, der Bau der Elbphilharmonie, der IKEA-Neubau in Altona, die geplante und wieder verworfene Stadtbahn, die Startbahnverlängerung auf dem EADS-Airbus-Gelände in Finkenwerder, der Moschee Neubau in St. Georg, der Umbau der Rindermarkthalle in St. Pauli zu einer Music-Hall, die Verlegung einer Fernwärmetrasse vom umstrittenen Kohlekraftwerk Moorburg bis nach Altona usw. – an zahlreichen Orten Hamburgs treffen nicht nur kontroverse Positionen aufeinander, die manchmal kaum ins Gespräch miteinander finden, sondern in diesen Kontroversen der Großstadt spiegelt sich auch ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs wider: Verträgt das Quartier ein Großprojekt, dessen Auswirkungen weit über den Stadtteil hinausgehen und diesen überproportional belasten? Welche Auswirkungen haben Planungen, die zwar die wirtschaftliche Nachhaltigkeit im Blick haben (müssen), aber Umweltverträglichkeit (Bewahrung der Schöpfung) außer Acht lassen? Auch lukrative Investitionsprojekte der Kirche stoßen durchaus auf Proteste im Quartier.

Aufs Ganze gesehen ist seit einigen Jahren zu beobachten, dass Bürgerinnen und Bürger sich an vielen Orten der Stadt engagieren und sich in aktuelle Fragen der Stadtentwicklung mit eigenen Ideen und Konzepten einmischen. In Hamburg hat sich im Sommer 2009 unter dem Motto „Recht auf Stadt" (RaS) ein ganzes Netzwerk mit einer eigenen Homepage gebildet, dem heute 25 Hamburger Initiativen angehören, die sich, so liest man auf der Homepage, „für bezahlbare Mieten, die Erhaltung von öffentlichen Grünflächen und eine wirklich demokratische Stadt einsetzen; für das Recht auf Stadt für alle BewohnerInnen und gegen Gentrification und neoliberale Stadtentwicklung“.

Viele dieser Kontroversen werden lokal diskutiert (oder sollten lokal diskutiert werden), auch wenn sie nicht allein das Quartier betreffen. In der Regel wächst durch die unmittelbare Betroffenheit ein Bewusstsein für den größeren Kontext, in das dieses oder jenes Projekt eingebunden ist. An vielen Orten sind Hamburgs Kirchengemeinden Teil dieses Prozesses, oft zunächst allein deswegen, weil sie im Stadtteil die einzige Institution mit dem für solche Prozesse notwendigen Raumangebot sind. Dass Kirchengemeinden, Kirchenkreise oder auch nicht-gemeindliche Dienste aktiv einen solchen Diskussionsprozess anzetteln, ist eher selten zu beobachten. Deshalb haben Kirche und Diakonie mit der Wiederbelebung des gemeinwesenorientierten Handelns in Form von Gemeinwesendiakonie auch schon reagiert.[8]

Dennoch ist die Kirche auf gemeindlicher wie nichtgemeindlicher Ebene herausgefordert, sich die inhaltliche Kompetenz für die Wahrnehmung der Kontexte ihrer Arbeit wieder neu zu erschließen. Zu den Kernkompetenzen kirchlicher Arbeit würde also auch Kontextkompetenz gehören, die Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und die gesellschaftspolitischen Herauforderungen der eigenen Kontexte wahrzunehmen. Das bedeutet u.a., im Sinne der biblischen Botschaft Partei zu ergreifen für all diejenigen, die den Anforderungen des globalisierten Kapitalismus und dessen Folgen nicht gewachsen sind – aus welchen Gründen auch immer. Die Verantwortung für das Gemeinwesen erfordert klare politische Stellungnahmen aus dem Geist der Bibel heraus – auch dann, wenn die verfasste Kirche selbst die eingeklagten Maximen eines gesellschaftlichen Lebens in Gerechtigkeit und sozialem Frieden nicht immer verwirklichen kann. Biblische Weisheit wird immer gegenwärtige Zustände und Strukturen hinterfragen müssen, auch innerhalb der Kirche.

Dabei wäre gemeinsames Handeln sinnvoll. Wir sind uns bewusst, dass die evangelisch-lutherische Kirche sich von der römisch-katholischen unter anderem dadurch unterscheidet, dass sie eine allgemein verbindliche Lehrmeinung nicht kennt. Pluralität gehört zu einer synodal verfassten Kirche des Priestertums aller Getauften unverzichtbar dazu. Dennoch sollten Bischöfe und Bischöfinnen, Pröpstinnen und Pröpste sowie die einzelnen Synoden mehr Wert auf inhaltliche Stellungnahmen zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen legen und verstärkt die lokalen Einrichtungen ermutigen, sich einzumischen, wann immer die Lebensqualität im Quartier und in der Stadt gefährdet ist, soziale Schieflagen entstehen oder die Schöpfung bedroht ist. Dass dabei die Kirche Gefahr läuft, sich in Widersprüche zu verwickeln, ist unvermeidlich und sollte sie nicht von notwendiger Entschiedenheit abhalten. Besser widersprüchlich und entschieden, als korrekt, aber profil- und wirkungslos.

„Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“ (Spr 31,8) – wäre eine Maxime, die der Nordkirche gut stünde.

Anmerkungen

[1] H. Cox, Religion in the Secular City: Toward a Postmodern Theology, New York 1985.

[2] vgl. W. Grünberg u.a. (Hg.), Kirche in der Stadt, Bde. 1-17, Hamburg/Berlin, 1990-2010.

[3] EKD-Texte 93, Gott in der Stadt. Perspektiven evangelischer Kirche in der Stadt, Hannover2007, S. 28.

[4] Deutscher Bundestag (Hg.), Kultur in Deutschland. Schlussbericht der Enquete- Kommission des Deutschen Bundestages, Regensburg 2008.

[5] A.a.O., 208.

[6] Vgl. Jörg Herrmann, Wechselwirkungen. Zum Verhältnis von Kirche und Kultur, in: Nordelbische Stimmen, 11/2008, 4-7.

[7] Heinrich Bedford-Strohm, Quartiersarbeit in Kirche und Diakonie. Vortrag beim EKD-Zukunftsprozess am 25.9. 2009 in Kassel, gemeinwesen-diakonie.de/pdf/Bedfort-Strohm-Vortrag.pdf (7.2.2012).

[8] vgl. dazu den Bericht der AG Gemeinwesendiakonie und Soziale Stadt für die Koordinierungskommission Hamburg, September 2011 und: Kirche mittendrin - Kriterien zum Aufbau von Gemeinwesendiakonie-Projekten, Diakonisches Werk der Ev. Kirche in Deutschland e.V., 2009

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/79/nek1.htm
© Jörg Herrmann u.a., 2012