resounding natural organic matter

Eine Installation von Vera Doerk in der St. Johanniskirche Hamburg

Susanne Geese

Kann Musik real existierende, visuell wahrnehmbare Bilder produzieren? Diese Frage mag sich schon so mancher Musiker oder Zuhörer gestellt haben, der sich intensiv einem akustischen Erlebnis in aktiver oder passiver Weise gewidmet hat. Nicht die bildlichen Assoziationen sind gemeint, die dabei im Kopf entstehen, und auch nicht die vielfältigen optischen Reize, die ein Computerprogramm erzeugt, wenn Musik rezipiert wird. Nein, wir sprechen von solchen Eindrücken, die kraft eines künstlerischen Objektes oder einer Inszenierung zu leben beginnen, die in einem Raum durch den direkten Einfluss der Töne visuell sichtbar werden und möglicherweise einen durch Musik ausgelösten, gestalterischen Veränderungsprozess durchlaufen.

Vera Doerk, Musikerin und Architektin, geht in ihrer künstlerischen Arbeit seit längerem der Frage nach, wie sich über die Inszenierung von Musik Räume abbilden und visuell verändern lassen. Die Professorin für Mediale Raumgestaltung an der Hochschule AMD in Hamburg, hat in ihren bisherigen Arbeiten meist hybride Raumkonstellationen entwickelt, in denen sie an der Schnittstelle zwischen Architektur, Kunst und neuen Technologien immer überraschende und faszinierende Installationen geschaffen hat. In ihrem neuen Werk, welches sie für die Auftaktveranstaltung des TONALI Wettbewerbs 2012 inszeniert hat, geht sie diesen entscheidenden Schritt weiter, indem sie die Effizienz eines musikalischen Stückes, in diesem Fall von keinem geringeren als dem estnischen Komponisten Arvo Pärt, in ihre Installation eingebunden und diese zum maßgeblichen Motor der Modifizierungen in der Gestaltung ihres Raumerlebnisses genutzt hat.

Aber auch der von TONALI ausgetragene Wettbewerb für junge Instrumentalisten, in dessen Rahmen Vera Doerk ihre Installation vorgestellt hat, hat seine Auswirkungen auf die Form der Gestaltung des Werkes. Der 2009 durch die Cellisten Amadeus Templeton und Boris Matchin ins Leben gerufene Kontest hat mittlerweile einen festen Platz im Hamburger Musikleben. Er bietet jungen Musikern eine Plattform, sich über die Teilnahme an dem hochklassigen Wettbewerb auf eine Solo-Karriere vorzubereiten. Darüberhinaus veranstaltet TONALI einen Schülerwettbewerb, um gleichzeitig die Akzeptanz für klassische und zeitgenössische Musik innerhalb einer jungen Zuhörerschaft zu sensibilisieren und ein zukünftiges Publikum zu schaffen. Im jahresbedingten Wechsel stehen Geige, Piano oder Cello spielende junge Musiker und Musikerinnen im Fokus des Wettbewerbs. 2012 ist das Jahr der Cellisten, und damit entsteht auch die Idee von Doerk, mit einem überdimensionierten räumlichen Instrument wie dem Cello ihrer Installation eine Form zu geben, die über musikalisch-auditive Strukturen in Bewegung gerät und Bilder erzeugt.

Dass die Vorstellung bei den Initiatoren des Festivals auf Begeisterung stieß , diesen jungen Wettbewerb mit einer außergewöhnlichen Rauminstallation zu verbinden, die das musikalische Erleben der Zuhörerschaft um ein visuelles Erlebnis bereichern sollte, versteht sich von selbst. Hier trafen sich Gleichgesinnte aus verschiedenen Disziplinen auf der Suche nach einem Gesamtkunstwerk.

Bei der Frage, die Inszenierung entweder bei der Schlussveranstaltung und Preisverleihung in der Hamburger Laeisz-Halle oder aber bei der Auftaktveranstaltung in der Johanniskirche in Harvestehude zu zeigen , entscheidet sich die Künstlerin intuitiv für den Sakralraum.

Die Anlage und Gestaltung dieser beeindruckenden neogotischen Kirche, die 1880-1882 von Wilhelm Hauers, einem der Baumeister des Hamburger Rathauses, errichtet wurde, entspricht dem klassischen Bild eines Kirchenbaus norddeutschen Ursprungs. Aber der Backsteinrohbau zeigt in der Konzeption der Ausrichtung eines traditionellen Langhauses mit dem Chorraum eine Verschmelzung beider Elemente durch die Erweiterung des Querschiffes hin zu einem Zentralraum, der seinerzeit als Ausdruck einer modernen protestantischen Kirche galt.

Eben diese räumliche Weite prädestiniert die Kirche für Aufführungen aller Art, die die Sichtbarkeit der jeweiligen Protagonisten unterstreicht.

Ein Ort, der für die Arbeit von Vera Doerk in der räumlichen Nähe zu den Musikern und dem Orchester erstrangig erscheint. Bei der Besichtigung des Kirchenraumes konkretisiert sich die Idee der Künstlerin.

Warum sie die St. Johanniskirche der Musikhalle vorgezogen hat, erklärt Doerk wie folgt: „Der Kirchenraum erschien mir für die Installation ideal, da er in der Höhe und Würde eine Intensität ausstrahlt, die es erlaubt, sich auf seine Sinne zu konzentrieren“.

Die Grundidee der Installation ist so einfach wie betörend. Drei überdimensional wirkende, gespannte Saiten werden vom Boden des Chores bis zur Decke der Kuppel gespannt und ‚unterbrochen‘ von je einer Form eines wiederum überdimensionalen Tropfens, in dessen Inneren sich ein Gefäss befindet. Darin hat Doerk unterschiedliche Materien angeordnet, die sich vom menschlichen Organismus herleiten: Blut (rote Flüssigkeit), Haar (Federn), Haut (Mehl). Diese Repräsentanzen des Körpers lassen sich über die Intensität der Musik in Bewegung bringen. Ein Performer wie in diesem Fall die Cellistin Saerom Park Foucher kann durch die Berührung der Saiten im Fluss mit der Musik die Bildkompositionen initiieren und beeinflussen: Das ‚Blut‘ beginnt zu blubbern, die ‚Haut‘ ist zerfurcht in Risse und Falten, die ‚Haare‘ werden ‚verweht‘.

 Die Installation wird zu einem weiteren Instrument, das an der Schnittstelle des musikalischen Ausdrucks in eine Bewegung der Materie überführt wird und dadurch ein optisches Erleben ermöglicht. Die durch die Berührung veranlasste Krafteinwirkung auf die Materie werden über Kamera aufgenommen und auf die Kirchenkuppel projiziert.

Gleichzeitig sind die den Tropfen bildenden Plexiglas-Elemente von LED-Leuchten umspannt, so dass der Anblick dieser transparent leuchtenden Objekte im dunklen Chorraum wie feierliches Sternenfunkeln am Firmament wirkt. Die akustische Erfahrung erfährt so durch den visuellen Reiz ihre Vollendung.

Vermutlich wird sich schon mancher Leser gefragt haben, warum Doerk für ihre Arbeit drei statt der vier realen Saiten eines Cellos verwendet hat.

Das ergab sich vor allem durch die Wahl des Musikers und seiner Stücke, welche Vera Doerk für diese Arbeit so inspirierend empfunden hat. Die minimalistischen Kompositionen von Arvo Pärt streben in ihrem Ausdruck nach ebensolcher Klarheit und Einfachheit, wie sie in der Installation der Künstlerin umgesetzt wurde. Für Pärt spielt der selbst entwickelte Tintinnabuli-Stil eine wichtige Rolle. Seine Kompositionen ergeben sich aus dem Zusammenspiel der sogenannten T-Stimme und der Melodiestimme. Die T-Stimme oder Tintinnabuli-Stimme spielt dabei durchgängig die drei Töne eines Dreiklanges, während die Melodiestimme alle Töne einer Tonleiter umfasst.

Im musikalischen, oft religiös motivierten Ausdruck seiner Werke lässt der als einer der bedeutendsten modernen Komponisten geltende Este oft die Töne einzeln zur Wirkung kommen, um, wie er selbst sagt, ihre Schönheit durch eine einfache rhythmischen Harmonie zu unterstreichen. Eben diese Zuordnung zu einer der Stimmen entspricht Vera Doerks Intention, sich auf das ‚Klingen‘ einer Saite zu konzentrieren, und damit die Visualisierung nur einer der drei Materien zu ermöglichen. Die Komposition ‚Fratres‘ in A-Moll für Streichorchester und Schlagzeug, an dem Abend von den Musikern des Ensembles Resonanz gespielt eingeleitet durch eine Elektro- Improvisation von Christopher Bender, nimmt durch ihren anfangs monoton wirkenden Verlauf an Differenzialität zu und bildet mit den sich in der Installation abwechselnden Materien ein kongeniales Zusammenspiel der ‚natural organic matters‘ .

Vera Doerk schafft mit ihrer Inszenierung eine bildnerische Umgebung für die Musik Pärts, die den Zuhörer zum Betrachter und den Betrachter zum Zuhörer werden lässt. Ein Zusammenspiel der Sinne, das seinesgleichen sucht.

In der Installations- und Raumkunst müssen sich manchmal die inhaltlichen Komponenten von Werken an den realen örtlichen Bedingungen messen lassen, um die Durchführung des Aufbaus zu planen. Bei der Besichtigung vor Ort entdeckten Künstlerin und Begleiter drei Löcher in der Kirchenkuppel, die weit genug voneinander weg und damit prädestiniert waren, als Befestigung des oberen Endes der Saiten zu dienen. Eine Tatsache, die der Logistik des Aufbaus eine vorteilhafte Richtung gab, konnte man doch so aufwendigere Maßnahmen der ‚Saitenspannung‘ verzichten.

Das nächste Ziel ihrer künstlerischen Arbeit steht für Vera Doerk schon jetzt fest. Sie möchte die haptische Ebene in ihrer Kunst für das Publikum öffnen. Über die interaktive Rolle sollen die ‚betrachtenden Zuhörer‘ selbst Einfluss nehmen können im Fluss der akustischen mit der visuellen Gestaltung. Ausgehend von eigenen Bewegungen sollen sie zu Instrumentalspielern einer medialen Installation werden.

Man darf gespannt sein.


Alle Fotografien in diesem Beitrag sind von Hinrich Franck

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/79/sg1.htm
© Susanne Geese, 2012