„Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter“

Eine Collage

Andreas Mertin

Solidarität aller Menschen gegen den Tod

In einer Reflexion anlässlich des Todes des Geschichtsphilosophen und Soziologen Siegfried Kracauer (1889-1966) schrieb der Künstler und Kunstvermittler Bazon Brock im Jahr 1967:

„Diese klägliche Bereitschaft, die Leiche zu akzeptieren, wenn sie nun einmal da ist; dieses verdammte Eingeständnis der natürlichen Determination: das sei der Lauf der Welt. Die Natur lassen wir da "zu ihrem Recht kommen" als das Stückchen Dreck, als die Handvoll zermahlenen Staubs. Stoffwechsel heißt man diese Schweinerei, mal in den Nachttopf, mal in die Urne. Ein Geschäftchen machen, der Tod ist ein schweres Geschäft. Schwer sagt man, aber doch unabänderlich. Jedem seine Zeit zum guten Maß. Am Ende sei doch alles gleich, niemand könne übers Grab hinaus. Wenn das auch in finsteren Zeiten als Drohung der Religion gegen die Herrschaften manchen Sinn gehabt haben mag, so hat das längst seinen Sinn nicht mehr, ist nicht mehr rationalisierbar, es sei denn als Drohung der Herrschaften gegen die Abschaffung des Todes. Denn der Tod muß abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muß aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter an der Solidarität aller Menschen gegen den Tod. Wer sich hinreißen läßt aus noch so verständlichen Gründen, aus Anlaß des Todes Siegfried Kracauers ein rührendes Wort zu sprechen, eine Erklärung anzubieten, die Taten aufzuwiegen, die Existenz als erfüllte zu beschreiben, der entehrt ihn, läßt ihn nicht besser als die Mörder in die Kadaververwertungsanstalt abschleppen. Wer den Firlefanz, die Verschleierungen, die Riten der Feierlichkeit an Grabstätten mitmacht, ohne die Schamanen zu ohrfeigen, dürfte ohne Erinnerungen leben und sich gleich mit einpacken lassen“.[1]

Diese Sätze von Bazon Brock möchte ich so unkommentiert stehen lassen. Sie kamen mir in den Sinn, als ich vom Tod von Benita Joswig hörte. Benita Joswig (1965-2012) hat in den letzten Jahren zwei Beiträge als Künstlerin und Autorin zu tà katoptrizómena beigesteuert. Einmal in der Festschrift für Dietrich Zilleßen in Heft 45 Hängematte. Eine kleine Schaukelsequenz aus einem besonderen Kirchturm und dann im Heft 72 Grasbüschel, eine Doppelarbeit mit Reflexionen zum Thema Krankheit und Gesundheit mit einer Folge von Zeichnungen in der Zusammenarbeit mit Barbara Bux, in der sie schon auf ihre eigene Krankheit Bezug nahm.

Zuletzt begegnet bin ich ihr, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, auf dem Studientag „Kunst und Religion“ der Theologischen Fakultät Heidelberg im November 2009, wo wir uns gegenseitig in unseren Workshops besuchten und sie mir von ihren Gesprächen mit Gefangenen während ihrer Arbeit für das Frauengefängnis Preungesheim berichtete.

Also an dieser Stelle - Bazon Brock folgend - keine vermittelnden Worte, keine Sinnsuche, keine Bilanz, wo doch nur der Abbruch einer Biographie zu konstatieren ist. Stattdessen eine Erinnerung an ein frühes Projekt von Benita Joswig, jenes Projekt, mit dem sie bekannt wurde und über das sie anschließend auch theoretisch–wissenschaftlich gearbeitet hat,[2] sowie eine Notiz zu einem anderen Projekt, mit dem ich in Berührung kam.

Benita Joswig: altäre, 1994

„Im Jahr 1994 hat Benita Joswig in Kassel in der damals noch nicht wieder aufgebauten Unterneustadt das Kunstprojekt altäre durchgeführt und darin ein öffentliches Gespräch über das Verhältnis von Tisch und Altar inszeniert. Aus privaten Haushalten wurden 102 Tische auf den so genannten Messeplatz gestellt, unter welchem sich Trümmer und Reste der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Unterneustadt verbergen. … Das Kunstprojekt begann in den Wohnungen und Häusern von Bürgern und Bürgerinnen mit einer De-Installation: In den Privaträumen entstanden in den Zimmern der Wohnungen und Häuser temporäre Leerstellen. Die geliehenen Tische hatten zwei Dinge gemeinsam: Sie kamen alle aus Privathaushalten, wurden täglich benutzt, und sie wurden von den Eigentümern als Altar bezeichnet. Es entstand eine unsichtbare Verbindung zwischen Häusern und Häusern: Dort, auf dem Messeplatz, wo seit dem 13. Jahrhundert bis 1943 Häuser standen, wurden für einen begrenzten Zeitraum – orientiert am Grundriss der Stadt - Tische bzw. Altäre aufgestellt. Vom Antiktisch bis zum Plastiktisch, nicht gedeckt, unter freiem Himmel wurde mit ihnen eine Auseinandersetzung sowohl mit dem Ort Messeplatz / Unterneustadt als auch die Frage nach dem Zusammenhang von Tisch und Altar öffentlich eröffnet. … Inhaltlich standen hinter dem Kunstprojekt Fragen nach Integration und Ausgrenzung (am Tisch / Altar) sowie Deutungen zur Macht der Erinnerung, die Interdependenz von Profanität und Sakralität als auch die Möglichkeit durch künstlerische Arbeiten den Themen von Verlust und Trauer öffentlich zu begegnen.“[3]

Dieses Projekt ist vor allem darin faszinierend, weil es die Deutungsabhängigkeit und Deutungsfähigkeit von Tischen in ihrem jeweiligen Kontext auf ebenso einfache wie überzeugende Weise aufweist. Das gerade macht Kunst aus. Joswig de-kontextualisiert die Tische aus ihrem werktäglichen Gebrauch und kontextualisiert sie neu, aber der neue Kontext ist Geschichte. Es geht um Inszenierung und Vergegenwärtigung. Wie muss ein Objekt gestaltet sein, damit wir es als Altar, als Tisch oder als Kunstobjekt wahrnehmen? Und lassen sich diese drei Wahrnehmungen miteinander verbinden? In der Gegenwart stellt sich daher vor allem die Frage, wie sich Kunst, Altar, Abendmahlstisch überhaupt in einem Objekt zusammenbringen lassen. Und die Beantwortung dieser Frage ist gar nicht einfach.

Parament 1998

Dass ich es hier mit einer Arbeit von Benita Joswig zu tun hatte, habe ich erst sehr viel später erfahren. 1997 hatte ich anlässlich der documenta eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst in der Martinskirche in Kassel kuratiert und war nicht zuletzt in der Gemeinde auf einige Widerstände gegen die zeitgenössische Kunst und vor allem gegen zeitgenössische Kunst im Kontext des Altars gestoßen. Vermutlich im Jahr 2000 besuchte ich dann die Martinskirche wieder im Blick auf die Vorbereitung der nächsten documenta-Begleitausstellung 2002. Dort stieß ich dann auf die Ergebnisse des Projektes „Paramente“ von Benita Joswig und Barbara Bux: „Wir wollten mit künstlerischen Mitteln visualisieren, was Paramente sind bzw. sein können und worin ihre Bedeutung für einen sakralen Raum liegen kann. Die formalen und inhaltlichen Bestandteile der Arbeit entwickelten sich aus drei wesentlichen Elementen des Paraments: Ort (Altar), Textil und Farbe.“[4] Und dazu entwickelten die beiden Künstlerinnen vier Inszenierungen des damaligen Altars, die auf die liturgischen Vorgaben Bezug nahmen, zugleich aber so ungewöhnlich waren, dass sie die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zogen. Während Paramente an sich ja in ästhetischer Perspektive oft außerordentlich abschreckend wirken, weil sie an Konventionalität kaum zu überbieten sind, war das Paramente-Projekt von Benita Joswig und Barbara Bux ganz anders geartet. Es zeigte überzeugend, wie viel künstlerisches Potential  in der Paramenten-Kunst liegen könnte.

Anmerkungen

[1]    http://www.bazonbrock.de/werke/detail/?id=579

[2]    Joswig, Benita (2003): Altäre. Gütersloh, Paderborn. Univ.

[3]    http://www.benita-joswig.de/altaere.htm

[4]    http://www.benita-joswig.de/paramente.htm

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/80/am417.htm
© Andreas Mertin, 2012