Herbst

Eine Predigt

Hans-Jürgen Benedict

Liebe Gemeinde,

ich begrüße Sie herzlich und freue mich, dass ich in ihrer schönen Kirche der Gottesdienst halten darf. Letzten Sonntag haben Sie das Herbstfest der Kirche, den Erntedanktag, gefeiert. Da stand der Dank an Gott für den Segen der Natur im Mittelpunkt. In diesem Gottesdienst gibt es noch einen kleinen Nachschlag. Die Jahreszeit Herbst selber soll im Zentrum stehen. Denn der Wechsel der Jahreszeiten mit dem sich ändernden Klima ist für den Glauben nicht ohne Bedeutung. Knapp lexikalisch ausgedrückt: Die klimatischen Unterschiede der Jahreszeiten beruhen auf der Neigung der Erdbahnebene gegen den Äquator. Was infolge des damit gegebenen unterschiedlich schrägen Einfalls der Sonnenstrahlen auf der Erde zu unterschiedlich langen Tagen und zu den unterschiedlichen Temperaturen führt, das ist für den seelischen Haushalt von uns Mitteleuropäern schon wichtig. Auch für unseren Glauben. Was bedeutet der Herbst für den Glauben? Die Bibel sagt dazu fast nichts.

Aber Gott hält sich ja glücklicherweise einige Poeten, die die Geheimnisse des Lebens und des Glaubens differenzierter ausdrücken können als wir oft trocken-papiernen Theologen. Auch die seelischen und emotionalen Fragen des Herbstes, die uns als Menschen betreffen. Wir schauen sozusagen auf die poetische Wetterkarte des Herbstes, hören in der Predigt theopoetische Herbstgedanken. Und morgen in meinem Vortrag kommen dann die Nordsee und ihre poetischen Herbststürme, die sie bei Heinrich Heine auslösten, dran. Wir beginnen den Gottesdienst im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Predigt

Liebe Gemeinde. Text Gn 8,20-22

Das Christentum ist im Orient entstanden und deswegen sind die vier Jahreszeiten nicht so prägend für die klimatisch-metereologischen Aussagen der Bibel. Zwei reichen in der Regel. “Solange die Erde steht“, sagt Gott nach der Sintflut, „sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ In der Bibel und bei den Theologen ist deswegen nicht so viel zum Herbst zu entdecken. Es gibt ein Herbst-, gleich Laubhütten- oder Erntefest im alten Israel, und: Ernte meint theologisch dann auch schon das nahende Gericht Gottes, das ist fast alles. Aber es gibt ja die Dichter, die uns auf den Herbst und was er für uns, für unsere Stimmung, für unseren Glauben bedeutet, einstimmen

Es ist unübersehbar: Der Herbst ist da, der Sommer endgültig vorbei, auch wenn wir noch den oder anderen spätsommerlichen Tag haben. Inzwischen haben wir uns auf den Herbst mit seinen Morgennebeln, stärkeren Winden und kürzeren Tagen eingestellt. „Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder und der Herbst beginnt. Rote Blätter fallen, graue Nebel wallen, kälter weht der Wind.“ So dichtete der Schweizer Johann Gaudenz von Salis-Seewis vor 200 Jahren und Reichardt vertonte es. Mit wenigen Strichen beschreibt er genau, was Herbstbeginn als kältere Jahreszeit meint. Aber dabei bleibt er nicht depressiv stehen, denn auf einmal wird es südlich-sinnlich, wenn er die Früchte des Sommers aufleuchten lässt. „Wie die volle Traube aus dem Rosenlaube purpurfarbig strahlt! Am Geländer reifen Pfirsiche mit Streifen rot und weiß bemalt.“ Es ist eigentlich ein Lied zur Wein- und Obsternte. „Flinke Träger springen und die Mädchen singen, alles jubelt froh! Bunte Bänder schweben zwischen hohen Reben auf dem Hut von Stroh.“ Wir sehen es vor uns und möchten dabei sein, bei diesem Erntefest an Rhein, Main oder Mosel. Aber auch in Hamburg wachsen hier und da noch Weinreben mit Trauben, in den Schrebergärten gibt es Pfirsiche am Spalier und viele Bäume hängen voll mit roten Äpfeln. Und in manchen Kleingartenvereinen wird ein Herbstfest gefeiert, wie im Lied. „Geige tönt und Flöte bei der Abendröte und im Mondesglanz“, nur „junge Winzerinnen winken und beginnen deutschen Ringeltanz“, das wird es nicht mehr geben. Falls junge Mädchen noch dabei sind, werden sie eher nach englischer oder deutscher Popmusik tanzen. So habe ich es einmal in einem Weindorf an der Mosel erlebt, eine heimische Popband spielte, hunderte standen auf den Tischen, tanzten und sangen die Schlager mit.

Weinlese und Obsternte sind die Frucht eines schönen Sommers. Aber auch des Generationenvertrags. So in dem Gedicht von Theodor Fontane. Herr Ribbeck von Ribbeck im Havelland.

Herr Ribbeck von Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: Junge, wiste ne Beer?
Und kam ein Mädel, so rief er: Lütt Dirn,
Kumm man röwer,ick hebb‘ ne Birn.

Liebe Gemeindeglieder, Sie wissen, wie die Geschichte weitergeht, der alte Ribbeck stirbt, der junge Herr aber ist knauserig, es gibt keine Birnen für die Kinder mehr. Doch der alte Ribbeck hat lebensklug vorgesorgt, er bat darum, dass man ihm eine Birne ins Grab legt, und nach drei Jahren schon ist ein Birnbaumsprössling da. Und dann heißt es:

Und die Jahre gehen wohl auf und ab
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet’s wieder weit und breit.
Und kommt ein Junge übern Kirchhof her,
So flüstert’s im Baume: Wiste ne Beer?
Und kommt ein Mädel, so flüstert’s: Lütt Dirn,
Komm man röwer, ick gew‘ di ne Birn.

Und das schöne Fazit, eine poetische Form dessen, was wir heute Generationenvertrag nennen, das mich wie das ganze Gedicht immer sehr anrührt(zumal ich letzten Sonntag meinen Enkel Felix in der Kirche zu Ribbeck taufte), lautet:

So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland

Aber auch die Hand Gottes. So sieht es der Großdichter Rilke, der den Gottesbezug in der Dichtung nicht vergisst. Herr, es ist Zeit- der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Fluren lass die Winde los./ Befiehl den letzten Früchten voll zu sein: gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Ist das ein Auftragsgedicht des Winzerverbandes von Mosel, Saar und Ruwer? Fast könnte man es so verstehen. Jedenfalls sind Dank an Gott und Bitte um das Unverfügbare ganz klassisch zusammengehalten. Sie richten sich an Gott, den Schöpfer und Erhalter, der hier als Garant des Naturzusammenhangs erscheint. Vieles kann der Mensch tun, Weinberge anlegen, sie hegen und pflegen, kurz gesagt kultivieren, aber die letzte Süße, das, was den Wein zu einem guten Jahrgang werden, das Obst gut schmecken lässt, das liegt nicht in seiner Macht. Der Wunsch um die letzten Sonnentage richtet sich deswegen an Gott, auch wenn wir wissen, dass das von Sonneneinfallwinkel und den Hoch und Tiefs über dem Atlantik abhängt, ob die Winzer an der Elbe bei Dresden oder an der Mosel diese Tage noch bekommen.

Übrigens: Dass der Sommer groß war, dem können wir nicht unbedingt zustimmen. Im Juli hat es zuviel geregnet. Doch dann Ende des Monats, rechtzeitig zu meinem Geburtstag und im August kamen noch schöne Tage, sogar die heißesten seit langem mit 35 Grad. Deswegen sind die Wein- und Obstbauern sind auch einigermaßen zufrieden. Und ich muss auch sagen, ich habe neben schlechten auch viele schöne Tage an und auf der Alster, an Nord- und Ostsee erlebt, so dass ich überhaupt nicht klagen will. Eher loben, denn die vielen verschiedenen Wetterstimmungen auch im Sommer - Wolken, Wind, Regen, Sturm und Gewitter, machen doch den Reiz des Naturschauspiels aus, beleben uns seelisch, korrespondieren mit den Höhen und Tiefen unserer Stimmungen. Wenn eine Wolkenwand sich aufbaut ,ein Regenschauer über das Wattenmeer oder die Außenalster jagt, das Wasser zu Wellen peitscht, ja das gibt es nicht nur auf Sylt, auch wir Hamburger kennen das. Und wie es danach aufklart, erst hier und dort ein Stück Blau und dann der blank geputzte Himmel und Sonnenstrahlen auf spiegelndem Wasser, was gibt es Schöneres! Wenn die Sommermonate ein einziger Tag mit blauem Himmel und immer 35 Grad im Schatten sind, das ist doch auch langweilig. Führt nur zu Waldbränden und Wasserknappheit. Also der Sommer war nicht ganz groß, aber auch nicht schlecht und jetzt ist der Herbst da.

Dichter können wunderbare Herbstbilder zeichnen. Eines stammt von dem Dramatiker Friedrich Hebbel aus Wesselburen in Dithmarschen, der in seiner von Armut bestimmten Kindheit allzu fromm und streng erzogen wurde und als Erwachsener seinen Glauben verlor. Er spricht nicht von Gott sondern von der Feier der Natur.

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah,
die Luft ist still, als atmete man kaum
 und dennoch fallen raschelnd fern und nah
die schönsten Früchte ab von jedem Baum.
O stört sie nicht die Feier der Natur,
dies ist die Lese, die sie selber hält,
 denn heute löst sich von den Zweigen nur,
was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.

Hebbel sieht im Naturgeschehen des Fallens der Früchte eine ihm angelegte Erfüllung. Der Appell geht nicht an Gott oder die Natur sondern an denjenigen, der diesen idealen Herbsttag erlebt. Er soll nicht eingreifen sondern geschehen lassen.

Ich weiß noch, wie ich vor langer Zeit, 1986, mit meiner schwangeren Frau Urlaub machte im Osnabrücker Land. Es war ein stiller Herbsttag, wir machten auf einem Spaziergang Rast auf einer Obstwiese und mir fiel das Gedicht von Hebbel ein. Ich fing an es vorzutragen und in diesem Augenblick raste ein Nato-Düsenjäger im Tiefflug vorbei. Ein moderner Kommentar zu dem “O stört sie nicht, die Feier der Natur.“ Und es ist vielleicht an dieser Stelle angebracht, an die Klima-Konferenzen zu erinnern und an den G 8-Gipfel 2007 in Heiligendamm, gleichzeitig war Evangel. Kirchentag in Köln, als überall in Deutschland die Glocken läuteten, auch die von St. Severin, um die Mächtigen der Welt daran zu mahnen, wie wichtig eine Änderung der Klimapolitik ist. Nicht geschönte Statements forderten die Demonstranten und die Glocken sondern endlich energische Taten, um den CO 2 Ausstoß zu verringern. Weniger Auto fahren, nicht so häufig fliegen und so weiter. Wir kennen die Forderungen, müssen uns selbst fragen, ob wir zu ihrer Einlösung beitragen. Wir Europäer und Nordamerikaner besonders, die die Hauptverursacher sind. Ist uns neben der Verhinderung anderer schlimmer Entwicklungen auch der Wechsel der Jahreszeiten wichtig, sodass wir weiter Frühling, Sommer, Herbst und Winter unterscheiden und erleben können. Wir wissen genau, trotz Schöpfungsglauben wie Naturfrömmigkeit sind wir es, die das ökologische Gleichgewicht zerstört haben. Können sie uns auch Kraft geben, Selbstbegrenzung zu üben?

Der Herbst ist die Zeit der Ernte, aber auch die Zeit des Verblühens, des Blätterfallens. Die Natur stirbt und bereitet sich auf den Winterschlaf vor. Die Buntfärbung der grünen Blätter entsteht durch den Abbau des Chlorophylls und sorgt für eine letzte Farbenpracht, bis sie dann braun werden und abfallen. Dieser Laubfall hat viele Dichter zum Nachdenken über die Vergänglichkeit und das Sterben angeregt.

Das berühmteste Gedicht stammt von Rilke Die Blätter fallen, sie fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten, sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Rilke gelingt es, das biologische Geschehen in eine transzendierende tröstliche Perspektive zu rücken. Er versieht den biologischen Blätterfall mit dem „Geschmack für das Unendliche“, so hat Schleiermacher das religiöse Gefühl genannt – die Blätter fallen eben wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten. Aber in dem Fallen ist auch ein Widerstand, eine Verneinung. Das Lebendige wehrt sich gegen den Fall, den Verfall. Dann wird gut alttestamentlich das Vergehen als allgemeines Schicksal gedeutet, wie in den Vergänglichkeitspsalmen, etwa dem berühmten Ps 90: Wir alle fallen, diese Hand da fällt und sieh dir andre an, es ist in allen. Ja, wir sind alle vergänglich wie das fallende Laub.

Der Schlussvers aber hebt an mit einem Und doch, mit dem Einspruch, dem Trost des Glaubens. Dort die fallende Hand von Jedermann, hier ist Einer, der dies Fallen unendlich sanft ins einen Händen hält. Zärtlicher kann nicht getröstet und Hoffnung wach gehalten werden. Hoffnung auf das Hineinsterben in Gott. Das Leben, das hier mit Gott beginnt, hört im Tode nicht auf, das ist die Hoffnung des Glaubens. Nicht umsonst ist dieser Vers auf vielen Todesanzeigen zu lesen.

Andere deuten das als Vertröstung, als Illusion. Sie sehen den Trost genau umgekehrt in der Todesverfallenheit auch der Natur. „Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume“, mit dieser bekannt gewordenen Zeile hebt Günter Eichs Gedicht „Ende eines Sommers“ an. Damit meint er aber keine Naturverherrlichung sondern die Tatsache, dass die Bäume am Sterben teilhaben, so die nächste Zeile. Die Blätter fallen, die Pfirsiche sind geerntet, der Vogelzug wirft seinen Schatten über das Blattwerk. Zwar hofft der Dichter noch wie in alten Zeiten auf die Entschlüsselung des Vogelflugs. Deswegen mahnt er Geduld an. Aber das Ende ist unausweichlich. Unter Zunge schmeckt er den Pfennig, das Fährgeld für Charon, den Fährmann ins Totenreich, das man nach antikem Brauch den Toten unter die Zunge legte. Nichts bleibt als in schwermütiger Geduld das Ende abzuwarten. Dagegen setzt der christliche Glaube die geduldige Hoffnung auf die Zukunft Gottes, die den Gläubigen die Fülle bringt.

Ein letztes Motiv will ich nennen, die Assoziation von Herbst und Einsamkeit. Bei Nietzsche heißt es Die Krähen schrein und ziehen schwirren Flugs zur Stadt, bald wird es schnein, - Wohl dem der jetzt noch Heimat hat, im Schlussvers verändert zu Weh dem, der keine Heimat hat. Bei Rilke in den viel parodierten Versen Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr, wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,/wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben/und wird in den Alleen hin und her /unruhig wandern, wenn die Blätter treiben. Das changiert zwischen realer Wohnungslosigkeit und sozialer Isolation. Gegen die Not der Wohnungslosen helfen Kirchenkaten und Winternotquartiere. Gegen die Not der sozial Einsamen der aufmerksame Blick, die Aufnahme in einen geselligen Kreis, die sich entwickelnde Freundschaft. Der Herbst der Alleinlebenden. Wenn es früher dunkel wird und die langen Abende einsam vor dem Fernseher beginnen. Die jüngeren und mittelalten Singles gehen in Kneipen, auf den Kiez, in lebendige Stadt-Quartiere. Was die Sommerzeit, in der man draußen sitzen kann und so teil hat am geselligen Leben, verdeckt, wird jetzt deutlich – die Einsamkeit gerade älterer Menschen. Wenn es früher dunkel wird, die Blätter treiben. Der anonyme Christus aus dem Gleichnis vom Weltgericht begegnet nicht nur im Hungrigen, Kranken, Fremden und Gefangenen sondern gerade auch im Einsamen. So könnte man in das Gleichnis Jesu vom Weltgericht Mt 25 die Zeile einfügen: „Ich bin einsam gewesen und ihr habt mich besucht.“ Das Schwinden des Lichts im Herbst, das frühe Dunkel ist ein Nachteil der nördlichen Breiten. Umso wichtiger, dass Christus, das Licht, ganz undramatisch, klein im aufmerksamer Geselligkeit aufscheint, die den Einsamen aufsucht : das kann im Hauskreis sein, in der Selbsthilfegruppe, im Sportverein, in der Kirchengemeinde und sogar in einer Kneipe.

Auch zeitgenössische Dichter denken an den Herbst, so in einem saloppen Herbst-Gedicht der vor drei Jahren verstorbene Hamburger Poet Peter Rühmkorf. Er war ein Sprachartist, immer pendelnd zwischen Freund Hain und Heine auf seinem artistischen Hochseil, so auch in diesem Gedicht. Er ist nicht wehleidig, nicht sentimental, nicht an der Grenze zum Kitschigen, wenn er in „Ausfahrt Raststätte Ostetal“ das Kommen des Herbstes bedenkt. Der Dichter fährt auf der Autobahn von Hamburg nach Bremen, er hört Radio.

Mais – noch mal und letztes Grün so rührend, ach so rührend grün
wenn die Dohlen federführend schon den Schlussstrich ziehn.
Sonne spreizt sich zwischen Wolkenbarren noch als Kreuzsymbol -
Einfach in ein schönes Licht zu starren tut dem Auge wohl
Bald schon sechsuhrzart und dünngefäßig ist der Abend über dich gestülpt.
Langsam wirst du müde, ungleichmäßig, bis der letzte Lichtblick auch vergilbt.
Hansa Servicewellen-Weisen, Simon und Garfunkel bong Utopia daheim/zuhaus -
Leider kurzer Tag und langes Dunkel, darauf geht es aus.

Soweit die Zustandsbeschreibung eines herbstlichen Sonnenuntergangs Ende der 70er Jahre. Wir werden uns darin wiedererkennen. Und jetzt aber, was tun. Elegische Trauer oder Zustimmung? Hören wir den Schluss:

Nichts bedauern, nichts bewahren, nichts bewegen wollen-groß, du lernst es
BRAHMS dreh auf! f-moll! Nichts so schön wie ohne Eile abzufahren,
heitern Sinnes, allen Ernstes, unterschiedlicher Gedanken voll.

Das gefällt mir. Das halte ich für einen guten Realismus, für eine gelungene Aussöhnung mit den Grenzen des Lebens, an die der beginnende Herbst erinnert. Es muss nicht Brahms Klavierquintett f-moll sein, kann auch Mozarts Klavierkonzert in A Dur sein, eine Suite von Johann Sebastian Bach oder auch ein Song der Beatles, von Groenemeyer oder Norah Jones.

Ganz zum Schluss: auch den Dank kann der heutige Mensch wieder durch die Dichter lernen. Das lehrt ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger, das zum Erntedankfest und zum Herbst passt. Es nennt Gott nicht, „Empfänger unbekannt- Retour a l‘expediteur“ heißt es – ist aber so etwas wie ein moderner Dankpsalm:

Vielen Dank für die Wolken
Vielen Dank für das wohltemperierte Klavier
Und warum nicht, für die warmen Winterstiefel
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
Und für allerhand andere verborgene Organe
Für die Luft und natürlich für den Bordeaux(…)

Vielen Dank für die vier Jahreszeiten
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller
Gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
Für den Schlaf ganz besonders,
Und damit ich es nicht vergesse,
Für den Anfang und das Ende
Und die paar Minuten dazwischen inständigen Dank,
meinet wegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.

Wir aber singen jetzt Wer nur den lieben Gott lässt walten, singen es bitte beschwingt und nachdenklich zugleich. Amen.


PS: Hölderlin, Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See …

Weh mir wo nehm ich, wenn
Es Winter ist die Blumen und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?.
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt. Im Winde
Klirren die Fahnen

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/80/hjb12.htm
© Hans Jürgen Benedict, 2012