„Gott gibt es. Wie wäre ich sonst zu zwei Leben gekommen?“

Gott als Spieler in Nadolnys Roman „Weitlings Sommerfrische“

Hans-Jürgen Benedict

Greift Gott in unser Leben ein? Hängen Kehrtwendungen mit dem Wirken Gottes zusammen? Gibt er uns eine zweite Chance? In Sten Nadolnys Roman Weitlings Sommerfrische macht der pensionierte kinderlose Richter Wilhelm Weitling aus Berlin Urlaub in seinem Ferienhaus am Chiemsee. Es ist das Haus seiner Kindheit. Er ist allein, seine Frau, die einen kleinen Laden für Geschenkkartons betreibt, ist noch in Berlin und will morgen nachkommen. Er liest die Tageszeitung und will dann die Arbeit an seinem Buch wiederaufnehmen - es hat den Arbeitstitel „Ursprung und Zukunft des Rechtsempfindens“. Darin will er seine philosophischen und religiösen Gedankengänge mit den Erfahrungen als Jurist verbinden. Denn Weitling bezeichnet sich als religiösen Menschen. „Spes divina“ schwebt ihm als Titel vor. Doch am frühen Nachmittag entschließt er sich, es herrscht günstiger Ostwind, sein Segelboot, eine sogenannte Chiemseeplätte, aus dem Bootshaus zu holen und eine Tour bis zur Fraueninsel zu unternehmen. So wie er das schon als Junge getan hatte. Ihm fällt ein, wie er als sechszehnjähriger mit einem geliehenen Boot im Sturm einen Segel-Unfall gehabt hatte und verletzt ans Ostufer getrieben worden war. Er kommt ins Sinnieren, rammt fast ein anderes Boot. Was hätte er in seinem Leben anders machen können, müssen? Eine Wetterwand baut sich drohend auf. Die roten Lichter am Ufer blinken hektisch Alarm. Noch herrscht Flaute, er ruft die Wasserwacht an, refft das Segel und rudert ans Ufer, doch dann bricht der Sturm los. Sein Boot kentert. Er kommt knapp mit dem Leben davon, muss aber feststellen, dass ihn der Bootsunfall fünfzig Jahre zurück in die Vergangenheit zurückversetzt hat - in seine Zeit als sechzehnjähriger Schüler. Nachdenklich, neugierig und verwundert begleitet er den, der er einmal war, den jungen Willy, durch Schule und Freizeit. In dieser kurzweilig erzählten Retrospektive, Leser um die 70 werden sich in vielen kulturellen Einzelheiten des Schulalltags wiedererkennen können, spielt die religiöse Frage eine wichtige Rolle.

Zunächst - wie er als Sechszehnjähriger ans Ufer getrieben wird und der Vater, ein bekannter Schriftsteller, sagt: „So, alles vorbei, Gott sei Dank.“ Das verwundert ihn, denn sonst sagte er immer, wenn er Gottes Namen aussprach: „Wenn es Gott gäbe.“ Sollte Gott bei dieser Rettung die Hand im Spiel gehabt haben? „Er hat. Schon meine Verwandlung ist auf keine andere Weise zu erklären“(44), sagt der wundersam auf seine Jugend Zurückblickende. Dann ein Schulvormittag im Traunsteiner Gymnasium – es werden die einzelnen Fächer und die sie unterrichtenden Lehrer betrachtet. Latein, Biologie, Musik. Schließlich: „Religion kommt, wenn sie überhaupt kommt, gegen Schluss, wenn man kaum mehr denken kann: das macht nichts, weil sie kein Versetzungsfach ist. Außerdem bekommt hier auch der Unwilligste mindestens eine Zwei, schließlich kann man niemanden eine schlechte Note wegen fortgesetzten Unglaubens geben. Es fiele ja auf die Kirche zurück.“(83) Er erinnert sich, dass er viel gegen das Christentum hatte und die Konfirmation ablehnte. Aber gerade dieser Unglaube war es, der ihn mehr als andere über Gott nachdenken ließ. Gott zeigte sich nicht, tat nichts um das Unrecht zu verhindern. Allerdings stellte er sich gerne jemanden vor, der ihm, selbst unsichtbar, zuschaute. „Der Mensch hat die Fähigkeit sich in einem erfundenen Wesen zu spiegeln, sogar mit ihm zu reden.“ (84) Und ihm fällt ein Film mit Tom Hanks ein, der als einziger einen Flugzeugabsturz überlebt und allein auf einer Insel, einen Volleyball, den er Wilson nennt und dem er ein Gesicht malt, zu seinem Gesprächspartner macht. Er fühlt sich gottverlassen, als Wilson vom Wind erfasst und aufs Meer getrieben wird. Doch als Sechzehnjähriger hätte er, so der Ich-Erzähler, über diesen Film gelächelt und Gott mangelnde Lernfähigkeit vorgeworfen. Die Schöpfung mit Tieren und Pflanzen mochte ja noch in Ordnung sein, aber die Entwicklung des Menschen sei doch ungut verlaufen. Warum griff er nicht ein? „Mal hielt ich Gott also für nichtexistent, mal für ausgesprochen untätig, sprich faul. Heute betrachte ich meinen etwas wackligen Atheismus wie ein Jugendrichter: mit Milde.“(85) Noch als Student war er der Überzeugung, man sage Gott und Jenseits nur, um nicht unbekannt oder nichts sagen zu müssen. Und als Erwachsener hielt er Beten allenfalls für eine Seeelenhygiene des Nachdenkens und der Besinnung. Aber kein Glaube an ein personales Gegenüber, zu schweigen an den älteren Herrn im Himmel. „Anders wurde es erst nach dem Autounfall, bei dem ich nur knapp dem Tode entging.“(85), heißt es enigmatisch vorausweisend. Religionspsychologisch gesprochen war er, der Willy, ein jugendlicher Rationalist, der seinen magischen Kinderglauben(von dem nicht gesprochen wird) hinter sich gelassen hat, ohne zu einem neuen konsistenten Gottesbild zu gelangen. Und der pensionierte Richter betrachtet den Willy, der anfängt zu rauchen, durchaus kritisch: „Hält für wahr, was alle behaupten: Rauchen erhöhe den Lebensgenuss. Soviel zur Schärfe deines Verstandes ,du Skeptiker, Atheist, Schafskopf und Herdentier.“(86)

Der alte Wilhelm Weitling beobachtet weiter, in seiner Jugend eingesperrt, wie Willy seinen Nachmittag verbringt. Er fragt sich, warum er ausgerechnet an diesen Tag zurückversetzt wurde (eine Idee übrigens, die er dem Film Back to the Future von 1985 entliehen hat) Warum nicht in den schönsten Teil der Kindheit? Oder in das infolge der Krankheit der Mutter notwendig gewordene „Kinderheim-Exil zu Schlederloh. Da hätte ich wenigstens die Quelle meines Urmißtrauens studieren können.“(90) Wir erfahren etwas über seine Bettlektüre - Der Leopard von Lampedusa, er schläft aber schnell ein (warum sind Romane auch immer so lang!). Immerhin erinnert er sich an Die Dämonen von Dostojewski, die er aufgeschlagen auf einem Fensterbrett liegen sieht. Er beobachtet Willy bei seinen Onanie-Anstrengungen und den damit verbundenen Fantasien und Ängsten vor Impotenz(befördert von einem verdächtig frommen Mitschüler), bei einer Strafarbeit zum Thema Afrika politisch, beim Musikhören des Knabenchors des Kings College mit Christmas Carols, wo ihn der glockenreine Sopran fasziniert. Dann Abend und Nacht jenes Tages vor 50 Jahren, an dem der Vater, die Mutter und im Haus lebende Großvater in den Vordergrund treten. Der Vater ein Bonhomme, ein Paul Dahlke, den Darsteller gütiger Lehrer im Film. „Die Väter spielten alle nach dem Krieg alle irgendwie Paul Dahlke“ (112). Er schrieb langsam, wurde aber ein erfolgreicher Schriftsteller. Er war kritisch gegenüber der Justiz, sein Lieblingsfilm war Rosen für den Staatsanwalt, denn er war kurz vor Kriegsende wegen Fahnenflucht verurteilt worden und hatte nur dank einer gnädigen Fliegerbombe überlebt, die das Gericht in Schutt und Asche legte(115) Vor seinem Tod sprach er sich mit ihm aus. „Er verzieh mir den Richter und die Rückkehr zur Kirche.“(117). Auch mit der tätigen, den Mann unterstützenden Mutter, politisch konservativ, hat er sich ausgesöhnt, verzieh ihr auch die zeitweilige Weggabe in ein Kinderheim. „Ich habe diese frühe Havarie des Vertrauens mit ein paar Narben überlebt und mein Leben nicht damit verschwendet, ständig und überall nach Schuld zu suchen. Ich lernte ja doch irgendwann, Menschen zu vertrauen, konnte mir schließlich sogar unter Gott etwas vorstellen.“(119)

Der erwachsene Wilhelm Weitling integriert also Religion als Sinnhorizont in sein Leben. Auch das Schreckliche gehört zum Leben. Es gibt für ihn Gott als das Unverfügbare, das gelegentlich in Erscheinung tritt - in Ereignissen der Kontingenz wie einem Auto- und Segelunfall, indem man gnädig bewahrt wird(oder auch nicht, dann aber könnte der Erzähler nicht erzählen). Noch immer sitzt der Erzähler in der Zeitfalle. Als Beobachter seines damaligen Lebens schleicht er sich nachts in das Zimmer des schon leicht dementen Großvaters, eines Malers, der zuletzt immer nur ein Motiv malt, einen Baum. Mit ihm kommt er ins Gespräch. Und da findet er heraus, dass der Großvater einen ähnlichen Zustand kennt – er nennt ihn „Sommerfrische“ ,diesen Zustand zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und versichert dem Enkel, dass die Zeit nicht weggeht. Astrid wäre noch immer in Berlin, ein alter Richter immer noch im Sturm auf dem Chiemsee, „die Welt wäre dort erst ein paar Sekunden älter.“(133) Doch die Zeit in der Vergangenheit geht voran, wir erfahren manches über das Leben Willys und seiner Familie, wie man Weihnachten feiert, nicht einfach bei Agnostikern, ertönt Stille Nacht , wird der Radioapparat ausgeschaltet, welche Filme wichtig waren: Lohn der Angst, Wir Wunderkinder, Nachts als der Teufel kam, Schulgeschichten, schließlich der Tod des Großvaters, seine Beerdigung, er betet das Vaterunser mit. Er wandert am Seeufer entlang, findet eine Patrone. Das muss die goldene Patrone sein, die der US-General Patton 1945 hier verlor, als er bei der Nachricht über den Selbstmord Hitlers das Taschentuch aus der Hose zog. Vor Freude pinkelt Patton in den Chiemsee, so will es die Legende, „Lachen ist der erste Schritt zur Erlösung der Geistes“(166). Da ist er wieder in seiner Plätte auf dem Chiemsee. In diesem Augenblick kracht der Großbaum in seinen Hinterkopf. Er denkt, das ist das Ende, aber die Geschichte geht weiter – in einem leicht veränderten Leben. Weitling ist jetzt auf einmal Schriftsteller, er hat eine Tochter und einen Enkel, seine Frau ist nach wie vor Astrid, von Beruf aber ist sie nun - Kriminalkommissarin. Die neue Biographie wird erzählt. Er bricht das Jurastudium ab, absolviert ein Lehrerstudium, unterrichtet Geschichte und Geografie in Berlin, auch den „lebenskundlichen Unterricht“, der in Berlin vom Religionsunterricht übrig geblieben war . Offensichtlich „hat Gott Talent zur Ironie.“(187) Arbeitet als Produktionsfahrer für den Spielfilm und wird schließlich Autor, hat mit einem Roman Kapodistrias Erfolg. Schließlich arbeitet er an einem Buch über seinen Namensvetter, den christlichen Schneidergesellen und Frühsozialisten Wilhelm Weitling, der sich mit Marx über das Verhältnis zum Christentum nicht einigen konnte. Zum Schluss berichtet ein Schriftstellerkollege( Weitling lebt nicht mehr, kein so guter Einfall Nadolnys), was Weitling zuletzt umtrieb. Ihn beschäftigen seine zwei Lebenslinien und er ordnet seine Gedanken über „oben“. Man müsse „sich Gott unschlüssig denken, er probiert herum, macht Fehler ,hat einen besseren Einfall und korrigiert sich.“ (205) Gott ist also ein Lernender, ein Gedanke, der sich schon bei Lessing in Erziehung des Menschengeschlechts, Heine und C.G.Jung in seinem Hiobbuch findet. Gott lässt zum Beispiel ein Menschenleben beginnen, lernt beim Zuschauen, und wenn er genügend gelernt hat, ändert er etwas - auch rückwirkend wie in seinem Fall. Schicksalsschläge, Unfälle wären also ein Mittel göttlicher Umdichtung oder Neuschreibung des Lebens. Das klingt passabel, hat natürlich ein Manko – die Änderung muss den Betroffenen am Leben lassen. Es sind also nur positive Schickungen bzw. negative wie der Beginn einer scheinbar unheilbaren Krankheit nur, wenn sie dann doch eine Wendung ins Gute bekommt. Also folgert Weitling: „Wenn Menschen Gott bemühten, dann aus Gründen erzählerischen Begreifens. Sinnlosigkeit ließ sich so gut wie nicht erzählen, sie war ja nur das Fehlen von etwas .Man konnte nur vom Etwas erzählen, aber nicht vom Nichts.“(206) Stimmt das aber ? Ist nicht gerade die Erfahrung von Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit die Probe aufs Sinn konstruieren mit Gott?

Irgendwie bleibt der Richter Weitling eher fromm und der Schriftsteller Weitling eher glaubensfern, beide aber sind Skeptiker und Rationalisten. Als Anker des Menschen auf dem Wege zu seiner Besserung hatte er sich eine höchste Person Gott gedacht, ein Gott, der die Menschen beobachtet und Hoffnung in sie setzt. Aber es war „schon damals mehr ein Kunstgriff als ein Glaube gewesen.“(206) Nach dem Autounfall hatte er sich entschlossen an Gott zu glauben, „ein Glaubensbekenner“ zu werden und in die Kirche zu gehen(207). Was ihn zu der Folgerung bringt: „Wahrscheinlich brauchen die Menschen Gott in erster Linie um Dankbarkeit auszudrücken, mag er Jehova heißen, Allah, Wilson oder eben Gott. Für einen, der ersehnt und ausgedacht ist, hat er ziemlich viele Namen.“(195) Da ist sicher die eine wichtige Seite der Gottesbeziehung, wie auch die vielen Dank- und Lobpsalmen in der Bibel zeigen. Die andere Seite, Klage und Zweifel, bleibt ausgespart.. Gott war für Weitling „der Name für eine bestimmte Einstellung zum Leben.“(207) Aber diese Einstellung, zentriert um das Gebot der Nächstenliebe und die zweite Tafel der 10 Gebote, so Nadolny weiter, konnte auch durch andere Weltanschauungen befördert werden, nicht nur durch die jüdisch-christliche Religion. „Nicht Gott gab das vor, sondern die Gattung. Das war Weitlings Credo jetzt, und er war vollkommen sicher, dass er sich nicht mehr ändern würde.“(208) Man könnte sagen, Weitling vertritt eine liberal-humane Schönwettertheologie. Gott zeigt sich im Sturm auf dem Chiemsee nicht als der Schreckenerregende, sondern als der Korrigierende, der noch mal eine Chance gibt für ein anderes Leben. Ein Leben, das anders ist und doch auch ähnlich. Gott ist wie eine Fortuna, die vor allem Schönes zufallen lässt.

Als Weitlings Kräfte nachlassen, ist er schon im Übergang in eine andere Welt, das lässt der Erzähler offen, geht er noch mal zurück in die frühe Kindheit, ins Kinderheim von Schlederloh, wo er den anderen Kindern erzählt, wie er Schlangen, Löwen und Elefanten einfängt. Jetzt begreift er, wieso er, jedenfalls im zweiten Leben, Schriftsteller geworden war: um „erfindend und erzählend unter lauter ihm unheimlichen Menschenkindern überleben“ zu können.(218) .Deswegen lautet wohl auch der letzte Satz des Romans „Gott gibt es. Wie wäre ich sonst zu zwei Leben gekommen?“(219) Das, was wir uns oft fragen, wie hätte es anders kommen können, wenn ich das und das getan hätte, findet hier in einem experimentierenden Gottesverständnis eine vorläufige Antwort. Gott ist ein lernender Spieler. Das bleibt unterhalb der Anagnorisis, die sonst am Ende großer Literatur zum gegenseitigen Erkennen von Gott und Mensch führt – „wir sehen jetzt nur undeutlich wie in einem trüben Spiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“(1 Kor 13) Soweit will es Nadolny nicht treiben. Ihm genügen die Lebensvarianten, die sich im Skeptizismus des Nichterkennens ähnlich sind. Sein Held möchte letztlich nicht erkannt werden, weil er sich in der Betrachtung der Zeitreise meint, schon genügend auf die Schliche gekommen zu sein. Die Sommerfrische ist so gesehen aber nur eine Scheinblüte der Selbsterkenntnis. Auch wenn der Held für einen modernen Roman erstaunlich viel von Gott redet, so bleibt dieser nur ein Hilfsmittel und Konstrukt für die eigene Selbstdeutung. Dieser Gott ist kein Gegenüber. Weitling rechtfertigt sich letztlich selbst und erhofft nicht mehr Erkenntnis, als er sie jetzt schon, einmal fromm, einmal glaubensfern, hat. Das ist zwar besser als ein gedankenloser Atheismus, aber doch zu wenig angesichts der Freuden und der Leiden eines erlittenen Lebens, das nach Erkanntwerden schreit. „Jeder Mensch ist ein stummer Schrei, anders gelesen zu werden.“(Simone weil) Die angenehm-unterhaltsame Sommerfrische des Wilhelm Weitling ist von diesem Schrei weit entfernt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/80/hjb13.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2012