Am Anfang

Chauvet und die Folgen

Andreas Mertin

Die Bedeutung des Ursprungs

Am Ende von Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie[1] gibt es einen Exkurs zu den seinerzeit kursierenden „Theorien über den Ursprung der Kunst“. Dort dekretiert Adorno entschieden und abweisend: „Versuche, Ästhetik aus dem Ursprung der Kunst als ihrem Wesen zu begründen, enttäuschen notwendig ... [Kunst] historisch, auf ihren vor- oder frühgeschichtlichen Ursprung zu reduzieren, verbietet ihr Charakter, der des Gewordenen. Weder sind die frühesten überlieferten Zeugnisse von Kunst die authentischsten, noch umschreiben sie irgend deren Umkreis, noch ist an ihnen am deutlichsten, was Kunst sei; eher trübt es sich in ihnen.“[2]

Die Berechtigung der Argumentation Adornos im Blick auf die Ästhetik kann kaum bestritten werden, nur erschöpft sich der Rekurs auf die Anfänge der Bilderarbeit der Menschen eben nicht darin, nur ihr Wesen bestimmen zu wollen. Denn ebenso prekär ist auch die umgekehrte These, allein vom Neuesten falle ein Licht auf das Wesen der Sache. Wenn man bedenkt, dass der engere Begriff der Kunst, wie wir ihn heute verwenden, gerade einmal 250 Jahre, oder, wenn wir der Bestimmung von Hans Belting[3] folgen, 500 Jahre alt ist, dann wird schlagartig deutlich, dass 39.500 Jahre bildnerischen Schaffens unter dem sehr schmalen Fokus einer – historisch vielleicht auch nur vorübergehenden – Epoche in den Blick genommen werden. Das Interessante am Blick auf die Anfänge ist ja weniger, etwas über das „Wesen der Kunst“ herausfinden zu können – auch wenn der Versuch nicht unterlassen werden sollte – sondern Geschichte überhaupt fassbar und begreifbar zu machen. Im Blick auf die Philosophie oder die Theologie haben wir keine Probleme damit, mit Texten und Quellen zu arbeiten, die mehrere Tausend Jahre alt sind. Warum sollte es bei der Kunst bzw. bei den Bildern anders sein?

Wenn wir uns den Vorgang einmal maßstäblich vor Augen führen, dann wird klar, dass man mit einem Schlag 25.000-30.000 Jahre frühgeschichtlichen Umgang mit Bildern beiseiteschieben, um den Begriff der Kunst dann aus 250 bzw. 500 Jahren Kunst zu entwickeln. Es ist schnell einsichtig, dass dies außerordentlich problematisch ist.[4]

Nun zielt Adornos Einwand ja weniger gegen den Rekurs auf die Anfänge der Bilder an sich, als vielmehr auf die geschichtsphilosophischen Schlussfolgerungen, die seit dem Bekanntwerden der Höhlenmalereien am Ende des 19. Jahrhunderts aus ihnen gezogen wurden und werden. Die seinerzeitige völkerkundliche These, trotz aller Funde sei die Religion der Kunst vorgeordnet, oder die bis heute verbreitete kunsthistorische These, die frühen Bilder dienten der Bildmagie zeigen, wie leicht man in die Falle vorschneller Schlussfolgerungen tappen kann. Und doch kann das Nachdenken über die Bilder und die Kunst nicht ohne den besonderen Bezug auf jene Zeit auskommen, in der der Homo sapiens sapiens vermutlich im Unterschied  zum Homo neanderthalensis die Fähigkeit zur visuellen Vergegenwärtigung der Lebenswelt und von virtuellen Welten entwickelte. In der über 40.000 Jahre alten Bildgeschichte, die uns dabei im Moment[5] vor Augen steht, macht diese erste Phase über 80-85 % der Zeit aus. Zudem sind es nicht nur einige wenige, sondern zahlreiche Funde, auf die wir zurückgreifen können.

Und zugleich sind diese Arbeiten keinesfalls so „primitiv“, dass man sie mit gutem Gewissen einfach vernachlässigen könnte. Man muss nicht so weit gehen wie Pablo Picasso, der angesichts der Höhlenmalereien von Lascaux gesagt haben soll: "Wir haben nichts dazugelernt!" Dennoch ist die Bildgestaltungskunst zumindest in den Bildern der Höhle von Chauvet schon derartig weit entwickelt, dass sich die Einstufung „primitiv“ schlichtweg verbietet. Anders als zur Zeit der Entstehung der Ästhetischen Theorie Adornos, in der das Wissen über die Höhlen noch nicht so groß war bzw. eine für das Verständnis der Höhlenmalerei wichtige Höhle wie Chauvet noch gar nicht entdeckt war, verfügen wir heute über mehr Kenntnisse (z.B. über die parallele Entwicklung zu Musikinstrumenten, die Adorno noch unbekannt war).

El Castillo

Wenn ich es recht wahrnehme, sind die nun als älteste angesehenen Bilder in der El-Castillo-Höhle nicht von jener Ausdruckskraft, die später die Werke in der Höhle von Chauvet oder von Lascaux oder Altamira charakterisieren wird. Sie zeigen eher die im wörtlichen Sinne tastenden Anfänge der Kunst. Entstanden sind die etwa 25 Handabdrücke in der Höhle so, dass jemand seine Hand auf den Felsen legte und dann Pigmentfarben darüber blies. Datiert werden sie nach den neuesten Forschungen in die Zeit um etwa 40.800 BC.[6]

Ähnliche Bilder wie diese finden wir auch später in der Höhle von Chauvet (hier können sie sogar einem konkreten „Maler“ zugeordnet werden, den man bei weiteren Arbeiten an seinem Finger wiedererkennt.) Bei diesen Bildern würde ich eher von einem konkreten Zeichencharakter ausgehen, denn wenn man schon so den Abdruck der Hand hinterlässt, warum nicht auch Abdrücke anderer Körperteile oder Gegenstände? Vielleicht geht es am Anfang tatsächlich um so etwas wie eine Handschrift zu entwickeln, kein Abbild der Umwelt, keine virtuelle Welt, sondern eine Form des Wiedererkennens.

Chauvet

Bis 2012 galten die Bilder der Höhle von Chauvet im Tal der Ardeche als die ältesten uns bekannten Bilder der Menschen.[7] Zumindest aber sind es bis heute die komplexesten Bilder der Frühzeit. Entdeckt wurde sie 1994 und „enthält über 400 Wandbilder mit bisher erfassten mehr als 470 gemalten und gravierten Tier- und Symboldarstellungen“. Nach den neuesten Datierungen kann man nun davon ausgehen, dass die Höhle vor mindestens 21.000 Jahren durch Felsabbrüche unzugänglich wurde.[8] „Überdies betonen die Wissenschaftler, dass die Ergebnisse mit der Radiokohlenstoffdatierung von Kohleproben und Knochen aus der Höhle übereinstimmen. Diese Daten deuten auf zwei Belegungsphasen hin: eine erste vor etwa 37 0000 bis 33 000 Jahren und eine zweite vor etwa 32 000 bis 27 000 Jahren. Jüngere Funde sind ausschließlich Säugetierknochen, darunter bildet ein 19 000 Jahre alter Steinbockknochen das jüngste Fundstück. Offenbar war die Höhle mehrere Jahrtausende vor ihrem Verschütten nur mehr von Tieren aufgesucht worden.“ Was sich so selbstverständlich anhört, ist aber doch ein geradezu unermesslicher Zeitraum. Es geht immerhin einmal um 4.000 Jahre und einmal um 5.000 Jahre der Nutzung der Höhle.

„Bemerkenswert sind die in der Ardèche einzigartige Schönheit und Harmonie der Malereien. Erstaunlich sind der routinierte Umgang mit den zur Verfügung stehenden Malfarben (zunächst Holzkohle, aber auch roter und hellerer Ocker), die verwendeten Stilmittel (bis zur Darstellung von Bewegung), und die Komposition von teilweise gewaltigen Bildwänden. Immer wieder wurde das Relief der Felswand genutzt, um Abbildungen wirkungsvoll zu präsentieren. Die verwendeten Farben wurden vor Ort aus Holzkohle, Naturocker und Lehm etc. hergestellt. Die formvollendeten und bis in winzige Details und Bewegungsabläufe detailgetreuen Tierbilder überraschen alle, die sie betrachten. Erstaunlich ist die häufige Abbildung von bisher eher selten in Höhlenmalereien vorgefundenen Tierarten, wie Nashörner, Feliden und Bären. Immer wieder fallen Darstellungen auf, in denen die Verdoppelung der Körperumrisse entweder Bewegungsabläufe signalisieren, oder – manchmal gleichzeitig – Tierpaare ...

Die dargestellten Tiere sind von einer beeindruckenden Vielfalt. In einzigartigen Bildwänden von bis zu 12 Meter Breite erscheinen Tiere, die sich in der freien Wildbahn bekämpfen würden, in überraschend friedlichem Miteinander. Die Entdecker hatten bereits über vierhundert Tierdarstellungen erfasst. Folgende eiszeitlichen Tierarten sind in der Chauvet-Höhle zu finden: Wollnashörner, Höhlenlöwen, Mammuts, Wildpferde, Höhlenbären, Rentiere, Bisons, Wisente, Steinböcke, Riesenhirsche, Hirsche, Panther, Uhus und Hyänen. Entgegen früheren Hypothesen wurden keineswegs die gängigen Jagdbeutetiere zur Darstellung gebracht (etwa, um sie dann besser erlegen zu können). Es handelt sich ausschließlich um Tiere, die dem Menschen in der Natur gefährlich werden oder Angst einflößen können. Keines dieser Tiere aber wirkt auf die Betrachtenden feindselig, böse oder aggressiv. Im Gegenteil fällt auf, dass speziell die Zuneigung unter Tierpaaren thematisiert wurde. So konnte beispielsweise ein Balztanz von zwei Nashörnern und die Liebeswerbung eines Löwenpaares identifiziert werden.“[9]

So gesehen könnte man fast schon von einem frühen Goldenen Zeitalter im Stil des Empedokles sprechen[10] und einem Tierfrieden wie bei Jesaja.

Die Höhle von Chauvet ist für die Öffentlichkeit nicht freigegeben. Nur wenige dürfen während der Forschungssaison die Höhle betreten. Es gehört aber zu den positiven Erscheinungen des Internets, dass es uns auch fern- und fernstliegende Phänomene wenigstens annäherungsweise zugänglich macht. So macht die französische Regierung die Grotte virtuell anschaulich. Auch geben einige Fernsehberichte ein paar Einblicke in die geheimnisvolle Welt der Höhle. Und schließlich haben wir die Berichte jener, denen in den letzten Jahren erlaubt wurde, an einer Höhlenexkursion teilzunehmen. Dazu gehören neben einem journalistischen Bericht auch zwei künstlerische Reflexionen, zum einen ein Text von John Berger und zum anderen ein Film von Werner Herzog.

Erkundungen: John Bergers Besuch der Grotte von Chauvet

Der 1926 geborene Schriftsteller, Künstler und Kunstkritiker John Berger hat seine Erfahrungen beim Besuch der Höhle literarisch nachgezeichnet.[11] Ihm geht es um den atmosphärischen Nachvollzugs, um die Einfühlung in eine Situation, in der die Menschen zu malen beginnen. Die Cro-Magnon-Menschen, so schreibt Berger, waren in einer anderen Situation als wir:

„Als Nomaden wussten sie nur allzu gut, dass sie gegenüber der Überzahl der Tiere eine verschwindende Minderheit bildeten. Sie waren nicht auf die Welt gekommen, sondern mitten in das Leben der Tiere geworfen. Sie waren nicht die Hüter der Tiere, sondern die Tiere waren die Hüter der Welt und des Kosmos um sie her, der weder Anfang noch Ende kannte. Denn hinter jedem Horizont gab es nur noch mehr Tiere.“

Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass es sich um kleine Menschengruppen mit 20, maximal 30 Personen handelt, die zwar das Feuer kannten und Schmuck herstellten, aber eben noch nicht Krone der Schöpfung waren.

„Viele Wände, die sich für Malereien geeignet hätten, sind unberührt geblieben, und die über vierhundert abgebildeten Tiere sind so diskret über die Höhle verstreut wie in der Natur selbst. Es gibt keine pittoresken Anordnungen wie in Lascaux oder Altamira. Hier findet sich mehr Leere, mehr Heimlichkeit, vielleicht ein größeres Komplizentum mit dem Dunkel. Doch obwohl die Bilder hier 15 000 Jahre älter als in Lascaux sind, wurden die Tiere genauso gut beobachtet und mit genauso viel Anmut wiedergegeben. Es scheint, als wäre die Kunst auf die Welt gekommen wie ein Fohlen, das von Geburt an auf den Beinen stehen kann.“ Und Berger fragt: „Die Maler der Cro-Magnon kannten keinen Rand. Ihre Malerei fließt nach eigenen Gesetzen, sie hält an, sie stockt. Die Bilder überschneiden sich, neue schieben sich über die alten - der Maßstab springt ständig. Wie muss man sich den imaginären Raum der Cro-Magnon denken?“

Genau darum geht es – nicht nur in malerischer Hinsicht. John Berger vermutet:

„Die Felszeichnungen sind, wo sie sind, damit sie im Dunkel existieren. Sie waren für das Dunkel gedacht. Sie sind im Dunkel verborgen, damit das, was sie verkörpern, alles Sichtbare überdauert und so vielleicht ein Überleben verspricht.“

Dann müsste der Cro-Magnon in mehreren Generationen gedacht haben. Dafür spricht, dass er die malerische Arbeit der Vorfahren fortgesetzt hat. Dagegen, dass er sie nicht gezielt erweitert oder ergänzt bzw. fortentwickelt hat, sondern seine Bilder einfach daneben oder sogar darauf gesetzt hat. Im Bildsujet gibt es allerdings eine Konstanz über Jahrtausende.

Judith Thurman

Werner Herzogs gleich noch vorzustellender Film über die Höhle in Chauvet wurde inspiriert durch einen lesenswerten Artikel von Judith Thurman im New Yorker aus dem Jahr 2008:First Impressions. What does the world’s oldest art say about us?[12] Darin denkt diese über die Bedeutung der Höhlenmalerei nach, besucht Chauvet und sagt im Blick auf die Höhle:

„For a nomadic people, living at nature’s mercy, it must have been a powerful consolation to know that such a refuge from flux existed.”

Sehr schön macht sie uns unsere Nähe und unsere Distanz zu den Höhlenmalern deutlich:

„They are, genetically, our direct ancestors, although ‘direct’ is a relative term. Since recorded history began, around 3200 B.C., with the invention of writing in the Middle East, there have been some two hundred human generations (if one reckons a new one every twenty-five years). Future discoveries may alter the math, but, as it now stands, forty-five hundred generations separate the earliest Homo sapiens from the earliest cave artists, and between the artists and us another fifteen hundred generations have descended the birth canal, learned to walk upright, mastered speech and the use of tools, reached puberty, reproduced, and died.“

Es war ein weiter Weg bis zum Beginn der Malerei und es ist ein weiter Weg von dort bis zu uns. Im Zentrum der Reflexionen dieses Weges steht die Frage: Wer sind wir eigentlich?

„In the century since the modern study of caves began, specialists from at least half a dozen disciplines – archeology, ethnology, ethology, genetics, anthropology, and art history – have tried (and competed) to understand the culture that produced them.“

Truman skizziert sehr ausführlich, wie sich in der Frage der Beurteilung der Höhlenmalereien zwei Lager bilden: das eine, das auf ethnologische Analogien und Mythen anderer Völker zur Erklärung zurückgreift; und das andere, das vor solchen Bezugnahmen warnt und die Höhlenbilder aus ihrer Wahrnehmung vor Ort erläutern will. Nicht zufällig bildet sich dabei auch ein Konflikt unter Kunsthistorikern der Gegenwart ab.[13]

Dieser Streit ist aber eben auch ein Streit um die religiöse Grundierung der Malereien, wie Truman im Gespräch mit Jean Clottes (einem Vertreter des paläolithischen Schamanismus)  deutlich macht:

“Clottes told me one evening. ‘Everyone agrees that the paintings are, in some way, religious. I’m not a believer myself, and I’m certainly not a mystic. But Homo sapiens is Homo spiritualis. The ability to make tools defines us less than the need to create belief systems that influence nature.’”

Die Frage ist natürlich, ob diese Schlussfolgerung nicht schon im Voraus gesetzt wurde und deshalb keinesfalls der Materialbeobachtung entspringt. Ich glaube, niemand wird die Möglichkeit in Frage stellen, dass zumindest angesichts der Venusfigurinen oder auch der expliziten Vogel-Mensch-Darstellungen in der Höhle von Lascaux deutliche Elemente des Religiösen zu vermutet werden können. Fraglich scheint mir aber, ob dies auch für die Werke in der Höhle von Chauvet gilt. Truman berichtet, dass vor allem jüngere Forscher hier sehr skeptisch sind.

Werner Herzog

Kommen wir nun zu Werner Herzogs 2010 erschienenem 3D-Film „Die Höhle der vergessenen Träume[14], der uns vor allem in optischer Hinsicht Einblick in die Situation vor Ort gibt. Es war schon eine Überraschung, dass die französische Regierung für den „offiziellen“ Film über die Höhle ausgerechnet Herzog beauftragte. Denn damit bestand von Anfang an die Gefahr, dass die Kunst des Filmemachers Herzog die Kunst der Maler von Chauvet überlagerte. Das ist glücklicherweise nicht so eingetreten, auch wenn Herzog in für ihn  typischer Weise viele andere Elemente (bis hin zu Albino-Krokodilen) in seinen Film einbaut. Dennoch ist der Film eine interessante Visualisierung der Höhle (und sicher in der 3D-Version auf Blue-Ray, die ich nicht gesehen habe, noch wesentlich beeindruckender). Im Klappentext der DVD heißt es: „Mit seinen 3D-Aufnahmen fängt Herzog die Magie und Schönheit eines der ehrfurchtgebietendsten Orte auf Erden ein, während er auf seine unverwechselbare Art über dessen ursprüngliche Bewohner, die Geburt der Kunst und die merkwürdigen Menschen im Umfeld der Höhle philosophiert.“ Es ist kein Film, den man einfach wie einen Spielfilm ablaufen lässt (außer vielleicht bei der ersten Betrachtung). Eher greift man für vertiefende Erkenntnisse immer wieder einzelne Szenen und Episoden heraus, um dem Gezeigten noch einmal nachzugehen.

Etwa wenn ab der 31 Minute der Film der Archäologin und Kuratorin der Chauvet-Höhle, Dominique Baffier, auf der Spur eines konkret wiedererkennbaren Höhlenmalers folgt. Wir verfolgen das Wirken eines Menschen, der vor etwa 32.000 Jahren aktiv war, ein Mann, 1,80 groß mit einem leicht verkrümmten kleinen Finger.

Er beginnt mit einer Serie von positiven Handabdrücken dergestalt, dass er im Knien beginnt und sich nach und nach hoch arbeitet bis er gestreckt gerade noch den oberen Teil erreicht. Dieser Maler ist mit seiner Arbeit auch in anderen tieferen Teilen der Höhle anhand seines kleinen Fingers eindeutig zu identifizieren.

In diesen Sequenzen ist Herzogs Film durch nichts zu ersetzen, weil er die Dinge vor Ort anschaulich werden lässt. Anders als Trumans Essay setzt er aber kontroverse Deutungen nicht gegeneinander und wägt sie ab, sondern baut sie nur in den Bildfluss ein. So schwankt der Film zwischen den faszinierenden Virtualisierungen der Höhle durch die jungen Wissenschaftler, die geradezu positivistisch dem Rätsel der ersten Bilder auf die Spur kommen wollen, und den spirituell-orientierten Deutungen anderer Wissenschaftler.

So, wie wir mit den Kameraaugen des Filmregisseurs Werner Herzog die Höhle von Chauvet sehen, haben die Menschen vor mehr als 30.000 Jahren sie nie gesehen. Ausgeleuchtet, der analytischen Kamera ausgeliefert, die das einzelne Bild herausgreift und dann wieder in die Totale zurückfährt. Herzog versucht zwar streckenweise durch einen unterlegten Herzschlag dem Ursprungserleben  nahe zu kommen, aber das gelingt nur bedingt.

Wer mit den ursprünglichen Malern in der Höhle von Chauvet fühlen will, muss den Text von John Berger lesen, der der Situation vermutlich medial viel näher kommt, indem er sich an das Narrativ hält. Aber wovon er erzählt, das sieht man nur im Film von Werner Herzog.

Altamira

Die Höhle von Altamira wurde bereits 1868 entdeckt, aber die Echtheit der Malereien wurde damals von der Fachwelt bezweifelt. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde im Zuge der Entdeckung weiterer Höhlen die Akzeptanz größer. Ursprünglich wurde für die Malereien in der Höhle win Zeitraum zwischen 20.000 und 11.000 vor Christus angegeben. Aber auch hier haben die neueren Datierungen aus dem letzten Jahr andere Befunde ergeben:

„So konnten die Wissenschaftler ein großes keulenförmiges Symbol in der Höhle von Altamira jetzt auf ein Alter von mindestens 35.600 Jahren datieren. Der Beginn der Höhlenkunst in Altamira liegt also nicht nur 10.000 Jahre weiter in der Vergangenheit als bisher angenommen, es zeigt sich auch, dass die Höhle über einen Zeitraum von 20.000 Jahren immer wieder als Atelier genutzt wurde.“[15]

Damit schließen zumindest die ältesten Schichten von Altamira an die Castillo-Höhle und an die Chauvet-Höhle an.

„Die Höhle enthält etwa 930 Bilder, darunter Ritzzeichnungen, reine Kohlezeichnungen und farbige Darstellungen. Abgebildet sind Hirsche, Bisons, Hirschkühe, Pferde und Wildschweine. Verwendet wurden Holzkohle sowie Rötel, schwarze Manganerde und verschieden getönter Ocker, die man mit Fett oder Eiweiß mischte. Als Pinsel kamen vermutlich Federn zum Einsatz. Man hatte aber auch Farbstifte und Röhrenknochen, durch die der Farbstoff aufgeblasen wurde, und konnte ebenso mit der Hand wischen.“[16]

Angesichts der Plastizität der Darstellungen ist der ursprüngliche Zweifel an ihrer Authentizität leicht nachvollziehbar.

Wer ein Weltbild im Kopf hat, das von einem steten Fortschritt von der Primitivität zur Vollendung charakterisiert ist, tut sich mit derartigen Vor-Bildern schwer.

Einige der Bilder an der Decke sind wie zu Zeichenzyklen zusammengestellt.

Lascaux

Die Höhle von Lascaux, 1940 entdeckt und erstmalig erkundet, ist deshalb so faszinierend, weil hier – abgesehen von den bereits erwähnten Venus-Figurinen sowie dem Schamanen aus der Höhle Trois-Frères – erstmalig so etwas wie ein greifbarer und nicht bloß spekulativer Zusammenhang von Religion und Kunst sichtbar wird.

Insbesondere bei der dramatischen Szene am so genannten Brunnen-Schacht wird das deutlich.

Lascaux hat den Vorteil, dass man die Höhle auch online erkunden kann. Das sollte man auf jeden Fall einmal ausprobieren. Dabei wird allerdings nicht ganz deutlich, wie groß die Abbildungen eigentlich sind. Aber auf einem Fernsehbericht zur Renovierung der 1:1-Kopie Lascaux 2 kann man den Maßstab ganz gut erkennen.

Datiert werden die Bilder der Höhle heute in die Kultur des Solutréen, also zwischen 22.999 und 18.000 v. Chr., wobei es auch alternative Zuordnungen in die ältere und die jüngere Zeit gibt.

Als besonders beeindruckend gilt der Saal der Stiere. Er hat eine Länge von rund 20 m und eine Breite, die zwischen 5,50 m und 7,50 m variiert. Zwischen der Decke und dem unteren Teil umfasst eine vorspringende Zone fast die gesamte Ausmalung, die sich ununterbrochen auf beiden Seiten des Saales über etwa 30m hinzieht. Die Motive des Saales der Stiere mit 130 Darstellungen, darunter 36 Tiere und rund 50 geometrische Zeichen, gehören zu den eindrucksvollsten in der paläolithischen Kunst.

Drei Tierarten stehen im Mittelpunkt der der Höhle von Lascaux: das Pferd, das 17mal vorkommt, 11 Kühe bzw. Stiere und sechs Hirsche. Hinzu kommen noch Auerochs und ein Bär.

Gegenüber den älteren Höhlen ist in Lascaux die Einbindung in den unmittelbaren Lebenskontext im Sinne etwa der Jagd mehr als wahrscheinlich und durch die zum Teil abgebildeten Jagdpfeile auch naheliegend. Es gibt also einen funktionalen Kontext der Abbildungen. Das scheint eine Entwicklung zu sein, die sich in der späteren Zeit zunehmend durchsetzen wird: die Einbindung der Bilder in

Georges Bataille hat 1983 ein Buch über die Höhlenbilder von Lascaux und die Geburt der Kunst geschrieben[17] - natürlich zu einer Zeit, in der die älteren Arbeiten von Chauvet noch nicht entdeckt waren. Er schreibt: „Der Mensch von Lascaux schuf aus dem Nichts die Welt der Kunst, mit welcher der Geist beginnt, sich mitzuteilen.“ Die Sache mit der Geburt der Kunst ist so gesehen aus heutiger Sicht nicht mehr zutreffend, eher steht der Mensch von Lascaux in der Mitte einer 30.000 Jahre umfassenden Entwicklung. Aber Bataille beschreibt ganz gut den Übergang zu einer Phase der Höhlenmalerei, in der ihre religiöse Bedeutung deutlicher hervortritt. Er sieht in den Werken einen erkennbaren Zusammenhang von Spiel, Kunst und Religion, verbunden durch den Gedanken der Übertretung. Damit treten wir aber endgültig in die Zivilisationsgeschichte der Menschen ein.

Schlussfolgerungen

Ich kann an dieser Stelle paraphrasierend und angesichts der neuen Datierungen etwas modifizierend aufgreifen, was ich bereits in Heft 77 zur grundsätzlichen protestantischen Perspektive auf die Bildende Kunst geschrieben habe: Wer eine protestantische Perspektive zur Kunst entwickeln will, darf nicht mit dem biblischen Bilderverbot oder mit den ersten 'christlichen' Bildern beginnen, sondern muss den Anfang mit dem frühesten Datum der Bildproduktion des Menschen setzen. Bildproduktion ist dem Christentum und dem Judentum, aber auch der mesopotamischen und ägyptischen Kultur weit vorgängig. Sie beginnt mit der kulturellen Differenzierung von Homo neanderthalensis und Homo sapiens. Wir treffen in der jüngeren Altsteinzeit mit dem Aurignacien auf eine Kultur, die nicht nur Kleinkunst wie die Venusfigurinen entwickelt, sondern auch Musik und nicht zuletzt Bilder, also Höhlenmalereien. Diese werden in die Zeit ab 40.000 vor Christus datiert. Es besteht allerdings bis heute kein wissenschaftlicher Konsens darüber, wozu der Mensch des Aurignacien diese Bilder eingesetzt hat. Alle bisherigen Deutungen im Sinne der Initiation in die Gruppe, des magischen Jagdzaubers, des Schamanismus, des religiösen Kultes, der hier einsetzenden geschichtlichen Überlieferung usw. vermögen das Phänomen nicht hinreichend aufzuklären. Sie liefern Indizien, mehr nicht.

Für die protestantische Perspektive auf dieses menschliche Bildschaffen ist das Motiv für die Entstehung der Höhlenmalerei aber auch nicht wichtig, sondern sie interessiert sich für den zu beobachtenden Prozess. Entscheidend ist, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Evolutionsgeschichte Menschen zumindest temporär von der Verfolgung ihrer unmittelbaren Überlebensinteressen (Nahrung, Verteidigung etc.) freigesetzt werden, um sich privilegiert auf das Schaffen von Bildern zu konzentrieren und in diesem Bereich Kompetenzen auszubilden. Bildproduktion ist somit ein Ergebnis der Freisetzung von den elementaren Notwendigkeiten des Lebens. Das ist ein bis heute gültiges Moment. Und es ist nicht zuletzt ein Argument gegen die einseitige evolutionsbiologische These, das Bilderschaffen sei bloß ein Selektionsvorteil bei der Partnerwahl gewesen. Bildproduktion ist mit einem derart spekulativen und kaum nachvollziehbaren Selektionsvorteil schlecht erklärt.

Das besondere Verhältnis von Religion und Bild in der Frühzeit der Menschen ist dagegen bis heute Gegenstand eines wissenschaftlichen, vor allem aber auch eines heftigen ideologischen Streites. Ob es erst die 'freien' Bilder und dann die 'repressive' Religion gegeben hat oder erst die Religion (oder die Spiritualität) und für diese dann die Bilder ist jedoch für eine protestantische Sicht auf die Kunst und die Bilder überhaupt nicht relevant. Entscheidend ist, ob man sagen kann, dass die ersten Bilder in der Geschichte die Menschheit in einem spezifischen Sinne erst konstituiert hat, und dass diese Entwicklung vom bilderlosen Wesen zum Bild entwerfenden Menschen einen Freiheitsakt darstellt. Beides ist meines Erachtens zu bejahen. Alle weiteren Schlussfolgerungen über die Bedeutung der steinzeitlichen Artefakte verlieren sich im Moment noch ins frühzeitliche Dunkel.

Anmerkungen

[1]    Adorno, Theodor W. (2005): Ästhetische Theorie. Frankfurt M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft).

[2]    Ebd., S. 480.

[3]    Belting, Hans (2004): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. 6. Aufl. München: Beck.

[4]    Die Schaubilder gehen noch von der alten Datierung aus.

[5]    Im Augenblick werden wieder zahlreiche Neudatierungen vorgenommen. Nach den jüngsten Datierungen sind nun die Bilder in der El-Castillo-Höhle die ältesten bisher bekannten Malereien. Sie datieren in eine Zeit, in der sich Neandertaler und Homo sapiens begegneten, was manche zu der Spekulation verleitet, auch der Neandertaler habe Bilder produziert. Bisher gibt es dafür aber keine gesicherten Belege. Allenfalls könnte ein kultureller Einfluss des modernen Menschen auf den Neandertaler vermutet werden.

[7]    Datierungen sind freilich bis in die Gegenwart auch Teil eines Glaubenskampfes z.B. über die Zuverlässigkeit der C14-Methode. Andere Methoden wie die Uran-Thorium-Datierung waren es, die die Neujustierung der Datierung der Höhlenmalereien in Gang setzten. Am wenigsten einleuchten will mir die stilgeschichtliche Methode, nicht nur, weil mir das willkürlich erscheint, sondern weil es ein Modell einer kontinuierlich ablaufenden Kunstentwicklung voraussetzt.

[10]   „Im 5. Jahrhundert v. Chr. verkündete der Philosoph Empedokles, ein Vorsokratiker, einen kosmologischen und kulturhistorischen Mythos, der Übereinstimmungen mit dem Weltaltermythos Hesiods und der Orphiker aufweist. Wie Hesiod vertrat er die Idee einer ursprünglichen Friedfertigkeit, Unschuld und Eintracht in der gesamten Natur einschließlich der menschlichen Gesellschaft. Auf ein ideales Zeitalter folgte eine Periode zunehmenden Verfalls, die zu den gegenwärtigen Verhältnissen geführt hat.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Goldenes_Zeitalter#Empedokles

[11]   John Berger, Past Present, http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2002/oct/12/art.artsfeatures3. Auf deutsch erschien der Text am 8.2.2003 in der Frankfurter Rundschau unter dem Titel: Komplizentum mit dem Dunkel. Die Höhle von Chauvet: Hinabtauchen in eine Stille, die enzyklopädisch ist. Ich zitiere im Folgenden nach der leider nicht mehr greifbaren deutschen Ausgabe des Textes. Vgl. auch Berger, John (2005): Gegen die Abwertung der Welt. Essays. Unter Mitarbeit von Hans Jürgen Balmes. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl.; sowie Berger, John (2007): Grotte Chauvet. Pont d'Arc. Impressions. Vals-les-Bains: Chassel.

[12]   http://www.newyorker.com/reporting/2008/06/23/080623fa_fact_thurman

[13]   Vgl. das Kapitel „Sehen oder Wyssen“ in Stöhr, Jürgen (2010): Auch Theorien haben ihre Schicksale. Max Imdahl - Paul de Man - Beat Wyss ; eine Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne. Bielefeld: transcript.

[14]   Herzog, Werner (2010): Die Höhle der vergessenen Träume. Herzog, Werner (Regie). DVD.

[15]   http://www.archaeologie-online.de/magazin/nachrichten/neudatierung-von-hoehlenmalereien-spanische-steinzeitkunst-aelter-als-gedacht-22047/

[16]   http://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6hle_von_Altamira

[17]   Bataille, Georges (1983): Die Höhlenbilder von Lascaux oder die Geburt der Kunst. Gütersloh: Bertelsmann.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/81/am422.htm
© Andreas Mertin, 2013