Dummer, einfältiger Mond, bitteres Lachen und Atheismus

Eine Anmerkung zu Büchners Satz im Lenzfragment: „Da griff der Atheismus in ihn“

Hans Jürgen Benedict

In Büchners Novelle Lenz erfährt der gemütskranke Dichter Lenz, der Aufnahme bei dem Pfarrer Oberlin im Elsaß gefunden hat, in einem Nachbardorf sei ein Kind gestorben. Er geht dort hin, lässt sich die Kammer zeigen, wo es aufgebahrt liegt, betet, dass Gott ein Zeichen an ihm tun und das Kind beleben möge, dann spricht er wie Jesus: Stehe auf und wandle. Doch die Leiche bleibt kalt. Da jagt er hinaus ins nächtliche Gebirge, über dem ein Mondhimmel mit ziehenden Wolken zu sehen ist.

„In seiner Brust war ein Triumph-Gesang der Hölle (…) es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen (…) So kam er auf die Höhe des Gebirges (...) und der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest.“[1]

Wieso greift der Atheismus in diesem Augenblick in ihn? Ist es die Enttäuschung über die fehlgeschlagene Totenerweckung? Die schlimmer gewordene Depression? Die Erfahrung nächtlicher Unbehaustheit des Wanderers im Gebirge? Auffällig ist die merkwürdige Konstatierung eines dummen Himmels mit einem lächerlichen Mond kurz vor dem Atheismus-Satz. Der Mond, der „stille Gefährte der Nacht“(Klopstock[2]), der doch sonst für die Dichter Trost ist, Anlass poetischer Imagination. Wieso diese radikale Verschiebung in der Bewertung des Himmelgestirns (ähnlich im Woyzeck)?

Mir fällt das Volkslied „In stiller Nacht“ ein, das von Brahms in „Deutsche Volkslieder für gemischten Chor“ 1864 vertont wurde.

„In stiller Nacht zur ersten Wacht,
ein‘ Stimm‘ begunnt zu klagen
der nächtge Wind hat süß und lind
zu mir den Klang getragen“[3]

Eine langsame Melodie, schmerzlich süß und schön, eine Stimme, die sich elegisch aufschwingt und zurück in Trauer sinkt. Wer klagt und weint da? Und wer redet die Gestirne an und zieht sie mit in seine Trauer? Ein melancholischer Wanderer in stiller Nacht? Ein Romantiker, der sich nicht ganz heimisch in der Welt fühlt? Und dann heißt es weiter:

„Der schöne Mond will untergahn
für Leid nicht mehr mag scheinen
Die Sterne lan ihr Glitzen stahn
mit mir sie wollen weinen.
Kein Vogelsang noch Freudenklang
man höret in den Lüften
die wilden Tier‘ traur‘n auch mit mir
in Steinen und in Klüften.“

Mit wem weinen da die Sterne, fühlt der Mond, wer hat sogar die wilden Tiere zu Trauergenossen? Dieser Nachtgesang ist ursprünglich gar kein Volkslied, sondern die erste und die letzte Strophe von Friedrich von Spees ergreifendem „Traurgesang von der Not Christi am Ölberg“ (um 1630). Der Dichter hört die „klagende Stimme und nimmt in Acht“, was sie sagt.

Ein junges Blut von Sitten gut
alleinig ohn Gefährten
in großer Not fast halber tot
im Garten lag auf Erden.“[4]

Und dann wird die Geschichte erzählt - Jesus, der „liebe Gottessohn“ im Dialog mit Gottvater, allein gelassen von den schlafenden Jüngern, im verzweifelten Ruf zur Mutter. Weder Gottvater noch Mutter antworten.

„Zu Gott ich hab gerufen zwar
aus tiefen Todesbanden
dennoch ich bleib verlassen gar
ist Hilf noch Trost vorhanden.“

Und dann kommt, was im Volkslied steht.

„Der schöne Mond will untergohn
vor Leid nit mehr mag scheinen[…].[5]

Die Jünger schlafen, Gott antwortet nicht, aber die Natur, die Gestirne trauern mit dem verlassenen Gottessohn (ähnlich wie bei der zum Tod bestimmten Tochter Jephtahs in dem Oratorium von Giacomo Carissimi, einem italienischen Barockkomponisten, in chromatisch gefärbtem Schmerz). Und das ist ein Trost für denjenigen, der es singt und hört. Ein Trost noch selbst dann, wo es sich von der biblischen Vorlage löst wie im Volkslied.

Und jetzt zurück zu Büchners Lenz, der in verzweifelter Jesus-Nachahmung eine Tote erwecken will und den die Furien ins Gebirge treiben. Anders als bei dem klagenden Jesus in Gethsemane trauert die Natur nicht mehr mit ihm. Die Natur und die Gestirne haben nichts Tröstliches mehr. Kein Mond, der vor Leid nicht mehr scheinen mag, sondern einfältig und dumm hängt er da am nächtlichen Wolkenhimmel. Das Universum hat seinen bergenden, schützenden Charakter verloren. Es ist eine kalte und leere Welt. Der Mond ist nicht mehr das freundliche Nachtgestirn, dessen Aufgang Matthias Claudius so schön besungen hat. Die abendliche Welt ist nicht mehr „traulich und hold“, keine „stille Kammer“, wo wir „des Tages Jammer verschlafen und vergessen“ können. Der nur halb zu sehende Mond ist kein Gleichnis mehr dafür, dass nicht das, was wir Augen haben, das Wahre ist, ist kein Verweis auf das Heil Gottes, dessen Fülle uns noch bevorsteht.

Aus dieser Übereinstimmung ist Büchners Lenz herausgefallen. Er hat nicht mehr den Trost des Träumers in Jean Pauls Siebenkäs, der aus seinem Angsttraum „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ auf wacht und sich auf einer Wiese im Abendsonnenschein wiederfindet, getröstet von den Strahlen der Sonne und den Glockentönen.[6]

Nicht von ungefähr sucht 50 Jahre nach Büchners Lenz Nietzsches „toller Mensch“ Gott am helllichten Tag mit der Laterne und klagt, dass mit dem Tode Gottes die Erde von der Sonne losgekettet wurde.[7]

Die kosmische Verlassenheit ergreift eine Menschheit, die den Himmel entgöttlicht hat. Die Jean Paulsche Angst, „dass Gott eine Einbildung und die Seele der Vernichtung preisgegeben sei“, ist noch da. Atheismus ist für Jean Paul und auch für Büchner (selbst für Nietzsche) „niemals der schmerzfreie Agnostizismus der Moderne, dessen Weltverständnis sich durch den Ausfall einer Überwelt nicht ändert.“ Nein, es ist der vernichtende Gegengott, Negation des Lebens, Sieg des Todes.[8]

Gleichzeitig mit Büchner schreibt Heinrich Heine 1834 in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland über den Philosophen Kant, der in der Kritik der theoretischen Vernunft die Gottesbeweise widerlegt hat:

Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen traciert, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen - das röchelt, das stöhnt -, und der alte Lampe steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte.“[9]

Und da zeigt Kant, dass er nicht nur ein großer Philosoph sondern auch ein guter Mensch ist. Aus Erbarmen mit seinem Diener Lampe, der einen Gott haben muss, damit er auf der Welt glücklich sei, wiederbelebt er den Leichnam des Deismus und lässt die praktische Vernunft das Dasein Gottes verbürgen. Heine traktiert die Atheismus-Frage hier geistreich-ironisch und spielerisch, während Büchner sie existentiell fasst, nicht nur in der Figur Lenz, auch in der Gestalt Dantons und seinen atheistischen Zynismen.

Lenz wird umgetrieben von der Ungerechtigkeit und ruft aus:

„wenn ich allmächtig wäre, ich würde retten, retten.“

Aber er findet keine Ruhe. Noch einmal eine Abendszene am Schluss des Fragments:

„hoher Vollmond, alle fernen Gegenstände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie; die Erde war wie ein goldener Pokal, über den schäumend die Goldwellen des Mondes liefen.“

Kann Lenz doch noch den Trost einer Mondnacht erfahren? Nein, die dumpfe Angst steigert sich in ihm, je mehr sich die Gegenstände in der Finsternis verloren und er versucht mehrfach, Hand an sich zu legen. „So lebte er hin“ endet das Fragment.

„Und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn.“ Wieso das? In Lessings Minna von Barnhelm kommt es zu einem Gespräch zwischen Minna und Tellheim. Der verabschiedete und verschuldete Offizier Tellheim zweifelt zutiefst an einer gerechten Weltordnung und bricht in ein bitteres Lachen aus. Dieses Lachen ist bzw. klingt blasphemisch. Minna bemerkt es mit Schaudern:

„Oh ersticken Sie dieses Lachen. Es ist das schreckliche Lachen des Menschenhasses…wenn sie an Tugend und Vorsicht (gemeint ist Vorsehung HJB) glauben, Tellheim, so lachen Sie so nicht! Ich habe nie fürchterlicher fluchen hören als Sie lachen.“(IV/6)

Es gibt ein Lachen, das bitter, sinnzerstörend und zynisch ist. Das Lachen Lenz‘ ist in letzter Konsequenz ein gotteslästerliches Gelächter, das sich auch in Klopstocks Messias beim Satan findet. So bilden in Büchners Lenz Naturentfremdung, bitteres höllisches Lachen und Atheismus eine Trias.

Postmodern ist der Atheismus keine Vernichtungserfahrung mehr. Man nehme Peter Rühmkorfs Variation auf das Abendlied von Matthias Claudius, sie lässt erkennen, dass er die Vorlage wertschätzt, auch wenn er ihren Inhalt infrage stellt:

„Der Mond ist aufgegangen
Ich, zwischen Hoff-und Hangen,
rühr an den Himmel nicht.
Was Jagen oder Yoga?
ich zieh die Tintentoga
des Abends vor mein Angesicht.“[10]

Das ist nicht nur eine abendliche Evokation im Geiste Claudius, sondern auch eine große poetische Erfindung. Die Änderung des Verses:

„Herr, laß mich dein Reich schauen
auf nichts Vergänglichs trauen“,

bereits zu Claudius Zeiten ein obsoleter barocker Ton, lässt durch Veränderung nur eines Vokals

„Herr, laß mich dein Reich scheuen!
Wer salzt mir dort die Maien?
wer sämt die Freuden an?“

erkennen, dass Reichgotteshoffnung auch Verdrängung oder Vertröstung sein kann. Spielerisch geht er aktualisierend mit dem alten Text um, er wiegt sich in Fragen ein, die es zumindest ein wenig offen lassen, ob es nicht doch Hoffnung gibt, die über diese Welt hinausweist.

Christoph Ransmayer erzählt in Atlas eines ängstlichen Mannes[11] folgende Begebenheit. Als vor einigen Jahren der Komet Halley zugleich mit einer Mondfinsternis am Himmel seine Leuchtspur zog, hatten sich viele Hobby-Astronomen in einem Café versammelt, von dem aus man dies Himmelsschauspiel gut beobachten konnte. Da geschah einem Kellner das Missgeschick, dass er mit einem Tablett stürzte und viele Tassen zerbrochen auf dem Boden lagen. Er sammelte kriechend mühselig die Scherben auf. Da wenden sich die Kometen- und Mondbetrachter weg vom Gestirn und helfen dem unglücklichen Kellner die Scherben aufzulesen, die wie Sterne auf dem Boden lagen. Von der Himmelsbetrachtung eines unendlichen, kalten und doch immer wieder schönen Universums zur mitmenschlichen Handlung.

Anmerkungen

[2]    Friedrich Gottlieb Klopstock, Die frühen Gräber, 1764

[5]    Abgedruckt in: Barock. Lyrik. Drama. Predigten hg v K.Pörnbacher, Zürich oJ, 215-217

[6]    Jean Paul Richter: Siebenkäs - Kapitel 47, http://gutenberg.spiegel.de/buch/3215/47

[7]    Die fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch, Aphorismus 125 „Der tolle Mensch“ (KSA 3, S. 480  ff.)

[8]    Dorothee Sölle, Realisation, Neuwied 1973, 251

[9]    Heine, Heinrich (1997): Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Stuttgart: P. Reclam.

[11]   Ransmayr, Christoph (2012): Atlas eines ängstlichen Mannes. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/81/hjb14.htm
© Hans Jürgen Benedict, 2013