Religion in post-säkularer Gesellschaft?

II - Konkretionen

Andreas Mertin

Der Vorschlag von Jürgen Habermas in seiner Paulskirchenrede 2001, neu über die Rolle der Religion(en) in der Gesellschaft nachzudenken, war mit konkreten Anforderungen versehen.[1] So müssten die Religionen sich dem Prozedere der Gesellschaft anpassen und ihre religiös motivierten Forderungen in die Sprache der Vernunft übersetzen.

Nun sind es verschiedene Punkte des gesellschaftlichen Diskurses im Jahr 2012, die einem zeigen, dass man um die Neubewertung der Rolle der Religion in einer post-säkularen Gesellschaft nicht herumkommt. Freilich empfinde ich die Art und Weise, wie um diese Punkte im gesamtgesellschaftlichen Diskurs gestritten wurde, eher als extrem beunruhigend als einen Fortschritt. Es wurde ja nicht über Wertebildung, Individualisierung, Freiheit und Subjektivität gestritten, sondern um die Bewahrung oder Eliminierung religiöser Phänomene. Insofern waren das alles doch noch sehr moderne Diskussionen und wir müssen auf eine vernünftige Debatte in post-säkularen Zeiten noch warten. Zu den Punkten, die unter dem Aspekt der Religion in der postsäkularen Gesellschaft neu erörtert werden müssten, gehören vor allem

  • die verstörende Beschneidungs-Debatte,
  • die wiederholt vorgetragene Forderung nach der Verschärfung des Blasphemie-Paragraphen und schließlich
  • der unerwartet stark wuchernde und wiederkehrende Antisemitismus unserer Gesellschaft.
Die Beschneidungs-Debatte

Seit vielen Jahren habe ich mich in Deutschland nicht mehr so unwohl gefühlt wie im vergangenen Jahr während der Debatte um die Legalität der religiösen Beschneidung. Die emotionale Kälte, mit der Menschen, die Vernunft und Vertretung der Menschenrechte für sich nahezu exklusiv in Anspruch nahmen, einer ganzen Religion die Weiterexistenz in Deutschland streitig machten, war erschreckend. Und dass sie dabei in Kauf nahmen, das Werk, das die Nationalsozialisten begonnen hatten, nun post-modern juristisch-technokratisch fortzuführen, war für mich nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar.[2]

Deutlich wurde für mich während dieser Debatte, dass ein grundsätzlicher Begriff von Religion, d.h. ein Verständnis dessen, was Religion in der zeitgenössischen Gesellschaft bedeutet bzw. bedeuten könnte, gar nicht mehr vorhanden ist. Ich spreche nicht vom anonymen Stammtischgerede in den Foren von Spiegel online, an dessen antisemitische Grundierung man sich mit den Jahren ja fast schon ‚gewöhnt‘ hat. Ich spreche auch nicht von jener Volksmeinung, die am liebsten alles verbieten möchte, was sie nicht versteht und was im eigenen Lebenshorizont nicht vorkommt. Mach ich doch auch nicht – dann dürfen die das auch nicht.

Ich meine jene Beteiligten am Diskurs, die für ein rigides Verbot der Beschneidung eintraten und – darauf aufmerksam gemacht, dass dies zumindest einer der beteiligten Religionen die vitale Weiterexistenz in Deutschland unmöglich mache – mit einem Ja und? reagierten. Die Menschen, auf die man dabei stieß, verstanden nicht einmal ansatzweise, weshalb andere Menschen Religion für lebensbestimmend und relevant halten. Sie verstehen es wirklich nicht und sie akzeptieren es auch bei anderen nicht. Sie denken, Religion sei ein subjektives Ausstattungsstück, das man ändern und variieren kann, wie die Farbe der Wohnzimmertapete. Sollen „die Juden“ doch einfach auf die Beschneidung verzichten oder ihre pubertierenden 14-Jährigen fragen, ob sie dieses „archaische Ritual“ an sich durchführen lassen wollen.

Ich kann noch nachvollziehen, dass jemand für sich persönlich mit Religion nicht anfangen kann. Das ist sein selbstverständliches Menschenrecht und bedarf keiner Rechtfertigung. Dass aber auf der anderen Seite die Empathie fehlt, sich wenigstens in anders Lebende und anderes Denken hineinzuversetzen, finde ich erschreckend. Man hat das Gefühl, dass Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern heute gar nicht mehr möglich sind, weil die Voraussetzungen des Gesprächs nicht gegeben sind.[3]

Auch die nun schon antisemitisch zu nennenden Implikationen der Argumente, die da eingesetzt wurden, waren beschämend. Die frühkindliche Beschneidung rufe schwerste seelische Schädigungen an den Beschnittenen hervor, meinten Vertreter der deutschen Kinderärzte. Und sie sagten implizit damit zugleich: Juden quälen systematisch ihre Kinder und alle männlichen Juden sind selbst gestört, weil sie einmal beschnitten wurden. Wenn man auch nur kurz darüber nachdenkt, wird einem übel.

Was bedeutet das aber für die Religion in der post-säkularen Gesellschaft? War die Debatte um die Beschneidung noch ein Nachklappen einer veralteten modernen, sozusagen säkularisitischen Debatte? Oder demonstriert sie uns, was mit den Religionen passieren wird, wenn die fortwährend weiter sich säkularisierende Gesellschaft meint, sie habe alle vernünftigen Momente von Religion assimiliert? Populärkulturell fühlt man sich ja bei der Diskussion durchaus an das Borg-Universum erinnert, das die Erfahrungen und das Wissen der anderen in sich aufnimmt, alles andere aber radikal ausschaltet. Die Borg, so heißt es, kennen weder Mitleid noch Gnade mit ihren Gegnern, weil sie die Assimilation als Befreiung begreifen.

Die Blasphemie-Diskussion

Lieber Bruder, die Kirche sagt dir Dank und wird Dir in Zukunft Dank sagen. Eure Amtspersonen haben recht gehandelt, als sie diesen Gotteslästerer zum Tode verurteilten.   [Philipp Melanchthon an Calvin]

Einen Menschen zu töten, heißt 'nicht', eine Lehre zu verteidigen, sondern einen Menschen zu töten.
[Sebastian Castellio an Calvin]


Die Rückkehr der Blasphemie-Diskussion war dagegen weniger überraschend als das urplötzliche Aufkommen der Beschneidungs-Debatte. Eigentlich wird ja inzwischen in immer kürzeren Abständen, ja eigentlich jedes Jahr eine Verschärfung der Blasphemie-Gesetzgebung gefordert. Das war so, als 2004 „Submission“ von Theo van Gogh erschien, es war so 2005 beim Karikaturenstreit, es war so 2006 bei der deutschen Ausstrahlung der Comic-Serie Popetown; und so kann man nun fast permanent ein derartiges Rauschen im deutschen und internationalen Blätterwald vernehmen.

Und dennoch: was im Sommer 2012 nach der Publikation der Titanic-Satire in Deutschland artikuliert wurde, war schon erschreckend. Es war ja nicht mehr das dumpfe christlich-fundamentalistische Stammtischgegröhle, das jede kritische Auseinandersetzung mit dem Christentum für eine Beleidigung des eigenen religiösen Gefühls hält. Mit diesem rechten Rand (der Kirchen) kann man leben, weil er im Wesentlichen aus unreflektierten und substanzlosen Reaktionen generiert wird. Sie sind oftmals eher amüsant als aufregend.

Nein, es waren Schriftsteller und Philosophen, die zu den lautstarken Vertretern einer Verschärfung der gesellschaftlichen Regeln wurden. Und die einen Tonfall anschlugen, den man jahrzehntelang in der Debatte unter Gebildeten nicht mehr gehört hatte. Die „klammheimliche Freunde“ an der Bedrohung von Satirikern durch Fundamentalisten war noch das Geringste, was zu hören und lesen war. Und die Argumente waren geschichtsvergessen und unseriös.

Den Blasphemie-Vorwurf kenne ich nun, seit ich Anfang der 80er-Jahre begonnen habe, mich mit Kultur in theologischer Perspektive zu beschäftigen. In aller Regel ist es ja so, dass sich jemand an etwas ganz Konkretem stört und es weg haben möchte. Dazu werden nun Möglichkeiten gesucht. Und im religiösen Bereich scheint es auszureichen, wenn man nur laut genug ruft: meine Gefühle sind verletzt. Man muss dann nicht mehr beweisen, dass diese Gefühlsreaktion sachangemessen ist, sondern bekundet nur seine Verletzung.

Ein typisches Beispiel dafür war 1982 das Bild „Die Vergabe der Begeisterung per Handschlag“ von Johannes Grützke in der EKD-Ausstellung zum Thema Das Abendmahl in der zeitgenössischen Kunst. Dort sah man um den Abendmahlstisch einige „geistig Behinderte“. Und sofort protestierten Fromme wegen der Verletzung ihrer religiösen Gefühle. „Solche Leute“ gehörten nicht an den Abendmahlstisch, das sei Blasphemie. Die Betroffenen fühlten sich durch die Darstellung einer Teilnahme von „Behinderten“ am Abendmahl tatsächlich in ihren Gefühlen zutiefst verletzt. Da sollte man sie durchaus ernst nehmen. Die Frage ist nur, was daraus folgt. Es hilft in dieser Situation ja auch keine Aufklärung, dass Jesu Einladung allen Menschen gilt.

Und nach meiner Wahrnehmung ist es in der Mehrzahl der Fälle von angeblicher Blasphemie so, dass man auf Gefühlsreaktionen stößt, die aufklärungsresistent sind und verlangen, das störende Objekt bzw. Ereignis müsse weg. Es kann sein, dass wenige Jahre später dasselbe Objekt von den gleichen religiösen Menschen positiv bewertet wird. Max Ernst mit seinem Bild „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen“ ist so ein Beispiel dafür. Erst wurde der Künstler dafür exkommuniziert und heute findet sich das Bild in Schulbüchern des Faches Religion. Aber der Protest „das verletzt meine religiösen Gefühle“ ist nur schwer vernünftig zu bearbeiten.

Im Sommer 2012 schrieb nun Martin Mosebach in der Berliner Zeitung einen Essay „Vom Wert des Verbietens“[4], der ein gutes Beispiel für die Zuspitzung der Argumentation durch Verdrehung der Argumente ist. Mosebach stellt zunächst heraus, dass Deutschland kein weltanschaulich-neutraler Staat sei. Zurückgreifend auf das sogenannte Böckenförde-Diktum, wonach der Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne, verlangt er den Schutz des Gedankenguts, auf dem der Staat basiere. Deshalb sollte der Staat Gott, auf dessen Geboten er seine sittliche Ordnung aufbauen will, vor Schmähung bewahren.

Heute aber sei in der Öffentlichkeit die Meinung mehrheitsfähig, die Christen seien geradezu dazu verpflichtet, die Schmähung ihres Glaubens klaglos hinzunehmen. Die Muslime würden dagegen nicht nur anders reagieren, sondern auch anders behandelt. Das sucht er unter Verweis auf die durch Muslime erzwungene Absetzung einer Kinovorführung des Films „Die letzte Versuchung Jesu Christi“ in London plausibel zu machen.

Dieses Beispiel ist insofern interessant, als es eine lange Vorgeschichte hat, die das Gegenteil von dem belegt, was Mosebach behauptet. Dem Autor der Filmvorlage, Nikos Kazantzakis, einem der bedeutendsten griechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – vor allem durch den Roman Alexis Sorbas bekannt –, wurde von der orthodoxen Kirche eine christliche Beerdigung versagt. Der Papst setzte 1954 Die letzte Versuchung Christi auf den Index der verbotenen Bücher. Der auf dem Roman basierende Film von Martin Scorsese „rief bei seinem Erscheinen 1988 Kontroversen und vor allem unter konservativen Christen wütende Proteste hervor. Die Geschichte von einem Jesus, der an seiner Berufung als Sohn Gottes zweifelt, mit den Römern kollaboriert, eine Frau begehrt und sich sogar dem Tod am Kreuz entzieht und eine Familie gründet, wurde als Blasphemie betrachtet. Die Kontroverse ging so weit, dass es auch zu gewalttätigen Protesten kam, wobei etwa auf ein französisches Kino ein Brandanschlag verübt wurde. In Chile wurde der Film verboten. In der Bundesrepublik Deutschland gingen bei der FSK über 1200, bei der FWB über 300 Protestschreiben ein ... 98 Prozent aller Schreiben trafen noch vor dem Kinostart ein, was daran lag, dass in kirchlichen Blättern vorab zum Protest gegen den Film aufgefordert worden war, um ein Verbot zu erwirken.“ [Wikipedia] So weit die ‚friedlichen‘ Reaktionen von Christen im Unterschied zur Reaktion der Muslime. Ich erinnere mich jedenfalls noch gut an die Blockaden bundesdeutscher Kinos durch aufgebrachte Christen.

Die BRD, so argumentiert Mosebach weiter, habe anders als andere Staaten im Grundgesetz eine „Freiheit der Kunst“ verankert – eine Garantie, die vielen Juristen fragwürdig erscheine, weil diese Freiheit durch Meinungs- und Pressefreiheit genügend abgesichert ist. Deutlich sei zudem, dass in der Geschichte der Kunst die Beschränkung dieser Freiheit der Entstehung von Kunst höchst förderlich gewesen sei.

Dass die Freiheit der Kunst im Grundgesetz nicht zuletzt deshalb dort steht, weil die Nationalsozialisten die Kunst als erstes angegriffen und verboten haben, unterschlägt Mosebach. Dass hunderte von Künstlern in ihrer Existenz vernichtet wurden, weil ihnen keine Möglichkeit der Artikulation gelassen wurde, scheint eben nur ein Kollateralschaden in der Pazifizierung der Gesellschaft zu sein. Er findet es besser, wenn Künstler für ihre unreligiösen Ansichten Risiken eingehen müssen:

„In diesem Zusammenhang will ich nicht verhehlen, dass ich unfähig bin, mich zu empören, wenn in ihrem Glauben beleidigte Muslime blasphemischen Künstlern – wenn wir sie einmal so nennen wollen – einen gewaltigen Schrecken einjagen ... Es wird das soziale Klima fördern, wenn Blasphemie wieder gefährlich wird.“

Nun ging es nicht um Schrecken, es ging um Mord und Totschlag, um Fatwas und Anschläge. Aber es wird deutlich, dass hier im Interesse des angeblich beleidigten religiösen Gefühls die Eskalation gesucht wird.

Der Philosoph Robert Spaemann hat kurze Zeit später diese Überlegungen des Schriftstellers Mosebach durch weitere Betrachtungen ergänzt.[5] Das deutsche Recht und vor allem die deutsche Rechtsprechung, so schreibt er einleitend, mute es dem religiösen Bürger zu, dass das, was ihm das Heiligste ist, ungestraft öffentlich verhöhnt, lächerlich gemacht und mit Schmutzkübeln übergossen werden darf.

Nun weiß ich nicht, in welcher Welt Robert Spaemann lebt, aber in der Welt, in der ich lebe, ist den Menschen vieles heilig, manches sogar sehr heilig, aber sicher nicht Gott oder die Kirche. Das trifft allenfalls wie Umfragen belegen für eine verschwindend kleine Minorität zu. Wenn ich mich in meinem Stadtviertel über den BVB Dortmund lustig machen würde, weil ich Schalke-Fan bin, dann bekäme ich etwas zu hören, weil ich heilige Gefühle verletzt habe: da verstehen meine Mitbewohner keinen Spaß. Über konventionell religiöse Fragen können wir allerdings problemlos kontrovers miteinander diskutieren, da agieren sie wie vernünftige Menschen. Allerdings kämen sie auch niemals auf die Idee, ihr Heiligstes gesetzlich schützen zu lassen und schon gar nicht darauf, die Staatsgewalt zum Schutz ihrer Gefühle einzusetzen.

Nach Spaemanns Meinung müssen Menschen, die an Gott glauben, durch den Staat geschützt werden. Sie sind es, wie er pointiert behauptet, die durch Blasphemie beleidigt werden, und zwar schwerer als durch die Beleidigung ihrer eigenen Person. Und auch für die Künstler sei das sinnvoll: Wem die Beleidigung der Religion so wichtig ist, dass er den Preis des Vorbestraftseins dafür zu zahlen bereit ist, soll ihn auch zahlen. Und was die Höhe betrifft, so müsste sie etwa das Doppelte dessen betragen, was auf Beleidigung von Menschen steht.

Man liest diese Sätze und fühlt sich unmittelbar ans Mittelalter erinnert. Man muss die Geschichte der Blasphemie[6] im Hinterkopf haben, um das Grauen zu ermessen, das Spaemann hier skizziert. Vor wenigen Jahrhunderten war der zentrale Moment bei der Beleidigung religiöser Gefühle, dass jemand evangelisch war. Fast drei Viertel der Prozesse der Stadtverwaltung von Lille zwischen 1585 und 1614 in Blasphemiefragen zielten überhaupt nicht auf die Beleidigung Gottes, sondern auf abweichendes Verhalten. Soll das sich wiederholen?

Die antijudaistischen Spitzen, die Spaemann einbaut, brauchen hier nur am Rande thematisiert werden, etwa wenn er vom alttestamentlichen Judentum im Gegenüber zum heutigen Islam spricht, oder behauptet, der Völkermord an den Juden in Europa sei „in eine quasi sakrale Ebene erhoben worden“. Das sind Sätze, die man auch bei Faurisson oder der Jungen Freiheit finden könnte. Der rechte Rand unserer Gesellschaft nennt das „Holocaust-Religion“.

Auch Spaemann rekurriert wieder auf den Protest der Muslime gegenüber dem Film „Die letzte Versuchung Jesu“. [Irgendwie komisch, konservative Katholiken scheinen alle dieselben Berichte zu lesen.] Seine Schlussfolgerung: „Christen reagieren auf Beleidigung nicht mit Gewalt. Muslime aber wohl.“ Das werden die französischen Kinobesitzer aber anders sehen, auf deren Kino von Christen ein Brandanschlag verübt wurde. Und das Kunstmuseum in Frankreich, in dem ein Kunstwerk von Andres Serrano nach dem gezielten Aufruf durch konservative Katholiken mit dem Hammer zerstört wurde, wahrscheinlich auch.

Es war Friedrich Wilhelm Graf, der unter dem Titel „Bürgertugenden lassen sich nicht erzwingen“ in der Neuen Zürcher Zeitung die Debatte auf die Ebene der vernünftigen Auseinandersetzung gebracht hat. Er weist darauf hin, dass Blasphemie alles andere sei, als ein klar definiertes Delikt:

„Im römischen Recht ging es nicht um die Leugnung oder Entehrung der Götter, sondern primär um die damit verbundene Gefährdung der staatlichen Ordnung ... Seit Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich in vielen europäischen Staaten gesetzliche Bestimmungen gegen öffentliche Gotteskritik, wenn sie das friedliche Zusammenleben der Menschen bedrohe.“[7]

In der Zwischenzeit, insbesondere in der nachreformatorischen Zeit „galten auch die gelehrte Kritik bestimmter kirchlicher Dogmen, die Polemik gegen den sündhaften Lebenswandel der Kleriker oder der Fluch aufs Sakrament als strafwürdiger Angriff auf Gottes Ehre.“ Das rief den Protest aufklärungsnaher Theologen hervor.

Der liberale Staat der Gegenwart ist dagegen auf weltanschauliche Neutralität verpflichtet und zwar aus guten Gründen, wie Graf schreibt: Der Staat „tritt für elementare Persönlichkeitsrechte der Bürger ein, etwa in der Abwehr von Diskriminierungen, Ehrverletzungen und Beleidigungen oder positiv im Schutz von Urheberrechten, kann aber den zumeist komplexen, oft auch widersprüchlichen Gefühlshaushalt von Menschen nicht unter Rechtsschutz stellen.“ Graf ergänzt ironisch: „Einige Zeitgenossen fühlen sich schon bei nichtigsten Anlässen beleidigt.“

Damit fokussiert Graf zu Recht die Frage darauf, wo es sinnvoll erscheint, dass der liberale Staat interniert zum Schutz der Bürger. Und er schlussfolgert:

„Recht kann Glaubensgefühle ebenso wenig schützen wie etwa ästhetische Emotionen ... Wollte der liberale Staat die damit verknüpften Emotionen als Persönlichkeitsrecht schützen, müsste er für bestimmte religiöse Gefühlsgehalte Partei ergreifen oder zwischen guter und weniger guter Religion unterscheiden – gegen die ihm gebotene Neutralitätspflicht.“

Meines Erachtens zeigt Graf sehr präzise, wie nicht nur der liberale Staat der Gegenwart, sondern auch der religiöse Bürger die Blasphemie einschätzen sollte. Der religiöse Bürger sollte seine Wünsche an den gesellschaftlichen Diskurs auch im gesellschaftlichen Diskurs vertreten und plausibel machen. Der Ruf nach dem Gesetzgeber zwingt diesen in eine Position, sich wertend zu einzelnen Aspekten der Religion zu verhalten. Das kann nicht seine Aufgabe sein – auch dann nicht, wenn die konservativen Kritiker immer mit dem Böcklenförde-Diktum darauf verweisen, dass der Staat sich nicht selbst verdankt. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat 2010 seine frühen Ausführungen wie folgt präzisiert:

„Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus.“[8]

In dieser Breite des Arguments – Christentum, Aufklärung und Humanismus – wird man ihm folgen können. Deutlich ist, dass es nicht um eine Begrenzung auf das Christentum geht, sondern um eine Öffnung zugunsten der ganzen Fülle der „gelebten Kultur“ der Moderne. Zur gelebten Kultur gehören dann tatsächlich alle: Religiöse und religiös Unmusikalische, Atheisten und Humanisten.

Der wuchernde Antisemitismus

Der dritte beunruhigende Punkt bei der Reflexion über Religion in der post-säkularen Gesellschaft ist das Fortdauern des Antisemitismus. Die weite Verbreitung antisemitischer Haltungen in der deutschen Bevölkerung kann kaum bestritten werden. Mir geht es dabei nicht einmal um den neuen Antisemitismus, der Israel ein Existenzrecht verweigert und versucht, heutige Juden mit damaligen Nazis auf eine Ebene zu stellen. Das ist widerwärtig bis ins Letzte und sollte auch so behandelt und geächtet werden. Worum es mir geht, sind Phänomene, die es so schon seit längerem gibt, die aber in jüngster Zeit wieder gehäuft auftreten.

Das ist zum einen die m.E. bewusst betriebene Desensibilisierung des Sprachgebrauchs. Also zum Beispiel die Bündelung der Begriffe Abtreibung und Holocaust oder Katholikenkritik und Pogromstimmung. Das ist die Verharmlosung nationalsozialistischer und historischer Gräuel, wenn man sie mit solchen aktuellen Phänomenen auf eine Stufe stellt, die damit überhaupt nichts zu tun haben. Es sind zunächst vielleicht wirklich nur dumme rhetorische Strategien. Man hält etwas, gegen das man sich engagiert, für besonders schlimm. Und damit alle anderen das auch einsehen, konnotiert man es mit Ereignissen, die allgemein als besonders schlimm bezeichnet werden. Die sprachliche Verbindung von Holocaust und Abtreibung, die unsäglich ist, wenn man auch nur etwas darüber nachdenkt, ist vermutlich aus dieser Motivation entstanden. Es sollte ein Gefühl des Entsetzens vom einen Ereignis auf ein ganz anderes übertragen werden.

Allerdings lässt sich beobachten, dass der Sprachgebrauch sich mittlerweile zum Negativen geändert hat. Heute wird explizit und wiederholt vertreten, die Abtreibung sei schlimmer als der Holocaust[9] und das Verhalten gegenüber Katholiken heutzutage schlimmer als das gegenüber Juden heutzutage, denn die Katholiken seien die Juden der Gegenwart. Darin liegt die dramatische Veränderung in der Gegenwart. Wenn also jemand im Kontext der Blasphemiedebatte unmotiviert von der Sakralisierung des Holocaust spricht, dann möchte er sagen, dass das eine illegitim aufgewertet und das andere illegitim abgewertet wird. Und genau diesen Vorgang würde ich als Fortschreibung des Antisemitismus bezeichnen, weil ich glaube, der tiefere Movens dieser Aussage liegt in der Abwertung des jüdischen Leidens.

Das zweite zu Benennende ist der direkte Antisemitismus, wie er sich auf reaktionären Plattformen christlicher und hier im Augenblick vor allem katholischer Provenienz artikuliert. An dieser Stelle nur ein paar exemplarische Details. Als die Diskussion um den verbalen Fehlgriff von Erzbischof Müller bezüglich der Pogromstimmung gegen Katholiken hochschwappte, schrieb im Forum der reaktionären Plattform kath.net ein „Diskutant“:

„Der Erzbischof hätte besser getan, sich im Vorfeld seiner Äußerungen des Wortes ‚Pogrom‘ (diskret) vom ZdJ genehmigen zu lassen. Die jetzt nachträglich und öffentlich erteile Genehmigung durch David Rosen ist natürlich nicht wirklich das Gelbe vom deutschen diskurs-politischen Ei.“

Diese Haltung findet ein anderer noch zu lasch, denn Rabbiner Rosen hatte ja hervorgehoben, dass kein Vergleich mit den Grausamkeiten der Schoah je angemessen sei. Deshalb wird ihm im Forum von kath.net entgegengeschleudert: „Kein Vergleich mit den Grausamkeiten der Schoah ist je angemessen? Historische Ereignisse sind immer vergleichbar. Außer Golgotha (sic!). Dafür ist kein Vergleich angemessen.“ Dazu passt, dass im gleichen Forum seitenlang darüber diskutiert werden kann, ob nicht „die Juden“ weiterhin für den Tod Jesu verantwortlich und daher Gottesmörder seien. Oder auch die bizarre Diskussion darüber, ob Jesus überhaupt Jude gewesen sei (Antwort: sei er nie gewesen, weil er vor Abraham war!??).

Bei all dem muss man wissen, dass das Forum von kath.net moderiert ist, d.h. keine Äußerung kann ohne die explizite Genehmigung eines Moderators eingestellt werden. Und diese Moderation wird in dem Sinne ernst genommen, dass zumindest keine abweichende Meinung jenseits des Ultramontanismus zugelassen wird. Fragt sich also, warum die Moderatoren glauben, dass „traditioneller“ Antisemitismus Rom-kompatibel sei. Man muss jedenfalls nicht bis zu Bischof Williamson oder zum inzwischen eingestellten kreuz.net gehen, um auf einen genuinen Antisemitismus christlicher Prägung zu stoßen. Es ist, als ob der Antisemitismus über einige Jahrzehnte im christlichen Bereich nur oberflächlich verschwunden gewesen wäre und nun wieder an die Oberfläche kommt.

Noch viel deutlicher artikuliert sich dieses Phänomen sicher im säkularen Bereich, etwa in den Kommentarspalten von Spiegel online oder der Jungen Freiheit. Es ist als ob die Anonymität des Internets all jene, die bisher fürchten mussten, für ihre Ansichten auch einstehen zu müssen, ermutigt, nun ihre krude Propaganda zu verbreiten. Was aber verbirgt sich noch unter der dünnen Oberfläche zivilisierten und aufgeklärten Verhaltens der Gegenwart? Was, wenn keine gesellschaftlichen Grenzziehungen gegenüber Antisemitismus mehr greifen?

Und nun?

Wenn das Phänomen der Religion in der post-säkularen Gesellschaft unter anderem auch dadurch gekennzeichnet ist, dass die alten Stereotypen zurückkehren, was heißt das für die Diskussion über die Rolle der Religion und ihren Status in einer Gesellschaft, die doch die moderne Abgrenzung von der Religion hinter sich gelassen haben will?

Entweder deutet man die Diskussion um die Beschneidung, um das Verbot der Blasphemie, um das Fortdauern des Antisemitismus so, dass wir noch gar nicht in der post-säkularen Gesellschaft angekommen sind, weil ein guter Teil der Debatten sich noch nach den Usancen der Moderne samt eines kruden Vulgärmaterialismus des 19. Jahrhunderts ereignet.

Oder man kann den Diskurs über Religion in der post-säkularen Gesellschaft nur als einen auf eine sehr kleine Gruppe von Intellektuellen begrenzten Diskurs begreifen, der keinesfalls ein Spiegelbild gesellschaftlicher Realitäten und verallgemeinerungsfähig ist, sondern eher einem Wunschdenken entspricht.

Oder im Zuge der Assimilation der religiösen Motive in die sich als vernünftig definierende Diskussion der Gesellschaft bleibt der Religion quasi nur noch ein irrationaler Kern, gegen den sich die Aggression der Nicht-Religiösen wendet. Nicht im Sinne der Phobie gegenüber dem Religiösem, sondern im Sinne des grundsätzlichen Nicht-Verstehens. Wenn sich also die Nicht-Religiösen nichts mehr von der Religion versprechen, was passiert dann?

Nun ist, darauf verweisen alle an der Diskussion Beteiligten, die Situation der westeuropäischen Gesellschaft nicht einmal ansatzweise repräsentativ für den weltweiten Diskurs. Was in Hamburg oder Berlin über Religion gedacht wird, ist eine Ausnahme von der Regel. Die Diskussion über Religion in der post-säkularen Gesellschaft ereignet sich in einer Welt, in der einige Gesellschaften ihre Säkularisierung erst noch vor sich haben, andere ihre Säkularisierung ganz anders gestaltet haben und die, die die Säkularisierung hinter sich haben, noch nicht wissen, was das für sie bedeutet. Genug Gesprächsstoff für die Zukunft.

Anmerkungen

[1]    Habermas, Jürgen; Reemtsma, Jan Philipp (2001): Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[2]    Es ist hier nicht der Ort, um all die Debattenbeiträge noch einmal aufzulisten und zu würdigen. Das Münsteraner Forum für Theologie und Kirche hat eine exzellente Übersicht zusammengestellt auf die ich hier pauschal verweise: http://www.muenster.de/~angergun/beschneidungsurteil.html

[3]    Schleiermacher, Friedrich D. (2004): Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern: Meiner, F.

[4]    http://www.berliner-zeitung.de/kunst/kunst-und-religion-vom-wert-des-verbietens,10809186,16414828.html

[5]    Spaemann, Robert (2012): Beleidigung Gottes oder der Gläubigen? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/robert-spaemann-zur-blasphemie-debatte-beleidigung-gottes-oder-der-glaeubigen-11831612.html.

[6]    Cabantous, Alain; Wilczek, Bernd (1999): Geschichte der Blasphemie. Weimar: Böhlau.

[7]    Graf, Fr. Wilhelm (2012): Bürgertugenden lassen sich nicht erzwingen. In: Neue Zürcher Zeitung, 17.09.2012. http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/buergertugenden-lassen-sich-nicht-erzwingen-1.17612883

[8]    http://www.fr-online.de/kultur/debatte/-freiheit-ist-ansteckend-/-/1473340/4795176/-/index.htmla

[9]    An dieser Stelle zeigt sich eine deutliche Nähe von sog. Lebensschützern zum deutschen Geschichtsrevisionismus.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/82/am432.htm
© Andreas Mertin, 2013