Jesus mit Füßen getreten?

Christliche Empörungsrituale

Andreas Mertin

Ein Autor und Philosoph regt sich in einem auf kath.net publizierten Text darüber auf, dass an einer amerikanischen Universität Studierende gezwungen worden seien, das Wort JESUS mit Füßen zu treten und dass ein Studierender, der sich geweigert habe, dem Zwang zu folgen, von der Universität aus dem Seminar ausgeschlossen worden sei. Das sei ein Skandal, denn:

„Vielen Menschen bedeutet der Name ‚Jesus‘ etwas, manchen Menschen sogar sehr viel, so dass es für sie schon eine Grenzübertretung darstellt, aufgefordert zu werden, auf diesen Namenszug zu treten und so symbolische Gewalt gegen den Namen dessen anzuwenden, der ihnen heilig ist. Zu verlangen, man möge die Zeichenkette ‚J‘, ‚e‘, ‚s‘, ‚u‘, ‚s‘ des Wortes ‚Jesus‘ vom Begriff des ‚Namen Jesu‘ trennen, übersteigt das, was Menschen zugemutet werden kann, vor allem dann, wenn die Semantik des Begriffs existenziellen Sinn birgt.“

Das ist natürlich Unsinn, denn genau in der Pflege der Fähigkeit zur Differenzierung zwischen beidem besteht die universitäre Ausbildung. Man nennt das Professionalisierung. Ich mag und darf von einem bayerischen Mütterchen aus Altötting nicht verlangen, die Differenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem zu begreifen, von einem Studierenden muss ich das. Es gehört - insbesondere in den Kulturwissenschaften – zum Handwerk.

Wenn man die Meldung freilich als solche betrachtet, glaubt man sie kaum. Ich kann mir keine Universität – zumal im religionssensiblen Amerika – vorstellen, in dem in einem Seminar und das auch noch ausgerechnet zur „interkulturellen Kommunikation“ derartiges von Studierenden quasi auch noch als Zugangsvoraussetzung verlangen würde. Dazu gleich noch mehr.


Aber tun wir für einen Moment so, als sei das tatsächlich wie beschrieben geschehen. Im Rahmen eines Universitäts-Seminars würden wir gebeten, das Wort JESUS auf ein Blatt Papier zu schreiben, dieses vor uns hin zu legen, und dann einen Schritt nach vorn zu tun und auf das Blatt zu treten. Wäre das eine (Aufforderung zur) „Blasphemie“? Würde derjenige, der die Anweisung befolgte, ein Sakrileg begehen, weil er auf die von ihm auf einen Zettel geschriebene latinisierte Form der griechischen Form des hebräisch/aramäischen Jeschua getreten ist? Würde man darin eine Blasphemie sehen, geschähe das allenfalls auf dem intellektuellen Niveau des Zweiten Konzils von Nicäa, von dem Calvin einmal sagte, nie sei der theologische Argumentationsstand so niedrig im Christentum gewesen, wie dort. Ein Konzil, auf dem man ernsthaft argumentierte, wenn eine Frau nur lange genug auf die Farbe Schwarz blicke, bekäme sie auch schwarze Kinder.

Einmal angenommen, man wäre philosophisch so naiv, diese Frage zu bejahen, weil man von einer auch im 21. Jahrhundert weiterhin gültigen Urbild-Abbild-Relation im Sinne des Platonismus ausgeht. Wie weit reicht diese Relation – wenn sie schon von Buchstaben bis zu Christus selbst reicht? Was wäre dann mit einem Spaziergang durch die JESUS STREET in Angeles City auf den Philippinen – dürfte man den Boden der Straße betreten? Oder die JESUS STREET in San Antonio in Texas – trägt sie ihren Namen zu Recht? Was wäre mit einer Zeitung, die in extenso über Jesus berichtet, und die man nun zum Verpacken von Müll verwendet? Oder wäre nur der bewusste Schritt zur Missachtung der handgeschriebenen Buchstabenfolge JESUS blasphemisch, alles andere nicht? Was wäre mit den beiden amerikanischen Atom-U-Booten Corpus Christi? Unverfänglich, weil man sie ja nicht mit Füßen tritt? Gibt es eine nach dem linguistic turn vom Beginn des 20. Jahrhunderts nachvollziehbare Begründung, warum etwas mit diesem Schritt „objektiv“ und nicht nur subjektiv verletzt wird?

Der schreibende Philosoph auf kath.net meint ja:

„wegen der Handlung (mit Füßen treten) und des Zielobjekts (einer in Form eines Namenszugs gestalteten Repräsentation des – im Glauben der Christen – Gottessohns und Erlösers Jesus).“

Das ist schon philosophisch unsauber argumentiert. Es handelt sich eben nicht um eine Repräsentation des Gottessohnes in Form eines Namenszuges, sondern um fünf Buchstaben, die von jemand als Repräsentation des Gottessohnes wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung kann man akzeptieren, man muss sie aber nicht teilen und schon gar nicht als objektives Geschehen ansehen. Es ist klar, dass das Ganze nur mit einem verdinglichten Glauben funktionieren kann und mit einer gehörigen Portion Dingmagie. Man muss schon glauben, dass der symbolische Akt der Verbrennung eines Korans oder einer Bibel de facto eine Bedeutung hat - und nicht nur eine (weltweit zu beobachtende) Wirkung. Allein, mir fehlt dieser Glaube.

Im Anschluss philosophiert der Autor über die Bedeutung des Namens Jesu Christi – so als ob diese in irgendeiner Form strittig gewesen wäre. Und er reklamiert für sich persönlich, die gleiche Sensibilität auch angesichts anderer Religionen und Worte wie „MOHAMMED“ zu pflegen. Dass er in diesem Kontext das Tetragramm verwendet und die besondere Sensibilität des Judentums in dieser Frage missachtet – geschenkt.


Kommen wir zurück zur Ausgangsgeschichte vom Universitätsstudenten, der leiden musste, weil er nicht auf den Namen JESUS treten wollte. Wie man sich auch vorher schon denken konnte, ist die Geschichte kaum so passiert.

Im Internet kursieren zwei unterschiedliche Versionen des Ablaufs: die von christlich-konservativen Medien verbreitete und die Erklärung der Universität. Unbestrittener Kern beider Versionen ist, dass in einem Seminar für interkulturelle Kommunikation eine Übung veranstaltet wurde, die den Eklat ausgelöst hat. Die Übung ist einem Unterrichtswerk zum Kurs entnommen. Dort heißt es wörtlich:

"Have the students write the name JESUS in big letters on a piece of paper … Ask the students to stand up and put the paper on the floor in front of them with the name facing up. Ask the students to think about it for a moment. After a brief period of silence instruct them to step on the paper.”

Bis dahin stimmen die Versionen der Geschichte also weitgehend überein. Und sie ist jetzt schon faszinierend wegen ihrer religionswissenschaftlichen Implikationen. Denn wieso kann/darf man einfach die Buchstabenfolge JESUS im Sinne des Gottesnamens zu Papier bringen und verstößt nicht schon damit gegen das Missbrauchsverbot der Bibel? Ist der Name als solcher nicht heilig (wie im Judentum)? Und was sagt das über die Religion? Aber um diese Frage ging es im Seminar nicht. Sondern um etwas Anderes.

Genau an dieser Stelle beginnen die Abweichungen in der Schilderung des Geschehens.

Der Student – ein Mormone – sagt, die Zumutung des blasphemischen Schrittes habe ihn gehindert, das Geforderte zu tun, er habe sich bei der Universitätsleitung beschwert und daraufhin sei er von der Teilnahme des Kurses ausgeschlossen worden. Nun muss man sagen, wäre er gezwungen (und nicht gebeten) worden, auf das Blatt Papier zu treten und zudem bei Verweigerung des Schritts mit Verweis aus dem Seminar bedroht worden, wäre das absolut skandalös. Es ist aber mehr als zweifelhaft, ob dem so war.

Denn die Universität sagt, die Weigerung, den Schritt zu tun, sei gerade Teil und Sinn der Übung gewesen und niemand sei gezwungen worden, auf das Blatt zu treten und niemand sei aus dem Seminar ausgeschlossen worden. Zu dieser überlieferten Version passt der Text im Unterrichtswerk, der nämlich fortfährt:

„After a brief period of silence instruct them to step on the paper.
Most will hesitate. Ask why they can't step on the paper.
Discuss the importance of symbols in culture."

Es geht also, ganz im Gegenteil zu dem, was uns der Philosoph auf kath.net und all die anderen konservativen christlichen Quellen im Netz ansinnen wollen, darum, zu erkunden, ob und warum in unserem Verhaltenscodex eine kulturelle Schranke eingebaut sein könnte, die uns daran hindert, derartige Schritte zu tun. Interkulturelle Kommunikation zu studieren bedeutet, verstehen zu lernen, warum manche Worte Menschen so wichtig sind, dass sie nicht einfach mit Füßen darauf treten können, während es tausend andere Buchstabenfolgen gibt, bei denen genau das keine Probleme bereitet. Und dann macht die geschilderte Übung überhaupt erst Sinn. Und es ist gar nicht sinnvoll, jemanden vom Seminar auszuschließen, der den Sinn der Übung – die Wahrnehmung einer kulturellen Schranke - erkannt hat. Wohl aber ist es plausibel, jemanden kritisch zu befragen, der den Sinn dieser Übung als blasphemisch abtut.

Noch einmal: es geht in der Übung nicht darum, auf das Papier zu treten, sondern darum, zu beobachten, was in uns passiert, wenn wir aufgefordert werden, dies zu tun. Wer schon die Reflexion darüber abweist, hat schwerlich etwas in einem Seminar für interkulturelle Kommunikation zu suchen. Wie will er denn verstehen, was etwas für andere bedeutet, wenn er sich nicht – sozusagen im Probehandeln – in ihre Lage versetzt?

Der Philosoph auf kath.net argumentiert dagegen dogmatisch, ja dogmatistisch. Unter keinen Umständen darf man auch nur aufgefordert werden, den Akt des Blasphemischen zu denken. Auch nicht, wenn man nur erkunden will, wo die Schranke dazu im eigenen Kopf aufgerichtet wird. Eine solche Einstellung hat aber mit dem Erkundungsauftrag der Universität nichts zu tun. Sie ist de facto unwissenschaftlich.

Das interkulturelle Seminar dagegen agiert erfahrungsorientiert. Es setzt – wie ich allerdings meinen würde: kontrafaktisch – eine kulturell vermittelte Schranke in den Menschen voraus, die die Mehrzahl der Probanden daran hindert, den geforderten Schritt zu tun. Ähnliche Voraussetzungen kennen wir von Levinas bezüglich der Verletzlichkeit des menschlichen Antlitzes.[1] Ich würde dem entgegenhalten, dass die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts dagegen sprechen, dass diese kulturelle Schranke bei allzu vielen Menschen existiert. Wenn schon das Antlitz eines Menschen andere Menschen nicht daran hindert, diese zu töten, warum sollte es eine Buchstabenfolge? Aber wer in dieser Frage Recht hat, kann nur erkundet und nicht einfach nur behauptet werden. Und um es evident zu machen, kann man zu dieser Übung greifen. Darin liegt nichts Verwerfliches.

Wichtig ist es deshalb festzuhalten, dass der Sinn der Übung in der Erörterung der Bedeutung kultureller Symbole liegt: Discuss the importance of symbols in culture! Die Übung lebt von der impliziten These, dass es kulturell vermittelte Symbole gibt, die Menschen zögern lassen, willkürlich mit ihnen zu verfahren. Ich würde das eine religiöse These nennen, zumindest aber eine religiös relevante. Und es gehört schon ein bestimmtes Maß an Böswilligkeit dazu, dieses Anliegen ins Gegenteil zu verkehren.[2] Aber das kulturkonservative Auge sieht nur, was es sehen möchte, und nicht, was wirklich geschieht.

Anmerkung

[2]    Allenfalls könnte man mit dem Milgram-Experiment argumentieren, dass einige Teilnehmer aufgrund des Autoritätsgefälles im Seminar dazu verführt werden, eine Aktion zu vollziehen, die sie an sich ablehnen würden. Der Aufbau der Übung geht aber vom Gegenteil aus.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/82/am437.htm
© Andreas Mertin, 2013