Anfangen und Aufhören

Armin Münch

Eine interessante Theorie des Beginns von Religion arbeitet mit dem Begriffspaar "Anfangen" und "Aufhören". Die Anregung dazu verdanke ich dem Buch des Philosophen Heinrich Rombach „Ursprung“. Ausgehend vom semantischen Potential dieser Begriffe (mancher wird vielleicht diese Etymologien als Ety-Mogeleien betrachten) wird das "Anfangen" wörtlich genommen und als ein „Sich auf die Jagd begeben“ verstanden. Als Fangen-wollen, den Fang suchen, Beute machen wollen.

Das primitive Leben unserer Vorfahren kreist ja vorwiegend um die Nahrungsbeschaffung. Das Fangen ist somit ein permanentes Anfangen. ("Nach der Jagd ist vor der Jagd"). Es ist eine Be-fangenheit und Fixiertheit auf dieses Eine. Tunnelblick. Alles dreht sich um das Haben oder Nicht-Haben von Nahrung. Das Leben hing vom erfolgreichen Fangen ab. So gesehen eine Art Monismus. Dieser Zustand ist ein Permanenter, auch nach der Jagd, beim Zerlegen der Beute.

Dabei kann es nun aber auch zum „Aufhören“ kommen. Wieder wörtlich verstanden. Als eine Aufwärtsbewegung. Ein Heben des Kopfes, als ein Hören, ein Horchen, ein Lauschen: "War da etwas? Ein Feind? Gefahr? Oder ein Freund? Erging eine Stimme an mich?" In diesem Kopf-Heben und Aufhorchen / Aufhören geschieht ganz Elementares: Unterbrechung und Distanzgewinn. Es klafft ein Raum auf, eine Spalte öffnet sich. Zuerst tatsächlich, räumlich: zwischen Kopf (Augen) und Hand, die ein Werk tut. Beides trennt sich gewissermaßen. Das vorherige unbewusste bzw. bewusstlose Ineinslaufen von Kopf (Auge und Gehirn) und Hand beim Jagen und Beutezerlegen, eine instinktive, traumwandlerische Gesamtbewegung, wird nun aufgespalten, getrennt in ein "Ich hier" und "meine Hand dort". Der französische Paläontologe Andre Leroi-Gourhan entwickelt übrigens in seinem Werk "Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst" (deutsch 1980), eine ganze Entwicklungsgeschichte und Anthropologie aus dem Verhältnis des Menschen zu seiner Hand.         

Diese Trennung, dieser Riss ist der Ur-Sprung von Bewußtsein und zugleich der Beginn von Religion. Es ereignet sich nämlich ein Dualismus. Ja, der Ur-Dualismus. Sozusagen die Ur-Teilung. Der Mensch ist nun nicht mehr einfach, und er ist nicht mehr Tier.

Zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenen klafft eine Differenz. Es entsteht Subjekt und Objekt.

Was ist der Auslöser für diese dramatische Entwicklung? Das Aufhören bzw. Aufhorchen wird ausgelöst vom Angerufenwerden durch eine Stimme. Aber: Was für eine Stimme? Da ist doch niemand. Es ist keine äußere Stimme. Denn da ist in der Tat kein Sprechender. Aber es ist auch keine innere Stimme. Ist es dann eine eingebildete Stimme? Halluzination?

Von wegen. Dieses einem-fiktiven-Ruf folgende Aufhören ist der Keim von Religion. Und diese Stimme kann genannt werden das "Wort Gottes". Es wird im Christentum "Christus" genannt.

Aber Christus und Gott sind nur Benennungen, Labels, Etiketten für dieses Ereignis, dieses Phänomen, diese Erfahrung. Denn der "Ruf" ergeht von der Wirklichkeit selbst! Gott, Christus, die Wirklichkeit: Das ist dasselbe. Das muss in eins gedacht werden.

Ja, wir müssen das zu sagen wagen. Sonst bleiben diese Worte bloße Begriffe und sind Chimären. Sonst werden wir keinem von ihnen gerecht. Nicht der Wirklichkeit und nicht Christus und nicht Gott.

Also: Die Wirklichkeit hat die Fähigkeit, sich mitzuteilen. Der Mensch hat die Fähigkeit, diese Mitteilung wahrzunehmen. Das geht ineinander. Das ist wie eine Passung, eine Verschränkung. Und diese Mitteilung ist kein Produkt des Menschen! Also keine Projektion. Diesen - mit Sicherheit gegen diese These erhobenen - Verdacht können wir gleich zurückweisen. Die Wirklichkeit hat die ontologische Priorität.

Das Angesprochenwerden des Menschen löst dann sofort eine geistige Konstruktion aus. Eine Vision. Der Stimme wird Subjektivität zuerkannt. "Da ist ein Subjekt, das mich anspricht!" Dieses Subjekt wird als Gott identifiziert bzw. Gott genannt. Dadurch wird die Wirklichkeit anthropomorphisiert, personalisiert. Denn Gott (die Wirklichkeit) hat unweigerlich anthropomorphe Züge. Das ist in jeder Religion so, wie "Gott" dort auch heißen mag. Zuwendung hat eo ipso immer dieses personale Element. Ein Antlitz. Die jüdische Religion kreist um dieses Antlitz des Anderen. Und der Philosoph Emmanuel Levinas (1905 - 1995) entwickelt daraus eine ganze Philosophie. 

Das biblische Bild dieser dargelegten Entwicklung haben wir in Genesis 3,8f., wo die Menschen, Adam und Eva Gott hören, wie dieser abends im Garten Eden herumgeht und wo Adam Gott rufen hört "Wo bist du?". Da ist das Auf-Hören in den biblischen Mythos verkleidet und wird erzählt.

Die Unterbrechung durch das "Aufhören" führt, wie gesagt, zur Spaltung in Subjekt und Objekt. Damit dann auch zum Sehen. Und zum bewussten Wahrnehmen. Und zum Denken. Denn Denken beruht auf Dualismus. Die kleinste denkbare Einheit ist nämlich die Zwei! Nicht die Eins.

Dieses Sehen (der eigenen Hand, der Beute) löst wiederum, simultan, eine weitere Konstruktion aus, eine Vision. Ich sehe! Also werde ich auch gesehen!

Da ist ein Subjekt, das mich sieht. Mein Sehen und mein Gesehenwerden sind zwei Aspekte desselben Vorgangs.

Hier, beim Sehen-Können meldet sich gleich die Ahnung darum, dass dieses Sehen nicht eine selbst hervorgebrachte Leistung ist, sondern dass ein vorliegendes Vermögen einsetzt, greift, den Menschen er-greift und ihm dieses Sehvermögen schenkt. Es ist verdankt, nicht selber produziert. Gabe. Hier setzt auch die ganze Thematik Schuld, Gewissen und die entsprechenden Entschuldigungs-Rituale wie Opfer und Kulte an. Die Ur-Schuld (Sünde) besteht in der Erkenntnis, daß das Leben verdankt ist. Und daß man diesem (unbekannten) Geber Dank schuldet. Das Leben wird aber weitgehend "danklos" zugebracht.

Dazu Friedrich Hölderlin:

Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon
Und alle Himmelskräfte verscherzt, verbraucht
Die Gütigen, zur Lust, danklos, ein
Schlaues Geschlecht ...

Zitat aus seinem Gedicht „Natur und Kunst oder Saturn und Jupiter“.

Der Opferkult mit dem Urschema des Sündenbock-Rituals hat darin seine Wurzeln.

Wenn Paulus schreibt: "Dann werde ich erkennen, wie ich erkannt bin." (1. Kor 13, 12), dann ist das ein Reflex dieses doppelten Sehvorgangs.

Dieses Sich-Angesprochen-Fühlen und Sich-Angesehen-Fühlen hat aber immer den Charakter des Fiktionalen, Irrealen. Denn da ist niemand!

Unausweichlich: Negative Theologie.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/82/arm01.htm
© Armin Münch, 2013