Abenteuer Gegenwart: Bernard Schultze - Gegenwelten

Stichworte zu Arbeiten von Bernard Schultze

Barbara Wucherer-Staar

Mit den Migofs - diesen fragilen, organischen, in den Raum greifenden Gespinsten - Mischwesen aus Pappmaché, Gips, Ästen und Draht, benannt nach einer lautmalerischen Assoziation - halb Figurenpuppe, halb phantasievolles Raumgefüge - damit hat er in den 1960er Jahren für Aufsehen gesorgt. Dabei, sagt Bernard Schultze (*1915, Schneidemühl / Westpreußen - †2005 Köln) wollte er lediglich „… im Zwischenreich festen Fuß fassen, auf dem schmalen Grenzgrat … balancieren, der in Unbekanntes führt. Die Ergebnisse sind die Reliefbilder. Sie könnten Übergänge sein - vom Organischen ins Anorganische, von Blume zu Tier, wie Beckett im >L´Innommable< das aufs äußerste reduzierte Menschsein als Übergangsexistenz von Mensch zu Gewächs darstellt.“[1]

Eine Werkschau im Museum Küppersmühle gibt einen beeindruckenden Überblick mit rund 80 ausgewählten Arbeiten nach 1944: Gemälden, Zeichnungen, Reliefbildern, Migof-Objekten, Rauminstallationen, Bühnenbildern. Frühere Werke gingen bei einem Luftangriff auf Berlin verloren. Das Werk des international renommierten Malerpoeten und Mitbegründer des Deutschen Informel, der 1959, 1964 und 1977 an der documenta in Kassel teilnahm, gilt als eine sehr persönliche gemalte (Kunst)zeitgeschichte. Viele sehen in diesem stetigen, assoziativen und „inneren Monolog“ den Bildern und Objekten auch Erinnerungen an seine Teilnahme an den Feldzügen in Russland und Afrika; er selbst spricht von einem Neubeginn nach den „Jahren der Einschnürung“.

Surreal

Dabei greife er auch, sagt er, auf frühere Motive und Surreales zurück.[2] Sonja (1945/46) zum Beispiel, das surreale Bildnis einer jungen blonden Frau, die sich mit erhobenen Armen vor dem Hintergrund einer flammenden (russischen) Stadtkulisse, über einem Fluss mit Segelschiffen und einer Auenlandschaft mit kleinen, geschäftigen Figuren reckt. Sie schaut gemeinsam mit einer maskenhaften Fratze in einen Spiegel (oder ein Spiegelbild?), den ihnen ein Zirkusclown entgegenhält. Ihre Blicke treffen sich im Spiegel: wie jetzt weiter (-malen), wenn alles in Trümmern liegt? Wie Ensor, Breughel, Kubin, Erich Heckel, Max Ernst?

Informel / Abstraction Lyrique

In einer Zeit, die Anschluss an die während des Nationalsozialismus aussortierte Avantgarde suchte, die ebenso neue, tragfähige Formulierungen suchte, werden bildnerische Strategien des Informel und der Lyrischen Abstraktion wichtig. Unterschiedliche Positionen fanden sich in Paris, das Zentrum dieser aktuellen Kunst war. Dazu zählten neben der geometrischen Abstraktion und Werken der École de Paris vor allem die der beiden „Urväter“ und Antipoden des Informel und Abstrakten Expressionismus: Wols und Pollock.

Auch wenn der französische Maler Camille Bryen diese intuitive, informelle Malerei ironisch mit "Der Ausdruck ist für die Zitronen" kommentierte, standen gerade diese visuellen Gedächtnisbilder und offenen Kunstwerke dem Existentialismus nahe und brachen mit Traditionen. Für sie galt: Kunst = Leben, Bild = Sein. Im Prozess des Malens wurden Raum und Zeit neu formuliert: Farbe wurde zum Material, Linie eine energetische Kraft. Sie wirkte nachhaltig auf informelle Wegbereiter wie die 1952 begründete Gruppe Quadriga (Bernard Schultze, Karl Otto Götz, Otto Greis und Heinz Kreutz), Hann Trier, Emil Schumacher, der Maler und Kunstschriftsteller Heinz Trökes.

Zur Zeit des Kalten Krieges erreichte diese abstrakt-expressive und lyrische Malerei als (bessere) "Weltsprache" 1959 auf der documenta 2 ihren Höhepunkt - eine Kampfansage an die Staatskunst in Osteuropa. Im Zentrum stand allerdings die amerikanische Malerei, das deutsche Informel hing auf dem Dachboden des Fridericianums.

Mehr noch als die Werke von Wols und Pollock, so Schultze in einem Interview, habe ihn die vitale, farbige und nuancenreiche Malerei des in Paris lebenden Kanadiers Jean-Paul Riopelle beeinflusst, dessen Werke er 1951 in der Schau Véhémences confrontées in der Galerie Nina Dausset in Paris sah: „ … das war die Befreiung: Dieser malerische Automatismus, den wir bei Riopelle sahen. … Ich malte … anders als Riopelle. Aber den Mut zu haben, einfach loszulegen, ohne zu wissen, was dabei wird, darum ging es mir. Ich habe Bilder übermalt, wieder neu gemalt, so lange, bis ein Bild ein Bild war und bis ich zufrieden war. Das konnte lange dauern.“[3]

Der Beginn seiner Arbeiten, erläutert Schultze seine künstlerische Strategie, sei ohne Konzept. Assoziation erzeuge weitere Assoziationen; Es „ … entsteht eine Komposition, die den geringsten Teil an Zielsetzung und den größten an labyrinthischem Ablauf von Assoziationsformen, Inhalten aus bildnerischen Mitteln und einen gewissen Anteil an Literarischem aufweisen soll.“[4]

Raum-Zeit-Kontinuum

Es finden sich zunehmend differenzierte Farbe-Textur-Gefüge, deren Titel auf den Inhalt verweisen: Aus der Welt Ensors (1951), Insektenwelt (1952), Nordisch oder Geografische Situation I (1955). Seit etwa 1956 erobern Schultzes L´Innommables -  Reliefbilder aus eingearbeiteten Textilien, Kunststoffpaste und anderen Materialien auf Leinwand - den Raum. Diese „Unbenennbaren“ stehen - so Kuratorin Eva Müller-Remmert, an der Grenze von Organischem zum Tod, von Wachstum und Zerfall. Dazu zählen Oktsis (1958) oder Lynth (1960). Oktsis geht zurück auf ein Vanitas-Motiv, in dem die für die Physiognomie typischen Unterscheidungsmerkmale reduziert sind auf Augenhöhlen, zertrümmerten Nasengrat und eine mundähnlichen Partie, die in eine Höhle übergeht. Lynth ist in seiner Gesichtshaftigkeit auf eine Mundhöhle reduziert, aus der scheinbar organische, welke Blüten und Blätter teilweise über das Bild hinausgreifen.

Migof

Schichtungen im Raum und in der Zeit weiten sich aus zu Migof-Skulpturen. Ihre Texturen und Formen beinhalten vielfältige Bezüge. Frappierend ist die Analogie zu surrealen Zwischenwelten von Max Ernst, etwa Der Baum (1951, Museum Ludwig, Köln).

Unter Schultzes skurrilen Metamorphosen findet sich ein kopfloses Torso-Mannequin-Migof (1965) - ein Porträt der inzwischen um zwanzig Jahre gealterten Sonja? Die Schaufensterpuppe mit Draht, Textilien, einer Handtasche und Pumps steht auf einem kleinen Müllsockel. Den rechten Arm hält sie graziös mit gespreizten Fingern nach oben. Über und über ist sie mit Farbe bekleckert und zerfleddert, aus dem Wesen wachsen diverse Blumen, Gekröse, organische Plastik-Masse, ein Oberschenkel ist aufgeschlitzt.

Ebenso wie die Migof-Gruppe, verdorrt und von den Wäldern verschlungen, ein Migof-Picknick, oder Migof im Mai - beinhalten diese Kunstwesen, so Schultze „ … das Moment der Zerstörung, das Infrage stellen der scheinbar glücklichen Verpackungswelt, was ich in meinen Puppen, als normiertes, manipuliertes Schönheitsideal durch Zerstörung und phantastische Wucherung zu erreichen versuche.“[5]

Anders als Giacometti bricht Schultze Prinzipien der traditionellen Plastik - Innen und Außen, Hülle und Kern - auf, verschränkt sie bisweilen miteinander. Wie in seinen Bildern kann der Labyrinth-Raum aus mehreren Blickwinkeln erschlossen und (wenn erlaubt) durchgangen werden. Die Figurationen in Objekten und Bildern könnten auch als Gegenentwurf zum Zeitalter neuer Forschungen und Technologien, von Raumfahrt und Wettrüsten gesehen werden. Manche erinnern an ein Kruzifix (Blauflügel-Migof und Migof Cadavéreux). Oder sie sind, wie Schultze gerne zitiert wird „Vielleicht die Heiterkeit nach der Katastrophe“.[6]

Fast parallel entstehen die Werkgruppen der Tabuskris („Schrift-Zeichen-Bilder“) und der fragilen Zungen-Collagen.

Rückkehr zur - raumgreifenden - Malerei

Unter seinen assoziativen, lyrischen Bild-Raum-Gefügen mit teilweise figürlichen Wesen finden sich seit den 1970er Jahren Riesenformate, Bilder, die auf seine Faszination an der Malerei des Mittelalters zurückgeführt werden - von Grünewald, Altdorfer, Jörg Ratgeb und Adam Elsheimer. Zu den beeindruckendsten Arbeiten zählen Schultzes Grisaille-Werke: aus unendlich vielen „barocken“ Schichtungen und Nuancen zwischen schwarz und weiß erscheinen Migofs (Migof-Parthenon II, 1972, Migof-Zentaurisch, 1975), Walpurgis-Tag (1989, 260x400 cm). Es finden sich intensiv farbige, dynamische Arbeiten, die den Blick auf eine (romantische?) Innenwelt lenken: Welch drängendes Traumgeschehen, 1988 (200x380x30cm), E.T.A. Hofmanns Eskapaden (1988, 200x780 cm), Rot poltert herab 1989 oder - Unter unseren Füssen gibt´s keine Vernunft, 1990.


Walter Smerling, Eva Müller-Remmert, Bernard Schultze, Gegenwelten, Köln: Wienand-Verlag, 2012 (Katalog der Ausstellung Bernard Schultze - Gegenwelten, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, 19.10. 2012 - 20.1.2013)

In der Dauerausstellung des Museums zeigen zentrale Werke seine spezielle Position in der Kunst nach 1945.

Literatur:
  • Phillip Gutbrod, In Deutschland blieb Wols unbekannt, in: Martin Schieder, Isabelle Ewig (Hg.), In die Freiheit geworfen, Positionen zur deutsch-französischen Kunstgeschichte nach 1945, Passagen, Bd. 3, Berlin: Akademie Verlag GmbH, 2006, S. 357.
  • Claudia Posca im Gespräch mit Bernard Schultze am 23. Dezember 1998 in Köln: Das Informel ist eine Keimzelle gewesen …, in: Museum am Ostwall (Hg.), „Informel, Der Anfang nach dem Ende“, Bd. I, Dortmund 1999, S. 258 ff.
  • Bernard Schultze, Gedanken über Beziehungen meiner Texte zu meinen Zeichnungen und Migofs, in: Bernard Schultze, Migof-Reden, Texte und Zeichnungen, Stierstadt im Taunus: Verlag Eremiten-Presse, 1971, S. 68ff..
  • Germain Viatte (Hg.), Paris-Paris, 1937-1957, München: Prestel, 1981, mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Werner Spies.
Anmerkungen

[1]    Bernard Schultze, L´Innommable, Manuskript 1960 nach: Remmert, S. 15.

[2]    Posca, S. 260.

[3]    Als weitere Anregung führt Schultze Hans Prinzhorns Bildnerei der Geisteskranken an; ob Schultze Wols noch persönlich kennengelernt hat, ist unklar; im Gespräch mit Claudia Posca erwähnt Schultze, er habe Wols später kennen gelernt (Posca, S. 258). Philipp Gutbrod führt an, dass Schultze den „Kunstpapst“ nicht mehr persönlich kennen lernte“ (Gutbrod, S. 357). Vermutlich war Wols, der im September 1951 starb, schon sehr krank. „Einflüsse“ finden sich in frühen informellen Arbeiten Schultzes. Nina Dausset zeigte Werke von Wols, Pollock, Riopelle, de Kooning, Bryen, Mathieu und anderen (Viatte, S. 220).

[4]    Schultze, Migof-Reden, S. 68.

[5]    Er schreibt weiter über seine Texte, die analog zu seinen Bildern entstehen: „Ich verwende dementsprechend Vokabeln des Unrats, Bodensatz, Geschwürbeschreibung, ekelerregende Zustände, die unversehens blühen können. Eine phantastische Anatomie. So ist es verständlich, daß ich mich früh mit Trakl, Rimbaud und dem späten Hölderlin beschäftigt habe.“ Schultze, Migof-Reden, S. 69-70.

[6]    Remmert, S. 16.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/82/bws11.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2013