Ein Hiob auf dem Meer

Ang Lees 3D-Film Schiffbruch mit Tiger

Hans-Jürgen Benedict

Nach Weihnachten lief in den Kinos mit großer Publikumsresonanz der 3D-Film von Ang Lee Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger an. Er erzählt die Geschichte eines indischen Jungen, der einer Schiffskatastrophe entronnen in den Weiten des pazifischen Ozeans allein mit einem Tiger im Rettungsboot überlebt und nach 227 Tagen in Mexiko an Land gespült wird. Eine unwahrscheinliche Geschichte, die Yann Martel in seinem Erfolgsroman 2003 erzählte und die für unverfilmbar galt, bis der aus Taiwan stammende Filmregisseur Ang Lee den Stoff, Abenteurerroman und spirituelle Geschichte zugleich, für sich entdeckte. Und uns die Zuschauer in 3D auf die Schiffbruchfahrt mitnimmt. Als säßen wir selbst in dem Boot.

Der Film beginnt zunächst als witzig- beschauliche Kindheits-und Jugenderzählung des Helden (Suraj Sharma), der sich in der Schule durchbeißen muss (er heißt Piscine und wird Pisser genannt) und auf religiöser Sinnsuche ist. Aufgewachsen als Hindu entdeckt er Jesus Christus (dass Gott ihn aus Liebe kreuzigen ließ, empört ihn) und den Islam - nach dem Motto das Göttliche ist vielfältig, die wahre Religion nicht erkennbar, praktiziert er alle drei Religionen simultan. Sein Vater, ein Anhänger von Rationalität und Wissenschaft, betreibt einen Zoo im indischen Pondecherry, und dort hat es dem jungen Pi ein bengalischer Tiger angetan, namens Richard Parker, mit dem er sich anfreunden möchte (wie ein anderer Mogli, der mit den wilden Tieren aufwächst). Doch sein Vater erteilt ihm eine Lektion – zeigt ihm, wie der Tiger vor seinen Augen ein Zicklein zerreißt - der Tiger, in dessen Blick wir uns nur selber spiegeln, ist und bleibt ein Raubtier. Er ist faszinosum und tremendum zugleich (wie nach einer Definition von Rudolf Otto das urtümlich Heilige).

Als eine politische Krise Pondecherry erschüttert, verlädt der Vater seine Familie und die Zoo-Tiere auf einen japanischen Frachter, um sich nach Verkauf der Tiere in Kanada dort eine neue Existenz aufzubauen Und da geschieht das Unglück, das Schiff kentert im Sturm, alle gehen unter bis auf Pi und den Tiger. Zunächst sind noch ein Zebra, ein Orang-Utan, eine Hyäne dabei, diese frisst Zebra und Affe und wird schließlich vom Tiger, der sich unter einer Persenning verborgen hatte, gefressen. Pi, nun allein mit dem Tiger, baut sich ein Floss aus Schwimmwesten und Rudern, um Abstand von dem Tiger zu halten. Er beginnt das Raubtier zu zähmen, indem er es mit Fischen füttert und es gleichzeitig durch Erzeugung von Seekrankheit infolge Schaukeln des Bootes im Zaum hält. Eine stets gefährdete Koexistenz. Pi als Dompteur, mit dem wir Zuschauer so zittern, als säßen wir der Bestie gegenüber. Ang Lee schafft das Unmögliche – der aufwendig computergenerierte Tiger (man engagierte dafür einen Tiertrainer mit einem wirklichen Tiger) ist so präsent, dass wir uns wegducken, wenn er faucht und zum Sprung ansetzt. „Statt die Bilder eines Tigers zu sehen, macht man die Erfahrung in der Nähe eines Tigers zu sein.“ (epd Film1,2013,39) Ähnliches gilt für die Naturschauspiele, in die der Film uns mit seinen Helden mit aller kinematographischen 3D-Wucht hineinstößt. Das sind nicht nur schöne Bildprospekte wie in Reisekatalogen und Naturfilmen sondern wir sind als Zuschauer mitten im Naturgeschehen, sei es inmitten einer spiegelglatten goldfarbenen Wasserfläche, unter bizarren Wolkenformationen, Sonnenuntergängen, Mond- und Himmelssternennächten, die sich im tiefschwarzen Wasser spiegeln.(Mir fiel die Filmtheorie von Siegfried Kracauer ein, die im Untertitel Die Erlösung der physischen Realität heißt: der Film zeigt uns die uns umgebende Wirklichkeit in einem andern Lichte). Da gibt es Fischschwärme, die leuchtend von Plankton traumhaft schön dahinziehen. Oder als Schwarm fliegender Fische Tiger, Pi und uns mit großer Geschwindigkeit um die Ohren prasseln. Und man ist versucht, auf dem Boden des Kinos nach Fischen zu suchen wie auf Pi auf dem des Bootes. Da gibt es den riesigen Wal, der uns mit seinem Ur-Auge anschaut und mit einem Sprung das Meer so gewaltig aufschäumt, dass er das Boot, ja fast das Kino zum Kentern bringt. Und immer wieder sind wir mitten in der bedrohlichen Naturerfahrung, wie sie die Bibel und große Literatur beschreibt, man denke an Melvilles Moby Dick und an das Buch Hiob. Dort spricht Gott der Herr in vier langen Kapiteln, die seine Schöpfermacht demonstrieren, aus dem Wettersturm zu dem geplagten Hiob. „Wo warst du, als ich die Erde gründete? (...) Wer hat das Meer mit seinen Toren verschlossen? (…) Wer hat dem Platzregen seien Bahn gebrochen und den Weg dem Blitz und Donner ?(…) Kannst du den Leviatan fassen mit einer Fangschnur usw.?“ (Hiob 38,4.8.25; 40,25) Ein gewaltiger Sturm kommt auf, das Boot wird hin und her geschleudert, Blitze zucken, der Tiger stöhnt nur noch, aber Pi schreit es heraus: „Gott, warum tust du mir das an? Ich kapituliere, ich kapituliere, was willst du denn noch?“ Wie Hiob nach der Rede Gottes aus dem Wettersturm sagt: „Ich erkenne ,dass du alles vermagst und nichts, was du dir vorgenommen hast, ist dir zu schwer … ich spreche mich schuldig“ (Hiob 42,2f). Hiob und Pi geben auf, resignieren vor dem allmächtigen Schöpfergott und nehmen die Ungerechtigkeit des Lebens hin. Eigentlich eine unbefriedigende Lösung: Und deswegen geht Pi nach einer Aussage von Ang Lee über dies Konzept eines transzendenten Schöpfergottes, mit dem man sprechen, zu dem man sich in seiner Not wenden kann, hinaus. Der Glaube sei eine Haltung, sich emotional mit dem Unbekannten, ich würde sagen mit dem Numinosen einzulassen. Gott sei eher die Reflexion unseres Innern, meint Lee. Es ist ein innerer Prozess, der, mit vielen Religionen und ihren verschiedenen Namen für das Göttliche gesprochen, ein X im Herzen der Welt annimmt, während man mit den Stürmen des Lebens zurechtzukommen versucht. C.G. Jung hat so das Religiöse gedeutet und gerade am Hiobbuch festgemacht, dass dieser ungerechte mit dem Satan wettende Gott sich noch entwickeln, humanisieren muss (was dann in seiner Menschwerdung ja auch geschieht). So wäre Schiffbruch mit Tiger eine Parabel auf die Existenz des Menschen in der Welt, der sich mit dem Ungeheuerlichen, das in ihm und um ihn ist, auseinandersetzen muss. Hier hat es die Gestalt des schrecklichen Tigers, und die des ungeheuren Meeres, auch die Gestalt einer zunächst rettenden, dann aber fleischfressend herausstellenden Algen-Insel, die Pi und Tiger deswegen wieder verlassen müssen. Aber es gibt auch das Ungeheuerliche im Menschen selbst. Mit den Worten des Sophokles: „Ungeheuerlich ist viel auf der Welt, doch nichts ist ungeheuerlicher als der Mensch.“ In der Rahmenhandlung des Films ,in der der erwachsene Pi einem jungen Schriftsteller in seiner kanadischen Küche von seinem Schiffbruch mit Tiger erzählt (oft eine heilsame Unterbrechung angesichts der nervenanspannenden 3 D-Erfahrung) berichtet Pi, wie er nach der glücklichen Rettung im Krankenhaus von zwei Mitarbeitern der japanischen Versicherung besucht wird. Sie bitten ihn, eine glaubwürdigere Geschichte als die des Schiffbruchs mit Tiger zu erzählen. Also bietet er ihnen folgende Variante seiner Odyssee an: die Tiere sind nun Menschen, der böse Koch (Gerard Depardieu) des Schiffes ist die Hyäne, das Zebra ein verletzter Matrose, der Orang-Utan Pis Mutter. Es kommt zu Kannibalismus und am Ende tötet Pi den Koch. Ist er nun selber der Tiger?

Pi lässt die beiden Zuhörer entscheiden, welches die glaubwürdigere Geschichte sei. Die Japaner sagen, sie wissen es nicht, aber vielleicht sei die mit den Tieren doch die bessere. Und Pi antwortet rätselhaft: „Und genauso ist es mit Gott.“ Wir müssen der besseren Erzählung glauben, dann bekommen wir auch, was wir uns davon versprechen – im Kino zwei Stunden Spannung, Emotionen, Tränen, ein Happy ending. Aber auch Irritation und Schrecken. Im Glauben - ja ein Stück Geborgenheit und Trost auf unserer Lebensfahrt, auch wenn es sich nicht überprüfen lässt, ob das stimmt, was da im Namen Gottes versprochen und an Tröstung angeboten wird.

Das Kino ist wie die Kirche eine Erzählgemeinschaft, eine ungeheuer verführerische, die uns aus der Wirklichkeit in eine Welt der Imagination holt, die uns das Leben erträglich macht und auch ein paar Regeln und Vorbilder an die Hand gibt. Für ein paar schöne Stunden allerdings nur. Die Kirche kann eine Gemeinschaft anbieten, die auf ihre Art, schwach, ja arm, Menschen, die an einen barmherzigen Gott glauben wollen, Trostsymbole bietet. Sie kann dagegen, was die Spannung betrifft, das Katapultiertwerden in die Macht der Bildwelten, und nun gar 3D, nicht mithalten. Sie kann aber in ihren Bildern, dem des leidenden Gottes vor allem, die Differenzerfahrung des Lebens aushaltbar machen und für eine Welt mit weniger Leiden eintreten. Oder allgemein gesagt: Religion ist ein Stück Holz zum Festhalten auf dem Ozean des Lebens, hilft zur Zähmung des Ungeheuerlichen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/82/hjb15.htm
© Hans-Jürgenb Benedict, 2013