Bescheidenheit mit weitem Horizont

Eine Rezension

Harald Schroeter-Wittke

Musik und Religion gelten weitgehend nahezu selbstverständlich als Verwandte. Diese Verwandtschaft geht bis dahin, dass sich manche als religiös unmusikalisch bezeichnen. Obwohl die Beziehungen zwischen Musik und Religion vielfach wissenschaftlich untersucht sind, konstatiert der Herausgeber Jacob A. van Belzen, Lehrstuhlinhaber für Psychologie an der Universität Amsterdam, diesbezüglich ein weitgehendes Desiderat seitens der Psychologie. Diesem Umstand verdankt sich der vorliegende Band, der im Rahmen von mehreren Treffen in der Ev. Akademie Bonn-Bad Godesberg entstand. Ziel ist es, mit Hilfe verschiedener Psychologien diese Beziehung näher zu reflektieren.

Jacob A. van Belzen (Hg): Musik und Religion. Psychologische Zugänge, Wiesbaden 2013.

Dabei leistet van Belzen einen grundlegenden Beitrag zum Verhältnis von Musik und christlichem Glauben, weil er deutlich zu machen versteht, wie bescheiden sich ein wissenschaftlich ausgewiesener psychologischer Zugang zu dieser komplexen Verhältnisbestimmung ausnimmt. Sein Beitrag scheint mir hilfreich auch für andere psychologischen Zugangsweisen im Bereich von Ästhetik und Religion resp. Theologie.

Van Belzen beginnt mit der simplen Beobachtung, dass weder Musik noch Religion noch Psychologie auch nur einigermaßen konsensfähig wissenschaftlich definiert seien. Seine grundlegende These lautet, "dass alle Musik – und lasst uns nicht anfangen zu fragen, was wohl und was nicht als Musik gelten dürfe! – religiöse Musik sein kann, aber dass auch alle sogenannte religiöse Musik ihren religiösen Charakter verlieren kann" (15). Dabei zeigt sich: "Die heutigen Religionswissenschaften bieten keinen systematischen Religionsbegriff mehr. Im Gegenteil: 'Religion' wird immer öfters dekonstruiert als ein Begriff, der im Westen geprägt und an gewissen Erscheinungen geeicht ist und der zu Unrecht auf nicht-westliche Phänomene und Konstellationen übertragen wird. Es gibt keinen universal gültigen Begriff der Religion." (17)

 Deshalb fordert van Belzen für die empirische Religionswissenschaften eine Selbstbescheidung auf "solche Phänomene [...], die im gewissen partikularen, wenn auch nicht nur individuellen, Kontext als 'religiös' gelten, ohne anschließend zu behaupten, sie könnten damit zu allen religiösen Phänomenen Aussagen machen oder gar den Kern der Religion bestimmen." (ebd.) In der Tat, das ist ja nicht nur eine Versuchung der popkulturellen Vermittlung von Religion und Musik, sondern auch der kirchlichen, aber auch mancher wissenschaftlicher Inanspruchnahme musikalischer Phänomene.

Was die Neuropsychologie in diesem Bereich zu bieten hat, entlarvt van Belzen als nicht weitreichend genug. Wenn etwa "voller Stolz" (21) verkündet wird, dass Musik "das körpereigene Belohnungssystem stimuliert, das auch bei Sex oder durch Rauschdrogen stimuliert wird und das mit der Ausschüttung von Dopamin [...] und von endogenen Opioniden einhergeht", dass sie umgekehrt Angst mindernd wirkt und "zugleich zur Aktivierung von Strukturen führt, die für Wachheit und Aufmerksamkeit wichtig sind" (20)[1], dann würdigt van Belzen diese Forschungen, zeigt aber auch, dass sie nicht weiter helfen, weil sie die historischen Dimensionen des Beziehungsgeflechts von Musik und Religion außer Acht lassen. Diese werden von einer kulturpsychologischen Zugangsweise wahrgenommen, welche die menschliche Subjektivität als Schnittpunkt der beiden historischen Größen Leib und Kultur betrachtet. Die Tätigkeiten des Gehirns sind für die Verhältnisbestimmung von Musik und Religion "notwendige aber unzureichende Konditionen" (21).

Als Gegenargument zu den landläufig bildungsbürgerlich geprägten Erfahrungen mit der Bachschen Matthäuspassion als "tear-jerker (Tränendrüsendrücker)", die einen an den "Rand der Bekehrung" bringen können (22),[2] gibt van Belzen zu bedenken: "Aus Begeisterung oder Ehrfurcht vergisst man allzu leicht, dass der moderne westliche Mensch gelernt haben muss, Passionen oder Opern zu 'ertragen': Versuchen Sie, irgendeinen Menschen von der Straße zu holen und diese Person stundenlang einer Aufführung solcher Musik auszusetzen!" (24) Van Belzen zeigt auf, dass Bachs Matthäuspassion z.B. nur mit einer gewissen Bildung, ich würde auch sagen Ein-Bildung, als religiöse Musik wahrgenommen werden kann.

So dekonstruiert van Belzen alle Versuche, einen irgendwie gearteten Kern des Religiösen (auch und gerade in aestheticis) dingfest machen zu wollen und übt sich in Selbstbescheidung: "Anders als ihre Kollegen in der Naturwissenschaft machen Geisteswissenschaftler keine Entdeckungen oder Erfindungen, sicherlich kommen sie auf neue Gedanken (wenngleich selten ...), und ein großer Teil ihrer Arbeit besteht darin, die Eigenheit einer gewonnenen Perspektive zu durchdenken und oftmals gegen Überschätzungen beziehungsweise Fremdübernahme zu schützen." (31)

Vor diesem Hintergrund werden nun einige Kostproben solcher Zugänge geboten, denen ein weiter Horizont eigen ist:

Der Salzburger Psychologe Christian G. Allesch bietet eine kulturpsychologische Sichtweise auf Musik und Religion. Nils G. Holm (Turku) sowie Isabel Laack (Heidelberg) bieten religionswissenschaftliche Zugangsweisen zum Musikerleben. Stärker ethnologisch orientiert sind die Beiträge von Bernd Brabec de Mori (Wien / Graz): Die Psychologisierung der Funktionen von Musik und Drogen in westlichen Interpretationen indianischer Magie; sowie von Andrea Korenjak (Salzburg): Musik und rituelle Heilung am Beispiel des Tarantismus. Jens Brockmeier (Winnipeg / London / Innsbruck) fragt nach Sterben und Erinnern in Hans Werner Henzes "Requiem", während Maria Spychiger (Frankfurt/M.) soziologisch fragt: "Musik ist meine Religion" – Musik als säkulare und individualisierte Bedeutungsträgerin und die spirituelle Dimension des musikalischen Selbstkonzepts. Psychoanalytisch orientiert sind schließlich die beiden Beiträge von Mathias Hirsch (Düsseldorf): Über das Weinen beim Hören der Matthäus-Passion – Formen der Identifikation; sowie von Bernd Oberhoff (Kassel / Münster): Das "Prinzip Symmetrie" in Musik und Religion.

Der Band verbietet eine summarische Quintessenz, denn er arbeitet nicht identifizierend, sondern differenzierend, dabei wohltuend bescheiden mit einem Schuss Selbstironie, die Lust macht auf mehr.

Anmerkungen

[1]   Van Belzen zitiert hier M. Spitzer: Musik im Kopf, Stuttgart 2002, zit. nach. J. Bolterauer: "Die Macht der Musik". Psychoanalytische Überlegungen zur Wirkungsweise von Musik und ihren Wurzeln in der frühkindlichen Entwicklung; in: Psyche 60 (2006), 1178f.

[2]      Van Belzen bezieht sich hier auf Äußerungen des niederländischen Fernsehjournalisten P. Witteman: Bach en mijn moeder; in: P. Dirksen (Ed.): De geheimen van de Matthäus-Passion. Ambacht en mystiek van een meesterwerk, Amsterdam 2010, 7f.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/82/hsw14.htm
© Harald Schroeter-Wittke, 2013