Die „Fantastic Voyages“ von Gotye

Besprechungen ausgewählter Videoclips XXXVII

Andreas Mertin

Es war eher Zufall, dass ich auf die Musikvideoclips von Gotye stieß. Vermutlich wurde irgendwann ein Clip von ihm bei den Staff-Picks von Vimeo empfohlen. Und wie man das so macht, wenn man auf ein gelungenes Musikvideo stößt, man schaut, ob vom gleichen Künstler nicht noch andere Schätze zu bergen sind. In diesem Falle habe ich mir nach und nach 17 Videos auf die Festplatte gespeichert, weil Gotye offenkundig ein Faible für Videoclipexperimente vor allem im Zeichentrickstil hat.


2003-2006

Am Anfang der vorzustellenden Videos steht 2003 der slapstickartige Spaziergang Out here in the cold – sozusagen ein umgedrehter Jean-Jacques Rousseau: vom Land zurück in die Stadt. Eher ein Low-Budget-Clip, sozusagen eine Fingerübung zum Einstieg.

Es folgt 2006 der heiter-beschwingte Clip zu Learnalilgivinanlovin – eine Kinderinspiration für freundliches Verhalten: Learn a little givin‘ and lovin‘!


2007

Im Jahr 2007 stehen zwei ganz unterschiedliche Videoclips auf der Liste:

Den einen, Thanks for your time, finde ich nicht ganz so überzeugend, es ist ein im Stil der 50er-Jahre gemachter Clip zur Kommunikation bzw. zum Telefon und der Industrialisierung der Kommunikation. You have been placed in a queue / But your call is valuable / It's very valuable / We hope this does not inconvenience you / Because you're valuable / You're so very valuable! Und dazu blicken wir auf die Telefonistinnen und die Büromenschen, die uns im Takt der Musik abfertigen.

Hearts a mess ist dagegen von der Anlage her mit “Out here in the cold” verwandt, aber doch wesentlich professioneller und inspirierender angelegt. Zum Refrain Your heart's a mess / You won't admit to it / It makes no sense / But I'm desperate to connect / And you, you can't live like this stapfen Zeichentrickfiguren durch eine graumelierte Wüstenlandschaft rund um die Erde, wunderbar umgesetzt! Im Stil des Rattenfängers von Hameln wird die Gruppe immer größer, um am Ende eine Treppe zu bilden, die ins Weltall reicht, in das nach und nach alle Figuren verschwinden.


2009

Mit Coming back blicken wir auf eine Science-Fiction-Groteske. Ein Mann entdeckt ein Ufo am nächtlichen Himmel und teleportiert ein Bild seines Auges zu den Alien, die ihn daraufhin gleich ganz an Bord holen. Seine Frau wird durch den Teleportationsstrahl geweckt und sieht ihren Mann davonschweben: You've been gone much longer / Than you ever said you had the plan to / I'm just gonna wait 'till you come home. Der Mann trifft währenddessen im Raumschiff auf eine Gruppe höchst interessierter Alien, deren Gesichter wie Münder mit einem Schlangenauge aussehen. Der Mann versucht mit den Fremden zu kommunizieren, was anfangs auch gelingt, bis es zu einem Missverständnis kommt. Am Ende gelangt der Mann zurück auf die Erde, aber die Alien haben ihm die Augen entfernt und ihm ein Auge in den Mund gesetzt. Sie haben sich göttergleich ein Ebenbild erschaffen.


2010

Eyes wide open ist fast eine Art eine Synthese aus den bisherigen Clips und zugleich ein sehr ambitioniertes Stück aus postapokalyptischer Perspektive (wie überhaupt Gotye die Postapokalypse zu schätzen scheint): So this is the end of the story, / Everything we had, everything we did, / Is buried in dust, / And this dust is all that's left of us. / But only a few ever worried. / Well the signs were clear, they had no idea. / You just get used to living in fear, / Or give up when you can't even picture your future. / We walk the plank with our eyes wide open. Im Clip spazieren dabei spinnenartige Wesen mit kleinen Individuen auf Plattformen durch eine Landschaft, die offenkundig durch einen atomaren Krieg zerstört wurde. Die Wesen suchen Wasser, stoßen aber immer wieder nur auf Staub. Atomkraft - Umweltverschmutzung – Müllüberflutung – Ressourcenvergeudung – Naturkatastrophen ... eins kommt zum anderen, so dass am Ende die Apokalypse steht.


2011

Aus diesem Jahr habe ich fünf verschiedene Videoclips aus dem Oeuvre von Gotye gefunden:

Bronte ist ein Zeichentrickfilm, der von einem Mädchen erzählt, das am Anfang mit einer Tierherde durch die Wälder zieht. Der Clip ist ein Loop, der zugleich erklärt, wie das Kind zu dieser Tiergemeinschaft gekommen ist, wie es die Natur als das Andere zur Zivilisation entdeckt und diese hinter sich lässt. We will be with you / When you're leaving / We will be with you / When you go / We will be with you / And hold you till you're quiet / It hurts to let you go.


Don’t worry we'll be watching you ist ein etwas kryptischer und vor allem dunkel gehaltener Clip, den ich literarisch am ehesten mit Tilman Mosers berühmtem Buch „Gottesvergiftung“ in Verbindung bringen würde. Der weitgehend in Schwarz-Weiß gedrehte Clip startet mit einem übermächtigen Gesicht in dunklen Wolken und einer Gruppe von Menschen, die sich in einer ekstatischen Anbetungshaltung befinden. Sie tragen halbierte Kreuze, und recken ein Buch in den Himmel. Die Menschen lassen sich differenzieren nach einer breiten Masse und einer Art Priestergruppe, die spitze Hüte trägt. In der Mitte des Clips changiert der schwarz-weiße Ton kurz ins bedrohlich rote, während die Gruppe der „Priester“ herausgehoben aus der Masse zelebriert. Bei all dem spielt auch ein Stier eine Rolle, der in der Mitte des Geschehens immer wieder untergeht oder auch geopfert wird. Der Text des Liedes ist knapp und wirkt unmittelbar bedrohlich durch sein nur scheinbar beruhigendes “Don’t worry”: Hey / What's your name? / Don't worry / Don't be afraid / We won't hurt you / Hey / Lost your way? / Don't worry / Just do as we say / And we won't hurt you / It's hard / The world can lead you so astray / It gets harder / It's hard just to keep the faith … Und wie in Tilman Mosers „Gottesvergiftung“ verfolgt einen diese Art der überwachenden und befriedenden Religion auch noch, wenn man sich von ihr längst distanziert hat: You're walking away /But we'll always be watching you.


Berühmt wurde Gotye mit dem Stück Somebody that i used to know, das perfekt eine bestimmte Form der Melancholie verkörpert. Manchmal denke ich daran, wie es war, als wir noch zusammen waren ... aber jetzt bist du nur noch jemand, den ich kannte. Das Lied kreist um die Un/Möglichkeit des Satzes „Lass uns Freunde bleiben“ und die Fähigkeit loszulassen. Die heitere, unbeschwerte Tonart des Stücks, die Beiläufigkeit der Feststellungen täuscht über das Desaster der Beziehung hinweg. Visuell ist das Ganze im Clip so umgesetzt, dass der Sänger anfangs nackt vor einer Wand steht und nach und nach eine farbige Übermalung im Stil eines kubistischen Gemäldes von Georges Braque bekommt. Nach gut der Hälfte des Liedes fährt die Kamera zurück und öffnet im Rahmen des Gesamtgemäldes den Blick auf die besungene Frau, die nun ihrerseits das Wort ergreift: Manchmal denke ich an all die Male, die du mich fertig gemacht hast. / Und du hast mich jedes Mal glauben lassen, dass ich daran selbst Schuld gehabt hätte / Und ich will so nicht leben, / aus jedem deiner Worte irgendetwas herauslesen zu müssen. / Du hast gesagt, dass du loslassen könntest. / Und ich würde dich nicht mit jemandem erwischen, den du mal kanntest. Danach verschwinden die Farben auf ihrer Haut bis sie nur noch als sie selbst zurückbleibt. Und er antwortet: Aber du hättest mich nicht gleich ganz wegschieben müssen. / Es verdrängen, als wäre nie etwas passiert. / Und als wäre zwischen uns gar nichts gewesen. Ihr Körperbild bleibt aber verschwunden. „Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat ...“ (Max Frisch).


In dem Stück Smoke & Mirrors geht es um Identität und Gewissheit, um Kontrolle und Erfolg. Visuell sehen wir einen gezeichneten Mann, der sich immer wieder häutet, aber unter der Haut seiner Kleidung kommt immer wieder derselbe Mann hervor. Selbst als er eine andere Haut bekommt, kommt hinterher doch nur wieder das Gleiche zum Vorschein.

State oft the art ist quasi ein selbstreflexives Stück, es geht in postmodern-ironischer Art um das Begehren, immer auf dem neuesten Stand zu sein, dem neuesten technologischen Schrei hinterherzulaufen. Statt sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, simulieren wir sie mit Technik. Das exemplifiziert Gotye ausgerechnet an seiner eigenen Musik, die immer weniger von originären Musikinstrumenten und immer häufiger – wie in diesem Stück – von Synthesizern produziert wird. Das wird im Videoclip als Zeichentrickfilm illustriert, bei dem eine Familie sich einen Synthesizer zulegt, der dann ein unangenehmes Eigenleben entwickelt und außer Kontrolle gerät.


2012

Aus dem Jahr 2012 habe ich insgesamt sechs verschiedene Videoclips gefunden:

Dig your own hole thematisiert Selbstverantwortlichkeit: In the end / You dig yourself the hole you're in / When you don't know what you want / You just repeat yourself again. Im Videoclip sehen wir einen Mann die Lokomotive eines Zug als Lokführer betreten. Zunächst fährt er mit angehängtem Waggons, dann befreit er sich vom Ballast und fährt durch einen LSD-geschwängerten Tunnel, später erhebt er sich in den Weltraum, wo er mit einem Lokführergeist kollidiert. Am Ende ist die Lokomotive urplötzlich wieder auf der Erde und fährt in einen Bahnhof ein. Was sich etwas verquer anhört, ist es auch - zumindest in der visuellen Umsetzung. Ich vermute, man muss die Lokomotive als Metapher genauer bestimmen, um einer Deutung näher zu kommen.

An dem Clip zu Giving me a chance hätten die Surrealisten des 20. Jahrhunderts sicher auch ihre Freude gehabt. Eine assoziative Reise durch zahlreiche Bilder mit Anspielungen auf Joan Miro, Rene Magritte, Salvador Dali, Yves Tanguy, Niki de Saint Phalle und viele andere Künstler. Es ist wie ein visueller „logos spermatikos“, der sich durch die Bilderwelten bewegt, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. „You know I never want to let you down / It cuts me up to see you sad / And I wish that I could undo what I've done / Give back the faith in me you had.”


Save me zeigt uns zunächst so etwas wie einen Schöpfungsakt, bei dem ein Wesen nach und nach aus Einzelteilen zusammengesetzt wird. Dann beobachten wir erste Gehversuche des menschenähnlichen Wesens und schließlich dessen Begegnung mit einer Partnerin, die es erst zu einem richtig kompletten und lebendigen Wesen macht. Freilich zerfallen beide gleich wieder in digitale Einzelteile. And you gave me love / When I could not love myself / And you made me turn / From the way I saw myself / And your patient love / And you helped me help myself / And you save me.

What do you want ist in einem fast wörtlichen Sinne ein Theatrum Sacrum. Am Anfang sehen wir eine Theaterbühne mit einem Schauspieler, der vor einer Gruppe von acht Männern steht und dann unter dem Rhythmus des Trommelschlages eines Affen singt: What do you want? / What do you want from us? / To ask you this much is just a matter of trust / Not an affront / What do you want? Das ist die Frage. Was wollen wir? Nach und nach transformieren sich die Figuren in Skelette, die durch die Welt laufen, weiter insistierend befragt durch den Sänger: What do you want / What do you want that you cannot say? / Show us the faith we're supposed to display / Come what may ... / You can't! Es ist eine Befragung in eschatologischer Perspektive. Nach gut zwei Minuten wird der Song unterbrochen durch eine Off-Stimme, die etwas von der Vorsehung Gottes erzählt: In the providence of god .... Am Ende schließt sich die Szene parabelartig. Die Skelette werden wieder zu menschlichen Figuren, der Schauspieler ist auf der Bühne zurück, der Vorhang fällt.


Der Videoclip zum Instrumentalstück Seven Hours With a Backseat Driver muss nach einer 24-Stunden-Fahrt mit einem unangenehmen Beifahrer entstanden sein. Auf der Ebene des Videoclips sehen wir einen kleinen Elefanten durch eine verkehrsreiche Kleinstadt laufen, umgeben von zahlreichen anderen Verkehrsteilnehmern: Enten, Mäusen, Schlagen etc. Auf seinem Kopf sitzt ein kleiner Vogel, der ihn durch das Zerren an seinen wenigen Kopfhaaren steuert. Der Vogel ist sehr eigenwillig: als er ein paar andere Vögel am Himmel fliegen sieht, möchte er unbedingt, dass sich der Elefant in die Lüfte erhebt – was natürlich nicht geht, weil der Elefant kein Dumbo ist. Zunehmend wird der Verkehr aggressiver und der kleine Elefant nervöser. Und dann passiert auch schon die Katastrophe – wie sein Gattungsgenosse im Porzellanladen zerschlägt der Elefant alles was ihm im Weg steht. Das Ende ist dann etwas ambivalent – aber das kann ja jeder selbst anschauen.

Easy Way Out zeigt uns das alltägliche Leben eines Menschen zwischen Bett, Küche, Büro, U-Bahn, Toilette, Dusche, Bett, Küche, Büro, U-Bahn ... Mit jeder Umdrehung dieses zirkelhaften Lebens zerfällt die Welt immer mehr. Schließlich strandet der Protagonist im Müll und die Welt löst sich ins Nichts auf.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/83/am438.htm
© Andreas Mertin, 2013