Am nächsten Tag die nächste Geschichte

David Bowie „The Next Day“

Andreas Mertin

„Mitleid zu fühlen mit den Betrübten ist die Pflicht der Menschen, die jedem geziemt, besonders aber von denen erwartet wird, die selber einmal Trost benötigt oder ihn bei anderen gefunden haben“. Mit diesen Worten beginnt eine der berühmtesten Novellensammlungen der Weltliteratur. Hermann Hesse schrieb über sie: „Ihr möget alle eintreten, und jeder wird finden, wonach er sich sehnte. Denn die hundert Geschichten ... sind so beschaffen, dass sie die Jünglinge zum Entzücken, die Mädchen zum Erröten oder zur Rührung, die Männer zum Lachen, die Weisen zum Nachdenken nötigen. Man findet in diesen Geschichten die verschiedenen Arten der menschlichen Natur und Temperamente, der Liebe und Freundschaft, der Schicksale in Leben und Sterben, alles auf eine anmutige und wahrhaftige Art erzählt und dargestellt. Für Kinder von zartem und unerfahrenen Alter sind sie nicht geeignet, auch nicht für blöd gewordene Greise, auch nicht für Leute von feindseliger, kleinlicher oder mürrischer Sinnesart. Außer diesen aber mögen sie von Jungen und Alten jeder Art mit großem Vergnügen und gewiss auch nicht ohne Nutzen gelesen werden.“

Die BILD-Zeit, die eher von den blöd gewordenen Greisen bzw. von den Leuten mit kleinlicher und mürrischer Sinnesart gelesen wird, würde als Schlagzeile über die Erzählsammlung vermutlich „Giovanni Boccaccio am Rande des Wahnsinns“ setzen und sich scheinheilig über den Mix von christlicher Symbolik und sexuellen Anspielungen echauffieren. Aber selbst Spex, das Magazin für Popkultur, könnte meinen, hier würden Prostituierte „an der Theke einer überaus sündigen Kellerbar für Priester platziert, die wahrscheinlich ‚Sodom‘ oder ‚Gomorra‘ heißt.

Aber in Wirklichkeit geht es doch nur darum, in einer Welt der Todesverfallenheit und der apokalyptischen Gesänge noch den nächsten Tag zu erleben, das Carpe diem mit dem Memento mori zu verbinden und zu überlegen, wie man selber authentisch existiert.

Giovanni Boccaccio, von dem wir hier reden, hat in seinem legendären Decamerone aus der Zeit zwischen 1349 und 1353 eine Gesellschaft geschildert, die vor der in Florenz grassierenden Pest in ein Landhaus geflüchtet ist und sich nun über die Dauer von vierzehn Tagen mit Unterbrechungen zehn mal zehn Geschichten nach vorgegebenen Stichworten erzählt. Eingangs aber schildert Boccaccio eindringlich das Verhalten der Menschen in Florenz, die sich angesichts der Pest mit der Unausweichlichkeit des Todes konfrontiert sehen:

„Einige Menschen waren der Meinung, dass ein mäßiges Leben und die Vermeidung jeglichen Überflusses viel dazu beitragen könne, dieser Krankheit zu widerstehen. Sie lebten daher in kleinen Gesellschaften, getrennt von allen übrigen Menschen, und versammelten sich in abgeschlossenen Häusern, in denen es keine Kranken gab. Hier erfreuten sie sich in mäßigem Genuss an den bekömmlichsten Speisen und den köstlichsten Weinen und vermieden alle Ausschweifungen. Sie ließen sich von niemand sprechen und nahmen von draußen, von Tod und Krankheit, keinerlei Nachrichten entgegen, sondern unterhielten sich mit Musik und ähnlichen Zerstreuungen, die ihnen zu Gebote standen.

Andere waren entgegengesetzter Meinung und versicherten, die beste Medizin gegen dieses Unheil sei: recht viel zu trinken, das Leben zu genießen, mit Gesang umherzuwandern, sich angenehm zu unterhalten, jedes Begehren zu befriedigen, so gut man es vermöchte, und über alles, was geschähe, zu lachen und sich lustig zu machen, Und was sie für richtig befanden, befolgten sie auch nach Kräften. Sie zogen Tag und Nacht von einer Schenke in die andere und tranken ohne Maß und Ziel. ...

Während dieser Zeit des Elends und der Trauer war die ehrwürdige Macht der göttlichen und menschlichen Gesetze in unserer Vaterstadt fast völlig gebrochen und aufgelöst, da ihre Hüter und Vollstrecker gleich den übrigen Menschen entweder tot oder krank oder von ihren Untergebenen im Stich gelassen waren, so dass keiner seinen Dienst mehr versehen konnte und es jedem freistand, zu tun und zu lassen, was ihm gefiel.“

Warum dieser Rekurs auf das Decamerone, wenn es doch, wie der Untertitel dieses Textes ankündigt, um David Bowies Videoclip zu „The Next Day“ gehen soll? Dieser Videoclip handelt doch, glaubt man der Bildzeitung bzw. dem Spex von Priestern und Prostituierten, von Blut und katholischen Sündern und nicht von einer florentinischen Erzählgemeinschaft. Und tatsächlich, im Clip geht es um Priester und Nonnen, um Sex und Flagellanten in einer merkwürdigen Bar, in der auch noch David Bowie singt.

Nun ist zurzeit in amerikanischen Visualisierungen von Musikstücken die kritische Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche und ihrem Glaubensgut „in“ – zumal nach den Missbrauchsskandalen. 2012 hatte Nicki Minaj bei ihrer Performance zu „Roman Holiday“ einen „Exorcism of Roman“ inszeniert, und zuvor hatte Lady Gaga 2011 mal eben auf Maria Magdalena gemacht, die lieber auf Judas als auf Jesus stand. So weit, so normal.

Also scheint sich David Bowie in dieses zeitgeistorientierte Kleriker-Bashing einzuordnen, wenn er im Clip zu „The Next Day“ eine Travestie einer von Klerikern gefüllte Kneipe mit sündigem Ambiente zeigt. Aber für einen Fluxus-Künstler wie David Bowie wäre das doch etwas unter Niveau, so Popkult-trashig ist er dann doch nicht. Schon beim ersten Blick auf das Video wird nicht ganz klar, ob wir hier Kardinäle und Soutanenträger im Milieu beobachten oder nicht eher doch Travestiekünstler, die in die Kleidung von Klerikern, Flagellanten und Maria Magdalena geschlüpft sind. So ganz deutlich wird das auch beim wiederholten Betrachten nicht.  

Aber gehen wir einmal im positiven Sinne davon aus, dass David Bowie hier das Spiel mit den Referenzen, das er 2013 mit „Where are we now?“ begonnen und mit „The Stars (Are Out Tonight)“ fortgesetzt hatte, nun mit diesem Stück weiterführt. Dann müsste man konsequenter Weise nach einem Referenzrahmen suchen.

Und meines Erachtens ist dieser Referenzrahmen das Decamerone von Giovanni Boccaccio. In der allerersten Sekunde, noch bevor die eigentliche Story des Videoclips einsetzt, befindet sich der Betrachter in einem nahezu vollständig dunklen Raum, der zu einer Tür führt, die nur für einen Bruchteil einer Sekunde lang angeleuchtet wird. Man erkennt ein paar Buchstaben, aber das war es auch schon.

Der aufgehellte Screenshot dieser Tür zeigt einen Schriftzug, der dem Etablissement seinen Namen gibt: THE DECAMERON. Ja, wir betreten, wenn wir die Tür durchschreiten und auf eine frivol anmutende Lebenswelt stoßen, die Erzählwelt des Decamerone. Und so war es ja auch mit den 100 Novellen des historischen Decamerone, die von lüsternen Priester und Florentiner Bürgern, von gewitzten Ehefrauen und gehörnten Ehemännern erzählen. Eine Welt, die nicht ohne Bezüge zur Welt außerhalb stand, sondern diese karikierte, manches zuspitzte und ins Zentrum der Betrachtung stellte, eine Erzählwelt, die dem Überleben dient.

Es ist ganz interessant, die Auseinandersetzungen mit dem Liedtext von „The next day“ zu lesen, die vor dem Erscheinen des Videoclips geschrieben wurden. Auf dem Fluxblog fand ich folgende, wie ich finde, atmosphärisch sehr gute Erschließung:

“The Next Day” isn’t a song about death, it’s a song about survival. But survival in this song isn’t a matter of staying alive, but narrowly escaping death at seemingly ever turn. It’s about coming so close to the end that you become convinced that your luck will run out at any moment, and that the world is conspiring to snuff you out. Listen to how easily this song tips from gallows humor to hysteria, with Bowie kinda losing it on the first verse before going back into a defiant, proud chorus where the most triumphant thing he can say is that he’s “not quite dying.” It’s grim, but he sounds so determined to live that ever “next day, and the next, and another day” is a joy, if just to spite the reaper.

Floria Sigismondi, die zum wiederholten Mal für Videoclips von David Bowie verantwortlich zeichnet (1996: Little Wonder, 1997: Dead Man Walking, 2013: The Stars Are Out Tonight), hat – die Motive des Liedtextes aufgreifend – ein anspielungsreiches Werk geschaffen. Es gibt gute Gründe, im Refrain des Liedes (Here I am / Not quite dying / My body left to rot in a hollow tree / Its branches throwing shadows / On the gallows for me / And the next day / And the next / And another day) den assoziativen Auslöser zu sehen, der die Regisseurin inspirierte, den Link auf das Decamerone einzubauen. Aber auch sonst ergeben sich genügend Bezüge zum Decamerone (Man braucht nur die erste und die zweite der Erzählungen zu lesen). Interessanter Weise wurde das Decamerone nach dem Tridentinum umgeschrieben und es wurden aus den Mönchen und Nonnen Kaufleute und ledige Mädchen gemacht. Entsprechend lautet der Titel 1573: „Das ‚Dekameron‘ von M. Giovanni Boccaccio, dem Florentiner Bürger, durchgesehen in Rom und verbessert nach dem Befehl des Heiligen Tridentinischen Konzils.“ Vielleicht gibt es demnächst auch eine zweite Version von The Next Day. Man weiß ja nie.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/83/am443.htm
© Andreas Mertin, 2013