Paradigmen theologischen Denkens II


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Notizen II

Ein Blogsurrogat

Andreas Mertin

Zur Pathologisierung des Glaubens / 01. Juni 2013

Es ist ganz interessant, welche Auswüchse Jan Assmanns Monotheismusthese inzwischen zeitigt. Während Assmann selbst im Zuge der Perlentaucher-Debatte doch vorsichtiger geworden ist, aus dem Monotheismus an sich schon fatale Folgen abzuleiten, kursiert seine ursprüngliche These aber in diversen Schriften seiner Leserinnen und Leser. Gerade stoße ich in Sabine Stölzels Buch „Nachtmeerfahrten. Die dunkle Seite der Romantik“ (Berlin: AB - Die Andere Bibliothek 338, 2013) auf folgende Sätze:

„Besonders in den romantischen Texten wird - bei aller anfänglichen Verehrung für die schlichte Frömmigkeit des Mittelalters - rasch deutlich, daß manche Grundüberzeugungen der christlichen (wie wohl auch anderer monotheistischer) Religion(en) in ihrer Übertreibungstendenz an sich schon wahnhafte Züge aufweisen: Dazu gehört nicht zuletzt die Vorstellung, im Besitz der einzig gültigen göttlichen Weisheit zu sein und alle Andersdenkenden als Ketzer und Verblendete diffamieren zu können.“ (263)

Interessant finde ich daran den aus der Sache der Darstellung heraus unbegründeten Einschub „wie wohl auch anderer monotheistischer Religionen“. Auffallend ist das „wohl“ und das „monotheistisch“. Das Wort „wohl“ appelliert an eine nicht näher explizierte Lektüreerfahrung – ich unterstelle einmal: der These von Assmann. Und das eingeschobene Wort „monotheistisch“ schafft eine Exklusivität, die in ihrer Frontstellung bemerkenswert ist. Hätte sie geschrieben „wie wohl auch anderer Religionen“ wäre die Spitze nicht so deutlich geworden. So aber wird die Bindung an die Wahrheit dem Monotheismus zugeordnet. Das dürfte sich religionsgeschichtlich kaum halten lassen – ebenso wenig wie die Gewaltzuordnung an den Monotheismus. Dass in diesem Kontext die Orientierung an der Wahrheit gleich mit Zügen des Wahnhaften verbunden wird, finde ich eher amüsant ob seiner Rückschrittlichkeit als aufklärerisch. Ernst nehmen kann ich es wirklich nicht.

Es passt zum Kontext, dass gleichzeitig „Schwarze Messen“ unter der Kategorie der „Negativen Theologie“ abgehandelt werden – als wenn dies nicht ein definierter Begriff der theologischen Fachwissenschaft wäre. Gemeint ist in Wirklichkeit die Inversion theologischer Sätze und religiöser Riten, aber das ist keine negative Theologie. Und dass im Folgenden immer noch unterstellt wird, die Hexenverfolgungen gingen auf das Konto der kirchlichen („heiligen“) Inquisition (272), ist sicher weit verbreitet, aber damit noch nicht wahr. Die Hexen hätten vermutlich gewünscht, sie stünden vor der heiligen und nicht der weltlichen Inquisition, denn dann hätten sie nur abschwören brauchen. Vor einem weltlichen Gericht mit seiner unbedingten Suche nach der Wahrheit macht das aber keinen Sinn. Was mich aber beunruhigt ist die geradezu selbstverständliche und beiläufige Pathologisierung des Glaubens. Wer sich also an Johannes 14, 6 orientiert (Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich), der ist schon halb dem religiösen Wahn verfallen. Man glaubt es kaum.

Aber es ordnet sich ein in eine eher oberflächliche Umgangsform mit der christlichen Religion. Etwa wenn dem Christentum in der Gegenüberstellung zu den Intentionen von Mary Shelly in The Last Man umstandslos ein Anthropozentrismus unterschoben wird.

„Weil die Natur den Menschen für ihre eigene Existenz nicht braucht, der Mensch jedoch die Natur. Dies aber ist letztlich als eine radikale Absage an die christliche Vorstellung eines gütigen Gottes zu sehen, der den Mensch nach seinem eigenen Abbild geschaffen und ihn zum Mittelpunkt allen Lebens auf der Erde gemacht hat ... So wird hier, neben dem Abgesang auf das anthropozentrische Weltbilds des Christentums, zugleich eine eminent ‚moderne‘ Aussage über die Abhängigkeit des Menschen von der Umwelt gemacht“ (337).

Die Lehre, dass der Mensch das Maß aller Dinge (Protagoras) sei, kann man dem Christentum gerade so nicht unterstellen. Dieses ist doch eher christozentrisch und verbindet so Anthropozentrik und Theozentrik miteinander. Zur Stützung verweist Sabine Stölzel auf die Imago-Dei-Lehre des Schöpfungsberichtes, aber der ist nur einer unter mehreren Konzepten, die in der hebräischen Bibel vorgestellt werden. Aber selbst die Imago-Dei-Lehre bestimmt den Menschen nur als Stellvertreter Gottes. Nimmt man dagegen die Reden Gottes aus dem Wettersturm des Hiobbuches, dann kommt man urplötzlich den Gedanken von Mary Shelley, die diese in The Last Man niederlegt, sehr nahe. Denn dort betont Gott gegenüber Hiob gerade ein nicht anthropozentrisches Weltbild und verweist auf die Erhabenheit der Natur.


Museen als Kirchen? / 03. Juni 2013

In der Berner Zeitung wird Valentin Carron, der die Schweiz auf der Biennale in Venedig vertritt, am 27. Mai 2013 folgende Frage gestellt: Was wollen Sie dann bewirken, wenn Sie ein riesiges Kreuz wie jenes an der letzten Art Basel aufstellen oder Rosenkränze in Galerien hängen? Und Carron antwortet: „Die Museen und die Kunsthallen sind doch in einem gewissen Sinne die heutigen Kirchen, in denen die Menschen nach Erhebung suchen. Die Kunst selbst hat dabei die Wirkung wie früher die Reliquien. Das Kreuz ist aber auch einfach eine schöne, klassische Form. Ich liebe diese alpinen Landschaften mit einem Hügel, auf dem ein kleines, krummes Kreuz steht.“ Nun ist man derartige Vergleiche inzwischen ja gewöhnt. Was musste nicht schon alles als Kirche herhalten. Die Banken als Kathedralen der Gegenwart. Der Fußball als Ersatzreligion. Das Kino als neue sinnstiftende Großorganisation. Man kann es kaum noch hören. Die Rede von der Kunst als Alternative zur Kirche ist nun nicht neu, seit der Romantik taucht sie periodisch immer wieder auf, aber sie wird dadurch nicht wahrer. Zwar lässt sich unbestreitbar empirisch zeigen, dass ein guter Teil derer, die die Kirche verlassen, Präferenzen für die Kunst und die Gegenwartskultur hat (vgl. Verf, Ars ante portas), aber diese Leute zeigen eben auch kein Interesse mehr an Religion. Erhebung mag vielleicht ein mögliches Kennzeichen von Religion sein, sicher aber kein hinreichendes. Ich wiederhole daher an dieser Stelle noch einmal etwas, was ich 1999 im Magazin für Theologie und Ästhetik zur Differenz von Kino und Kirche geschrieben habe: „Und dennoch gibt es entscheidende Differenzen. Ich möchte dies an der Figur des Bettlers verdeutlichen. Bettler sind eine genuin religiöse Existenzform. Davon hat mich nicht zuletzt Henryk M. Broder überzeugt, der in einem Band über Jerusalem einen Bettler im Stadtviertel Mea Shearim beschrieb, der nur dort sitzt, um den Vorübergehenden eine Spende zu ermöglichen. Warum aber gibt es keine Bettler vor den Kinos, wenn diese doch religiöse Institutionen sein sollen? Es gibt in der Filmgeschichte zahlreiche, es gibt brillante Filme über Bettler. Aber es gibt keine Bettler vor dem Cinemax. Warum? Über welches Gespür verfügen Bettler, dass sie sehr wohl zwischen dem Kino und der Kirche zu unterscheiden wissen? Das ist ein Punkt, über den Cineasten angesichts ihrer vorschnellen Rede vom Kino als Ersatzreligion durchaus einmal nachdenken sollten.“ Und Analoges lässt sich über das Museum und die Kunsthalle sagen. Tatsächlich werden für die Redewendung xyz ist an die Stelle der Kirche getreten immer nur einzelne Elemente herausgegriffen, die zum jeweiligen Kulturbereich passen. Bedenkt man aber die Ausdifferenzierung der kulturellen Bereiche in der Moderne, dann sind einige Elemente, die früher zum Gesamtbereich Kirche gehörten, heute in andere Kultursegmente ausdifferenziert worden. Freilich wird „Erhebung“ heute weniger durch die Bildende Kunst, als vielmehr durch die Klassische Musik geleistet. Was Jürgen Habermas Mitte der 70er-Jahre konstitutiv der Religion zuwies, der Bereich der individuellen Tröstung, wird weiterhin von keinem anderen kulturellen Bereich abgedeckt. Kaum jemand geht, wenn ein Angehöriger gestorben ist, zum Trost in die Kunsthalle. Und gerade der Umstand, dass Künstler wie Carron auf die verfügbaren religiösen Symbolwelten zurückgreifen (müssen) und nicht genau so wirksame eigene Symbolwelten erschaffen, zeigt die Begrenztheit des Versuchs.


Collagen - o.T. / 05. Juni 2013

Das Faszinierende der Collagen von Kurt Schwitters ist, dass – so sehr er auch Elemente der vorfindlichen Alltagskultur übernimmt und zusammenstellt – am Ende doch ein wiedererkennbares Kunstwerk von Kurt Schwitters herauskommt. Etwas Einzigartiges und Unverkennbares. Ähnliches gibt es natürlich auch in der populären Musikkultur, die kleinste Elemente aus der Kulturgeschichte der Musik kopieren und daraus ein neues, originäres Werk samplen / schöpfen. Bei Youtube gibt es Analysen von Fans, die etwa bei Werken von Kanye West bis ins Detail darauf verweisen, woraus er sein neues Werk gesampelt hat. Das ist wirklich aufregend, wie divergentes Material zu etwas Neuem zusammengestellt werden kann.

Nun gibt es auch in der Literatur Versuche, durch Sampling etwas Neues und zugleich Einzigartiges entstehen zu lassen. Man kann Umberto Ecos „Der Name der Rose“ als derartige originäre Kompilation begreifen, die dies als postmoderner Roman ja auch expressiv verbis intendiert hatte. Und bei Eco ist ein Text entstanden, der hohen Originalitätswert hat.

Aber ich glaube, was nicht reicht, ist, einfach 2857 Zitate zu sinnvollen Textpassagen aneinander zu reihen, um am Ende eine originäre Erzählung zu haben.

Bauer, U.D. 2013. O.T: Sowie ein Gespräch mit Max Dax. Berlin: AB - Die Andere Bibliothek. (Die Andere Bibliothek, 339).

Genau darum dreht es sich aber in dem 245 Seiten schmalen Band der Anderen Bibliothek. Wie Schnipsel sind die einzelnen montierten Elemente hinterlegt und sollen „eine vielstimmige und rasant geschnittene Erzählung“ generieren. Tun sie aber nicht. Was immer der Klappentext uns da anträgt, es funktioniert nicht. Das, was ein Werk von Kurt Schwitters auszeichnet, seine aufgrund der Collage typische Originalität kommt hier nicht zustande. Und wenn für jedes „Na ja ...“ ein Zitatnachweis angegeben wird, nervt es nach kurzer Zeit den Leser. Sinnvoller wäre meines Erachtens der umgekehrte Weg gewesen: eine Erzählung zu schreiben und dann nachzuweisen, wie viele von deren sinnvollen Wendungen schon in der Literatur in Gebrauch gewesen sind. Und dann wird man schnell feststellen, dass Sampling gar nicht so einfach ist, weil es weniger Worte bedarf, um einen einmaligen Sprachgebrauch (zumindest nach den Googlekriterien) herzustellen. „in Gebrauch gewesen“ verzeichnet Google knapp 90.000 Mal, "in der Literatur in Gebrauch gewesen sind" kein einziges Mal. Wenn Zitate also die Kultur der Gegenwart prägen (copy & paste), dann kann man auf der anderen Seite schnell erkennen, dass nicht alles schon gesagt worden ist und die Suche nach der Originalität in der Literatur doch interessanter ist als das Sampling.


Menschenzoo? / 10. Juni 2013

Als ein Freund vor etwa 30 Jahren noch zu Studienzeiten seinen ersten Urlaub in Ägypten machte, erzählte er mir nach der Rückkehr unter anderem zwei Dinge: dass im Zoo von Kairo Schäferhunde in Käfigen ausgestellt seien und dass er wegen seiner hellen Haare immer aufgefallen sei und die Leute versucht hätte, wie bei einem fremden Wesen seine Haare anzufassen. Sobald also etwas in einem Kontext ungewohnt ist, wird es zum Betrachtungs- und Ausstellungsobjekt. Schäferhunde sind bei uns immer noch so selbstverständlich, dass niemand auf die Idee käme, sie auszustellen. Und Menschen mit helleren Haaren natürlich auch nicht. Man muss freilich niemand in einen Käfig stecken, um ihm ein Gefühl zu vermitteln, er wäre in einem solchen. Das – so stelle ich es mir vor – ist der Kontext, mit der die Wiener Gruppe mit dem schönen Namen „God’s Entertainment“ im Hamburger Kampnagel ihr „Live Art“-Festival-Experiment „Human Zoo“ gestartet hat. Sie schreiben zu ihrer Performance: „In Zeiten, in denen auch gegen unerwünschte menschliche Stadtbewohner temporäre Aufenthaltsverbote an vermeintlich öffentlichen Orten ausgesprochen werden, verspricht eine zoopolitische Transspezies-Perspektive neue Erkenntnisse: So arbeiten God’s Entertainment mit der Hypothese, dass soziale und materielle Kontroll- und Ordnungsmechanismen einen Transfer von Tier zu Mensch erleben. Von Tauben-Spikes und Tauben-Netzen war es kein weiter Weg zu Parkbänken, auf denen Obdachlose nicht mehr liegen konnten: Gegen den Körper gerichtete Erschwerungen des Aufenthalts – oder wie im Zoo zur Verhinderung der Flucht – bleiben fast unsichtbar, könnten aber gerade dadurch kaum brutaler sein. Das Wiener Performancekollektiv wird für die Dauer von ZOO 3000 einen HUMAN ZOO errichten, in dem menschliche Randgruppen ausgestellt werden. Die performative Installation versucht durch die Abbildung des Originals den Kreislauf der Stereotypen zu durchbrechen. God’s Entertainment arrangiert und inszeniert die Klischees so, dass die schon vorhandenen Vorstellungen der Zuschauer bestätigt und verstärkt werden. Für die gesamte Dauer von ZOO 3000 werden die ausgestellten Randgruppen den HUMAN ZOO als Lebensraum beziehen – und erst in der LANGEN NACHT DER BEFREIUNG wieder verlassen.“ Das Schöne an ihrem Experiment ist natürlich die Nacht der Befreiung, die es für alle anderen nicht gibt. Ein Stigmata-Experiment zur Unterhaltung Gottes könnte man als Theologie ironisch. Aber wie beurteilt man eine Kunst, die von der Wirklichkeit längst schrecklich überholt ist, in der es Menschenparks schon lange gibt, und die sich nur noch fragt, welche Regeln denn für den Menschenpark aufzustellen wären? Ist diese Kunst mehr als die Erkenntnis aus Prediger 3, 19-22:

Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh; denn es ist alles eitel. Es fährt alles an einen Ort; es ist alles von Staub gemacht und wird wieder zu Staub. Wer weiß, ob der Odem der Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehes abwärts unter die Erde fahre? So sah ich denn, dass nichts Besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dahin bringen, dass er sehe, was nach ihm geschehen wird?


Beavis and Butt-Head-Theologie /16.06.2013

Als Friedrich Daniel Schleiermacher fragte „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ konnte er sich vermutlich nicht vorstellen, dass es einmal Theologen geben würde, denen diese Fragestellung herzlich egal sein würde und die sich lieber auf die trivialen Elemente von Religion beziehen möchten, als sich mit komplexenkulturellen und kulturhermeneutischen Fragen auseinander zu setzen. Friedrich Niebergalls Satz zur „Klärung des evangelischen Kultusproblems“ aus dem Jahr 1925 "Jedenfalls wollen wir uns hüten, unser Kirchenvolk, das singen, beten und eine gute Predigt hören will, auch noch zu verlieren, indem wir ihm Kaviar vorsetzen, wo es Brot will" bekommt so im Nachhinein eine unerwartete Pointe. Inzwischen warnen immer mehr Theologen davor, sich auf früher als hochkulturell etikettierte Phänomene einzulassen, weil man so die Menschen, mit denen man doch kommunizieren wolle, verschrecke.

Daran sind verschiedene Dinge interessant. Zu einen speist sich dieser Gedanke vermutlich primär aus dem Unwillen, sich selbst auf Dinge einzulassen, die man nicht unmittelbar versteht. Niedrigschwelligkeit wird nicht nur zur pädagogischen Intention erklärt, sondern für den Pädagogen selbst in Anspruch genommen. Warum soll er sich der Mühe unterziehen, sich mit Phänomenen zu beschäftigen, die seine Klientel vermeintlich doch nicht verstehen? Man imaginiert ein niedriges intellektuelles Niveau der Zielgruppe und passt sich dem an.

Zum anderen wird in einem solchen Denken auch eine starke Verachtung der Zielgruppe deutlich. Man traut ihnen nichts zu und mutet ihnen schon gar nicht zu, sich mit komplexeren symbolischen Zusammenhängen zu beschäftigen. Warum Plato, wenn es Dieter Bohlen doch auch tut? Und das ist dann nicht nur eine rhetorische Frage. Wenn es nur darum geht, ein Sinnuniversum zu entwerfen, dann reicht auch „Beavis and Butt-Head“. Irgendwann werden wir dann eine Theologen-Generation haben, die zwar nicht weiß, was in der Bibel steht und was zum narrativen Kontext des Christentums zählt, die sich aber exzellent darin auskennt, in welcher Fernsehserie sinnstiftende Elemente auftauchen könnten. Mir stellt sich dann aber die Frage: Wozu? Dann kann man doch gleich „Beavis and Butt-Head“ schauen.


Zeitgeist 20.06.2013

Die neue Orientierungshilfe der EKD zur Familie löst unter konservativen Christen der beiden großen Konfessionen Ängste aus. Weil man schon längst Religion in Moral und Werte überführt hat, basht man nun die EKD, weil diese Moral und Werte anders bewertet als man selbst. Dass ein Journalist schreiben kann, die Leitlinien zeichne „eine schockierend unideologische Alltags- und Realitätsnähe aus“ und das kritisch meint, lässt mich daran zweifeln, ob er jemals begriffen hat, was Protestantismus eigentlich ist. Letztlich wiederholt man nur einen Satz: dass die evangelische Kirche nicht katholisch sei. Gott sei Dank!

Dass jemand nach der Aufklärung ernsthaft noch fragt, wer denn die Christen am Ende vertreten würde, ohne auf die Idee zu kommen, dass genau diese Frage vor knapp 500 Jahren die Differenz von evangelisch und katholisch begründet hat, ist schon merkwürdig und zeigt, dass der Protestantismus seine Ideen noch besser kommunizieren muss. Nein, nicht die EKD, nicht die katholische noch eine sonstige Kirche vertritt uns, wir bedürfen keiner Heilsschätze verteilenden Zwischeninstanzen, sondern stehen unmittelbar vor dem Herrn. Der theologische Überbau, den Ulf Poschardt in der WELT einklagt („die Kirche als Schwergewicht des Normativen“), ist gerade jener unerträgliche als Religion verbrämte Moralismus, den der Protestantismus zugunsten der Freiheit des Christenmenschen beiseite geräumt hat.

Heute leidet die Kirche unter einem moralischen Ballast, der aus einer Zeit stammt, als Religionen und Theologien nicht nur für die Gotteslehre, sondern auch für den Fortbestand der Gesellschaft zuständig waren. Sie mussten also Regeln aufstellen, die diesen Fortbestand zu garantieren schienen. Heute, in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, sind es die Bürger selbst, die diese Regeln diskutieren und über das Parlament festlegen. Und dabei stellen sie fest, dass der Bann des scheinbar Andersartigen, den frühere Gesellschaften gegenüber Minderheiten und auch anderen sexuellen Orientierungen ausgesprochen hat, sich nicht mehr halten lässt. Tattoos und Piercing sind keine Todsünden, auch wenn es in der Bibel so steht, und auch Homosexualität ist keine Sünde. Diese sich religiös gebende Verurteilung ist überholt.

Ja, die Evangelische Kirche lebt das „Anything goes“. Anders als Poschardt in der WELT es uns aber nahelegen will, heißt „Anything goes“ nach Paul Feyerabend gerade nicht Beliebigkeit, sondern das bewusste Erkunden der Freiheitsräume des Menschen. Schauen wir, was geht. Die Evangelische Kirche ist, das zeichnet sie aus, ein Schwergewicht der Freiheit.


Zeitgeist II / 21.06.2013

Nun hat auch der Spiegel, bestens ausgewiesenes Medium zur Verteidigung der Religionskultur, zumindest auf seiner Online-Ausgabe zum Familienpapier der EKD Stellung bezogen. Unter der Überschrift „Scheidung leichtgemacht“ bemüht sich Jan Fleischhauer nach Kräften, sich lächerlich zu machen. Man merkt gleich am Anfang, dass Fleischhauer offenbar seit Jahren nicht mehr auf einer evangelischen Hochzeit war. Um den Satz „Bis dass der Tod euch scheidet“ von der Agenda evangelischer Trauzeremonien zu nehmen, bedurfte es gewiss nicht eines Familienpapiers der EKD. Derartiges wurde schon lange im Traugespräch mit dem Paar abgesprochen.

Aber Fleischhauer nimmt es nicht so genau mit den Fakten. Die EKD hat ganz sicher nicht eine Orientierungshilfe zur Familienfrage für ihre Würdenträger herausgegeben. Zum einen dürfte die EKD als Verwaltungseinheit das gar nicht, das läge in der Hand der einzelnen Landeskirchen. Zum anderen sind die Pfarrerinnen und Pfarrer nach evangelischem Verständnis gar keine Würdenträger. Da muss sich Fleischhauer schon nach Rom wenden. Aber Fleischhauer wiederholt nur die ganz und gar vom Denken befreite Formel „Die Evangelischen sind nicht katholisch“. So ein Schreck aber auch. Ja, der Protestantismus ist die Religion, die das Selbstbestimmungsrecht des Individuums seit 500 Jahren konsequent gefördert hat – aus theologischen Gründen. Die merkwürdige Idee, dass das evangelische Subjekt einer übergeordneten Institution bedürfe, die ihm in religiöser Perspektive sagt, wo es lang geht, ist seit Jahrhunderten Makulatur der Religionsgeschichte. Sapere aude! kann man da nur sagen.

Dass Fleischhauer in seiner ressentimentgeladenen Kolumne auch noch schnell den antijudaistischen Sprachgebrauch „alttestamentarisch“ pflegt (Da wird selbst der sanfte Nikolaus Schneider, der Käßmann im Amt des EKD-Ratsvorsitzenden nachfolgte, ganz alttestamentarisch), verwundert kaum. Ja, die Juden waren immer schon ausfallend und zornig und die Evangelischen machen es ihnen in Fragen der Wirtschaftsethik nach. Die politischen Zuordnungen, die Fleischhauer vornimmt, sind ebenso lächerlich. Da wird sich Günter Beckstein aber wundern, dass er jahrelang Vizepräses der Synode der Kirche der Grünen war. Wie kann man nur auf so wenigen Zeilen so viel Unsinn schreiben?

Mir würde es aber reichen, wenn Fleischhauer nur eine einzige Predigt der letzten 500 Jahre benennt, mit der er – wie er so schön schreibt – „verlässlich“ Auskunft darüber bekommen könnte, was jenseits des Diesseits passiert. Denn er möchte von evangelischen ‚Würdenträgern‘ verlässlich Näheres über Himmel und Hölle erfahren. Da kann er lange warten. Kein Mensch dieser Welt kann ihm da helfen, selbst Visionen und Erscheinungen bieten keine „verlässliche“ Grundlage – da muss er schon selbst glauben. Schickt er deshalb seine Kinder in die Kirche, damit sie statt von der Rechtfertigungslehre und der vorausgehenden Gnade Gottes etwas über die Hölle erfahren? Dann sollte er die Konfession wechseln. Die Katholiken behaupten wenigstens ab und an, sie wüssten über die Hölle Bescheid.


Ehe / 04.07.2013

Der Streit um das Familienpapier der EKD ist in vielerlei Hinsicht bizarr. Im Wesentlichen kritisieren Menschen außerhalb der EKD das Papier. Dass Funktionäre einer Splittergruppe, die nicht einmal Abendmahlsgemeinschaft mit der EKD hat, meinen, sich abwertend zu einem Orientierungspapier der EKD äußern zu müssen, ist schon ein starkes Stück. Nichts spricht dagegen, dass die SELK ihre eigene Position zur Ehe darlegt. Das ist ihr Recht. Aber es hat keine Bedeutung für den Bereich der EKD. Die SELK vertritt in ganz Deutschland mit 34.000 Gläubigen weniger Menschen als der Superintendent meiner Heimatstadt (der Kirchenkreis Hagen hat 78.000 evangelische Christen). Aber die SELK meint, sich in die religiösen Belange der EKD einmischen und sie belehren zu können. Das ist schon dreist. Aber auch das Dialog-Verständnis der katholischen Kirche will mir nicht recht einleuchten. Das EKD-Papier erschwere die Ökumene. Warum? Weil es eine andere theologische Position vertritt? Wenn wir übereinstimmen, brauchen wir keinen Dialog. Dialoge leben davon, dass andere differente Ansichten haben, über die man sich austauscht. Nun ist es das Bemerkenswerte am EKD-Papier, dass es Positionen artikuliert, die seit Jahren im Protestantismus und unter Theologen selbstverständlich sind, ja die bereits in die Standard-Lexika aufgenommen wurden. Vielleicht ist es aber so, dass diese Positionen zwar im Kopf angekommen sind, aber nicht im Herzen und in der Lebenswirklichkeit? Die EKD sollte also aus der Diskussion um das Familienpapier eine Tugend machen und die Position des Protestantismus noch einmal klar akzentuieren. Dazu würden dann Sätze wie die Folgenden gehören: „Von der Ehe als ‚göttlicher Schöpfungsordnung‘ zu sprechen, hält der kritischen theologischen Nachfrage nicht stand ... Eine religiöse Verabsolutierung der Ehe findet sich in der Bibel nicht. Die christlich-ethischen Auffassungen zu Bedeutung und Inhalt der Ehe haben sich zudem als besonders zeitbedingt und ideologieanfällig erwiesen ... Es ist deswegen aus der Sicht christlicher Ethik richtig, für die rechtliche Anerkennung nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften einzutreten, um die verbindliche Gemeinschaft auch jenseits traditioneller Lebensformen zu fördern. Der Leitbildcharakter der Ehe muss keineswegs mit der Abwertung nicht-ehelicher Lebensformen  verbunden werden.“ (Heinrich Bedford-Strohm, Artikel Ehe, Taschenlexikon Religion und Theologie, Göttingen 5/2008). Heinrich Bedford-Strohm (heute Bischof der bayerischen Landeskirche und damit Vertreter von 2,5 Millionen evangelischen Christen) zieht daraus den Schluss, es gehe künftig darum, eine „Kultur der Verbindlichkeit“ zu pflegen. Das Familienpapier der EKD steht, soweit ich es sehe, in dieser Tradition der Kultivierung von Verbindlichkeit. Und es gibt keinen Grund, hier auch nur einen Schritt zurückzutreten. Ganz im Gegenteil, wir müssen es noch viel lauter sagen: „Dass den Menschen von Gott quer zu den Geschlechtergrenzen ganz unterschiedliche Begabungen und Talente geschenkt werden (1. Kor 12), hat Folgen für die Gestaltung von Partnerschaft und Familie. Nicht traditionelle biologische oder gesellschaftliche Rollenzuschreibungen können Grundlage der Organisation familiären Zusammenlebens sein, sondern die Form solchen Zusammenlebens muss in wechselseitigem Konsens je nach Präferenz und Begabung partnerschaftlich vereinbart werden.“ (Ebenda)


Die Feinde der offenen Gesellschaft / 11.07.2013

Man kann der EKD nur dankbar sein, dass sie ihre Orientierungshilfe so dezidiert formuliert und zur Diskussion gestellt hat. Zumindest eines wurde damit erreicht: die Feinde einer offenen und freien Gesellschaft fühlen sich provoziert. Ein bestimmter konservativer Teil der katholischen Kirche versteht Katholizismus seit einigen Jahren weniger als Bekenntnis zu Jesus Christus, als vielmehr als ideologische Motivation zur Verfolgung von Homosexuellen. Kreuz.net war da nur die Spitze des Eisberges. Wie verbreitet die Verachtung von Homosexuellen ist, kann man auf kath.net oder katholisches.info nachlesen, wo Evangelische schon mal gerne als ‚Protestunten‘ bezeichnet werden. Nun ist es mir ganz egal, wie die Katholische Kirche und manche ihrer Zirkel ihr Verhältnis zur Homosexualität bestimmen – solange das nur die Katholiken betrifft. Das müssen sie unter sich ausmachen. Wenn es ihnen gefällt, Gott so zu denken, dass dieser die sexuelle Identität mancher Menschen grundsätzlich ablehnt – bitte schön, wer das glauben mag. Mein Gottesbild ist ein anderes. Was wir als Teil der offenen Gesellschaft aber nicht tolerieren sollten, ist der Versuch einer konservativ-katholischen Domestizierung unserer Lebenswelt. Nur weil manche Katholiken ein Problem mit Homosexualität und eben auch mit Homosexuellen haben, muss der Rest der Gesellschaft nicht darunter leiden. Geht man davon aus, dass selbst in der katholischen Kirche die Homosexuellen-Phobie nur eine minoritäre Position ist, dann erleben wir gerade, wie eine aggressive kleine Minderheit weltweit die Menschenrechte – und hier meine ich das Menschenrecht der Homosexuellen auf Gleichbehandlung – einzuschränken sucht. Ich sehe in diesem Sinne das Forum Deutscher Katholiken als Feind einer offenen und freien Gesellschaft. Dass ausgerechnet ein Vertreter dieses Forums sich gegen die EKD auf die Falsifizierungsthese von Karl Popper beruft ist wirklich eine Beleidigung des kritischen Rationalismus und lässt fragen, ob der Betreffende begriffen hat, was diese These besagt. Karl Popper ist ein dezidierter Vertreter einer offenen Gesellschaft und damit ein Kritiker dessen, was der konservative Katholizismus mit seiner Ausgrenzung der Homosexuellen intendiert. Deshalb war für Popper die strikte religiöse Neutralität der Gesellschaft wichtig. Dass konservative Vertreter der katholischen Kirche im Konzert mit Vertretern der Evangelikalen nun ernsthaft meinen, der Evangelischen Kirche vorwerfen zu müssen, diese halte sich nicht an Schrift und Bekenntnis, ist lachhaft. Da würde ich doch vorschlagen, lieber gründlich vor der eigenen Tür zu kehren. Warum aber diese panikartigen Attacken auf ein Papier der EKD? Der konservative Katholizismus erkennt, dass er mit seinen Positionen in unserer freien Gesellschaft keine Rolle mehr spielt. Nicht einmal die Katholiken selbst halten sich an katholische Regeln zur Sexualmoral – weder in Sachen Kondomgebrauch, vorehelicher Geschlechtsverkehr, Scheidung usw. Dieses ganze Gebäude der Identifizierung von Religion mit Moral ist in sich zusammengestürzt. Selbst die CDU hat erkannt, dass dieser Konnex uns nicht weiterbringt. Da aber nicht sein kann, was nicht sein darf, wird nun alles niedergemacht, was andere Positionen vertritt. Und es reicht offenkundig nicht zu sagen, ich denke anders, sondern man muss dem anderen auch noch grundsätzlich seine Position bestreiten. Helfen wird das den konservativen Katholiken aber auch nicht: Tempora mutantur, nos et mutamur in illis.


Hirtenwort / 15.07.2013

Wie viel Bildung darf man von Bundespolitikern erwarten? Von den so genannten Spitzenkandidaten der Parteien, die von uns als Wählerinnen und Wähler erwarten, dass wir am Wahltag unserer Kreuzchen bei ihrer Partei bzw. ihrer Person machen? Man kann davon ausgehen, dass, wenn man heute ein Interview mit einem derartigen Spitzenpolitiker liest, nichts Unüberlegtes publiziert wird, sondern dass das Interview vor der Veröffentlichung gegengelesen und freigegeben wurde. Am heutigen Montag erscheint nach diversen Vorankündigungen durch Nachrichtenagenturen ein Interview von einem der beiden Spitzenkandidaten der Grünen mit Spiegel online. Jürgen Trittin sucht aus der offenkundigen Schwäche der Bundesregierung in der NSA-Affäre Kapital zu schlagen, um die Wähler für die eigene Partei zu mobilisieren. Und so polemisiert er heftig herum, wirft der Koalition vor, zu „agieren wie die drei Affen - nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.“ Und die Justizministerin, die in dieser Frage eher auf Seiten der Grünen agiert, nennt er einen Papagei, der immer dazwischen plappert. Und was wirft er der Bundesregierung vor? Vor allem Untätigkeit. Und dann kommt folgender Satz:

„Da erwarte ich von der Bundesregierung ein Engagement. Stattdessen scheint sie auf alttestamentarische Art die andere Wange auch noch hinzuhalten.“

Dieser Satz ist auf so viele Arten verstörend, dass man gar nicht weiß, womit man anfangen soll. Darf ich von einem Spitzenpolitiker Deutschlands erwarten, dass er weiß, wo in der Bibel die Bergpredigt steht? Dass er das Zitat „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“ richtig einordnen kann? Selbstverständlich greift Matthäus 5, 38 auch einen Vers aus der hebräischen Bibel auf. In Sprüche 20, 22 heißt es: „Sprich nicht: «Ich will Böses vergelten!» Harre des HERRN, der wird dir helfen.“ Aber die Formulierung mit der Wange ist– das gehörte einmal zum Bildungsbestand – einer der berühmtesten Sätze Jesu. Die antijudaistische Formulierung „alttestamentarische Art“ ist man ja inzwischen von Politikern gewohnt, neu ist, dass Trittin sie um von ihrem ursprünglichen denunziatorischen Kontext (das missverstandene „Auge um Auge, Zahn um Zahn“) löst und sie unter Beibehaltung des pejorativen Akzents mit einer gegenteiligen Aussage verbindet. Nun soll plötzlich die Feindesliebe etwas Schlechtes, eben „nach alttestamentlicher Art“ sein. Interessant ist auch gerade bei dieser Partei, dass Trittin die Gewaltlosigkeit, um die es in diesem Vers geht, nun als Inaktivität auslegt. Als hätten nicht Jahrzehnte des gewaltlosen Widerstands gezeigt, dass diese Art der paradoxen Intervention außerordentlich effektiv ist. Aber sei‘s drum. Ich frage mich seit heute, ob ich ernsthaft eine Partei für die Wahl in Betracht ziehen kann, deren Repräsentant a) von paradoxen Interventionen nichts versteht und deshalb b) den Verzicht auf Rachegedanken als mangelndes Engagement brandmarkt, dazu noch c) antijudaistische Klischees verbreitet, weil er d) nicht einmal weiß, wo die Bergpredigt zu verorten ist. Kultur nenne ich etwas Anderes. Nicht, dass es bei den Politikern anderer Parteien besser aussähe. Aber das hilft mir auch nicht. Ganz im Gegenteil.

[Update] Es hat gerade einmal 3 Stunden gedauert, dann wurde das Interview korrigiert. Nun heißt es an der betreffenden Stelle: "Da erwarte ich von der Bundesregierung ein Engagement. Stattdessen scheint sie die andere Wange auch noch hinzuhalten." Besser wäre es gewesen, Trittin hätte entweder das Missverständliche gar nicht erst gesagt oder es vor Veröffentlichung des Interviews korrigiert. Aber immerhin erweist sich Trittin in einem Punkt als lernfähig. Es scheint aber das "Wange hinhalten" immer noch für einen Fehler zu halten.


Religiöser Katastrophentourismus / 15.07.2013

Für manche Zeitgenossen findet die theologische Apokalypse beinahe tagtäglich statt. Irgendwo sagt einer was ganz Normales wie „Auch Frauen können ordiniert werden“ (1927 / 1958) oder „Jetzt wählen wir eine Frau zur Bischöfin“ (1992) oder „Jetzt lassen wir die Hochzeit gleichgeschlechtlicher Paare zu“ (2005) und schon geht wieder die Welt unter ... und wieder .... und wieder ... und wieder. Muss irgendwie Spaß machen dieser theologische und innerkirchliche Katastrophentourismus. Seitdem ich mich mit Fragen der Theologie beschäftige, gehört der Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus zu dieser Gattung der theologischen Apokalypseverkünder. Wann immer jemand etwas sagt, was jenseits des lutherischen Minimalkonsenses liegt und nicht den Geruch des Wertekonservativen hat, kann man sicher sein, dass Beyerhaus mit apokalyptischen Warnungen auftritt. Das muss bei ihm wie ein pawlowscher Reflex sein, darin seinen Gesinnungsgenossen von der evangelikalen Bekenntnisfront nicht unähnlich. Frauenordination? Igittigitt! Wahl einer Bischöfin? Eine "der schwersten geistlichen Katastrophen"! Zulassung gleichgeschlechtlicher Paare zur Hochzeit? „Eine aktuelle sittliche Gefahr“ und ein „moralischer Flurschaden“, der einen sofortigen Rücktritt des Ratsvorsitzenden der EKD nach sich ziehen müsse. Was für ein autoritätsfixierter Müll.

Und die dazu passende apokalyptische Drohung: Sonst werde man katholisch! Na, hoffentlich, denkt man sich da und weiß doch, er und seine Gesinnungsgenossen tun es nicht, sonst entfiele die Grundlage für den heiß geliebten theologischen Katastrophentourismus.

Dass die Kirche Paul Tillichs und Richard Niebuhrs, die United Church of Christ, bereits 2005 die Ehe gleichgeschlechtlicher Paare zugelassen hat, ohne dass bisher erkennbar die Welt im Stil von Sodom und Gomorra untergegangen sei, verwundert angesichts derartiger katastrophischer Rhetorik. Nun kann man durch den Blick auf die scheinbare Katastrophe auch erstarren, so sehr, dass man zur Salzsäule wird. Statt aufzubrechen und die Welt zu gestalten, erfreut man sich an den eigenen Weltuntergangsphantasien. Wieder ... und wieder ... und wieder.

Noch fataler ist aber die geradezu totalitäre Sprache: „Sind Sie unter dem Eindruck des durch das EKD-Papier und Sie selber entfesselten Sturms bereit, eigene Fehlorientierung einzugestehen und sich angesichts der Heiligkeit Gottes – möglichst gemeinsam mit dem gesamten Rat der EKD – von ihm zu distanzieren?“ So spricht der Großinquisitor im Auftrag des Heiligen Geistes. Ratsvorsitzender Schneider soll eigene Fehlorientierung eingestehen? Diese Tonlage finde ich so unverschämt und beleidigend, dass ich mich frage, ob Beyerhaus noch alle Tassen im Schrank hat. Selbst die katholische Kirche hat die Inquisition längst abgeschafft. Auf die beyerhaussche Wiedervorlage kann ich gut und gerne verzichten.


Kirchenraum-Fetischismus / 22.07.2013

Manchmal sollte man heutigen Architekturkritikern doch empfehlen, ein wenig mehr in der Bibel zu lesen. In Jesaja 66, Vers 1 heißt es: „So spricht der Herr: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel für meine Füße. Was wäre das für ein Haus, das ihr mir bauen könntet? Was wäre das für ein Ort, an dem ich ausruhen könnte?" Und das Johannesevangelium überliefert die Frage an Jesus, wo denn der wahre Ort der Anbetung sei, im Tempel in Jerusalem oder am samaritanischen Heiligtum auf dem Berg Garizim. Und er antwortet: Weder noch! Auf den Ort kommt es gar nicht an. Es kommt auf die „wahre Anbetung" an, „im Geist und in der Wahrheit" (Joh 4,19-24). Und der Apostel Paulus sagt zur Gotteshausfrage: „Ihr seid Gottes Bau ... Wisst ihr nicht, dass ihr der Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?" (1 Kor 3, 9b.16). [Vgl. Fendrich, Herbert (2003): Die Essener Leitlinien. Erhalt, Nutzung, Nutzungsänderung, Nutzungserweiterung von Kirchen im katholischen Ruhrbistum. In: Hans H. Hanke (Hg.): Vom neuen Nutzen alter Kirchen. Bochum, S. 27–35.] Soweit der biblische Befund. Aber Dankwart Guratzsch, Architekturkritiker der WELT weiß es besser als Gott im Jesajabuch, weiß es besser als Jesus im Johannesevangelium, weiß es bessere als Paulus im Korintherbrief: „Mit der Absage an die Identität der Kirchengebäude ist auch die Bindung an Kirche zurückgegangen, mit der Profanierung von kirchlichem Handeln die Befähigung, Spiritualität darzustellen, sie zu leben und ihr Raum zu geben.“ Letztlich ist es freilich nur ein Abklatsch von Hans Sedlmayr, wenn Dankwart dekretiert: „Die Gotik zeigte, wie's auch anders geht“. Die herangezogenen Argumente sind allerdings haarsträubend. Früher habe man große Gebäude für viel weniger Menschen gebaut. Ja, das ist wahr. Aber man hat noch viel mehr Menschen ausgebeutet, um diese großen Gebäude zu bauen. Als der Dom zu Speyer gebaut wurde, besaß der Ort nur 500 Einwohner, die nicht einmal alle am Gottesdienst teilnehmen durften. Unterhalten könnten 500 Einwohner heute diese Kirche nicht einen Monat lang. Schon damals diente sie nicht den Menschen, sondern nur der Pracht- und Machtentfaltung. Das hat mit dem biblischen Glauben wenig zu tun. „Wisst ihr nicht, dass ihr der Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ – Nein, Dankwart Guratzsch weiß es nicht. Sonst könnte er nicht vom Rückzug des Christentums aus der Fläche schreiben, nur weil Gebäude aufgegeben werden. Die von ihm so lobend erwähnten Freikirchen machen es freilich vor: Man braucht keine ostentativen Gebäude, um den christlichen Glauben zu pflegen. Nehmen wir die Hauptkirche der Church of God in Christ in Amerika, der größten Pfingstkirche, dann sehen wir ein normales Gebäude, das im Innern mehr den Charme einer Turnhalle als einer gotischen Kathedrale versprüht. Und das zeigt, dass das ganze Gerede von der Identitätsbildung des Christentums anhand seiner Gebäude Quatsch ist. Dass ausgerechnet jener Religion, die sich auf einen Stifter bezieht, der keinen Platz in der Herberge fand, vorgeworfen wird, sie baue und erhalte nicht genügend Prunkbauten, zeigt, wie wenig die Diskussion um die Kirchengebäude noch mit der Bibel zu tun hat. Es geht um Ideologie. Da sage ich doch lieber mit Papst Franziskus: Kehren wir zu den Ursprüngen zurück, zu Jesaja, Jesus und Paulus!


Twitter-Denken / 29.07.2013

Dass die Grundidee von Twitter, Komplexes auf 140 Zeichen-Fetzen herunterzubrechen auch einmal Auswirkungen auf andere Artikulationen haben würde, war abzusehen. Inzwischen mehren sich die Blogs, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ganze Aufsätze auf wenige Zeichen reduzieren bzw. ihren Argumentationsanteil auf das Bekunden der Zustimmung oder der Ablehnung beschränken. Jesus Christus? I like it! Daumen hoch oder Daumen runter sozusagen. Ein Beispiel ist ein Blogeintrag, in dem jemand einen Text aus dem Magazin für Theologie und Ästhetik, der im Original über 40.000 Zeichen umfasst, auf sage und schreibe 800 Zeichen eindampft (bei etwa 150 Zeichen Eigenanteil) und ihn zugleich nicht nur grundsätzlich missversteht, sondern auch noch zur Selbstüberhöhung nutzt. Im Aufsatz „Ist Gott eine ästhetische Formel? Von Meistern der Leere, Sinnsuchern und theologischen Zwergen“ hatte ich die heftige Debatte um das Buch „Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?“ von George Steiner aufgegriffen und theologisch einzuordnen versucht. Steiner spielte dabei selbst ironisch an auf bestimmte „Meister der Leere“, die er durch Roland Barthes und Karl Barth vertreten sah und denen gegenüber er die Theologie lieber als Sinngaranten von Kultur und insbesondere von Sprache und Literatur in Anspruch zu nehmen gedachte. Das hatte ich mit Walter Benjamins Figur der Theologie aus den geschichtsphilosophischen Thesen verknüpft, die zum Zwerg geworden sei und sich öffentlich nicht mehr blicken lassen dürfe, aber durchaus den Schachspieler des historischen Materialismus anzutreiben in der Lage sei. Vor die Alternative gestellt, so hatte ich meinen Aufsatz beschlossen, zwischen Karl Barth und Roland Barthes als den Meistern der Leere einerseits und einer so beschriebenen funktional in Gebrauch genommen Theologie andererseits wählen zu müssen, seien mir die Meister der Leere lieber als Zwerge der Fülle. Ein offenkundig zu sehr an Twitter gewöhnter Kollege meinte nun, sich über diese Wahl lustig machen zu müssen („In diesem Kontext schreibt Mertin den ach, so heldenhaften Satz: ‚Mir jedenfalls ist ein Meister der Leere lieber als ein Zwerg der Fülle.‘”). Die Zusammenhänge der theologischen Argumentation unterschlug er einfach, kramt nur zwei Zitate von Steiner raus und meint dann, dem entgegenschmettern zu können: „Ich meines Teils möchte kein Meister der Leere sein, sondern Zwerg der Fülle.“ Nun könnte man mit Adorno darauf antworten: "Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen." Das möchte ich aber nicht. Aber vorsichtig hinweisen sollte man schon darauf, dass der Satz des Kollegen nur Sinn macht, wenn man über eine Handlungsalternative verfügt. Wenn man also sowohl ein „Zwerg der Fülle“ als auch ein „Meister der Leere“ sein könnte und sich nun für das eine entscheidet. Nun scheint es bei ihm weder fürs eine noch fürs andere zu reichen. Weder erreicht er das Format eines Karl Barth bzw. Roland Barthes noch das eines George Steiner. In seiner Egomanie hat er nicht gemerkt, dass es auch nicht darum geht, was man selbst sein möchte (was wäre das auch für eine Anmaßung!), sondern welche Art von Theologie man bevorzugt: eine, die funktional nützlich ist, um z.B. der Literatur des späten 20. Jahrhunderts ihren Sinn zu garantieren, oder eine, die sich dieser Funktionalisierung widersetzt und den Spielraum des zu Sagenden im Interesse der Theologie offen hält.

tl;dr und damit auch der Kollege versteht, was ich von seinen Ausführungen halte:

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/84/am447.htm
© Andreas Mertin, 2013