Paradigmen theologischen Denkens II


Heft 84 | Home | Heft 1-83 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Bruch-Stücke „trag- und sagfähigen Glaubens“[1]

Oder der Schrei über den „garstig breiten Graben“[2]

Matthias Giesel

Ihren Ausdruck finden könnte die Betrachtungsweise der Begrifflichkeit „trag- und sagfähigen Glaubens“[3] innerhalb eines im Tillichschen Sinne „gläubigen Realismus“[4]. Dieser würde nicht als gesellschaftliches oder politisches Konzept sondern als theologischer Anspruch in einer Bewegung der Veränderung befindlichen, nicht ideologisch verengten Sicht Glaubensprozesse „trag- und sagfähigen Glaubens“[5] einschätzen.

Realismus könnte somit als Wirklichkeitssinn oder realitätsnahe Einstellung zu charakterisieren sein, wobei sich nach pluralem Denken Wirklichkeit als Wahrnehmung einzelner Subjekte einer Interessengemeinschaft oder eines Kulturkreises gründen würde. In allgemeinerer Bedeutung erweist sich der Begriff des Realismus als philosophische Denkrichtung, nach der jedoch eine außerhalb unseres Bewusstseins liegende Wirklichkeit oder Wahrheit angenommen wird, zu deren Wahrnehmung man angeblich durch Denken gelangt, ganz im Sinne des Descartes´schen Diskurses ´cogito ergo sum´ Denken als Voraussetzung eigenen Seins versus des Glaubens an eine außerhalb eigener Vorstellungs- und Gedankenwelt existierende Realitäts- und Wahrheitskonstruktion.

Dem fügt P. Tillich die theologische Begrifflichkeit des ´gläubig´ als vom Glauben erfüllte nähere Bestimmung hinzu. In Verbindung mit trag- und sagfähigen Glaubens-Bruch-Stücken eröffnen sich weit über subjektive Vernunftbestrebungen hinaus christliche Horizonte als außerhalb unseres Bewusstseins liegende Wirklichkeit einer unbedingten Gabe. Zu solcher Erkenntnis gelangt man nicht durch eigene aktive intellektuelle Leistung, sondern durch die jedem glaubenden Menschen zuteilwerdende, ohne sein Zutun empfangene Gnade Gottes, welche i.S. einer Trag- und Sagfähigkeit sowohl Wollen als auch Vollbringen erwirkt[6].

Als Vorläufer des bei N. Bolz weiterentwickelten kritischen Realismus[7] werden bei P. Tillich als Ausdruck einer unbedingten Spannung Glaube und Realismus aufeinander bezogen: „Glaube und Realismus“ gehören zusammen. „Denn im Glauben ist die unbedingte Spannung enthalten, und keine Haltung kann mit ihm zusammen gehen, die diese Spannung abschwächt.“ „Der gläubige Realismus drückt sie aus.“[8] „Das grundlegende Symbol“ ist sogar dann „in jedem Glaubensakt gegenwärtig, wenn dieser die Leugnung Gottes einschließt“, weil „unbedingtes Ergriffensein seinen eigenen Charakter -sein Unbedingtsein- nicht verneinen“[9] kann. Daher scheint ein trag- und sagfähiger Glaube unter der Forderung einer exakt definierten Begrifflichkeit nicht genügend Würdigung finden zu können.

Versuche, ihn als allgemein bestimmte Annahme vom sogenannten relativen Glauben abzugrenzen, wirken einseitig, indem sie aufgrund der Abstraktion Menschen in ihrer jeweiligen geschichtliche Situation und ihren Glaubensbedingungen innerhalb eines bestimmten Lebenskontext nicht einbeziehen. Dadurch besteht die Gefahr der Götzenverehrung als Überbetonung selbstkonstruierten Glaubens an etwas. Eine Position des Glaubens als „innere Sicherheit, die keines Beweises bedarf“, „als Vertrauen, feste Zuversicht“[10] zu definieren, betrachtet hingegen eine singuläre, positivistisch veranlagte Seite innerer Zuversicht unerschütterlichen Vertrauens des Menschen in den jeweiligen Gegenstand oder die Person des Glaubens.

Dabei werden jedoch auf der anderen Seite oftmals Ambivalenzen vernachlässigt, die sich z.B. durch fragenden Zweifel oder in jeweilig stärker oder schwächer ausgeprägtem, kommunikativ-interaktionistisch ambitioniertem Schwanken zwischen Glaube und Unglaube äußern, - Situationen, in die jeder Mensch im Laufe seines Lebens immer wieder gerät und die daher zur Sprache kommen sollten.

Im Buch Jesaja wird dies symbolhaft mit dem Bild eines glimmenden Dochtes verdeutlicht, dessen schon beinahe völlig zum Erlöschen gebrachtes Feuer des Glaubens in seinem Flackern und Schwanken wider Erwarten doch nicht vollständig zum Erliegen kommt: und es bleibt die Hoffnung bestehen, dass Gott „den glimmenden Docht nicht auslöschen“[11], das Fünkchen Glaube, das evtl. noch vorhanden ist, nicht gänzlich unterdrücken wird, wie auch in Philipper 1.6, einem meiner Lieblingsverse, tröstend zum Ausdruck gebracht wird: Gott, „der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird´s auch vollführen“[12], d.h. vollenden.

Nach K. Jaspers erfährt der Glaube, wenn er in einen ambivalenten geschichtlichen Prozess eingebettet betrachtet wird, demnach immer auch eine andere Seite der „ständigen Unruhe des Unglaubens und Zweifelns“[13]. Diese „theologische Wahrnehmung“ des Verhältnisses (Un-)Glaube/Zweifel hat „im Bild der Theonomie“ als christlicher Ethik in der Beziehung auf ein offenbartes Unbedingtes „das Wechselverhältnis von Selbstbestimmung und Unterworfensein, von Handeln und Erleiden zur Sprache zu bringen, anstatt sich theologischen Mythen hinzugeben“[14] und so dem Anspruch einer offenen Glaubensfragwürde zu entsprechen, welche im Gegensatz zu einem blinden Idealismus im Einklang mit der übergeordneten „Macht des Glaubens“ (P. Tillich) unideologische Bewertungs- und Gestaltungsoptionen schafft.

Diesen Dualismus zwischen persönlich als richtig empfundenem, traditionell überliefertem Glauben und Anwendung des protestantischen Prinzips als Einschätzungsprozess auszuhalten erscheint immerwährende und schwierige Aufgabe von Theologie zu sein, die als Ausrichtung auf das gottgeoffenbarte Wort der Bibel Gefahren eventueller Ideologisierung nicht verkennen, gleichzeitig aber ihren eindeutigen christologischen Bezugsrahmen nicht verlieren möchte.

Denn das „entscheidende Kriterium für Wahrheit des Glaubens besteht darin, dass er ein Element der Selbstkritik enthält“. Ein Glaubenskonstrukt mit all seinen Facetten und Umsetzungsvarianten, welches, wie es z.B. oftmals in Teilen des pietistischen Bereichs der Fall ist, bar jeder kritischen Hinterfragung völlig unangetastet bleiben soll, verkommt schnell zur Ideologie. Deshalb scheint dasjenige „Glaubenssymbol der Wahrheit am nächsten“ und damit am trag- und sagfähigsten, „das nicht nur das Unbedingte, sondern zugleich seinen eigenen Mangel an <Wahrnehmung von> Unbedingtheit ausdrückt.“[15]

Als Analogführung wird diese Dialektik in einer Wundergeschichte des Markusevangeliums durch die Bitte eines verzweifelten Vaters um Heilung seines Sohnes in zweifelndem Schwanken besonders eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht: Dieser begreift sein unstetes Dasein und schreit daher verzweifelt den paradox anmutenden Satz heraus: „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!“[16], worin sich die Sehnsucht des Menschen nach Unbedingtheit innerhalb der gleichzeitigen Erkenntnis der eigenen unheilbaren Bedingung wiederfindet.

Angesichts der Fragwürde des Lebens äußert sich Glaube, der auch in leidvollen Lebensphasen wirklich hindurchträgt, im Ergriffen-Werden (nach P. Tillich) des Menschen durch Christus und nicht in verabsolutierendem, funktionalisiertem und bedarfsgerechtem eigenen Ergreifen. Das bedeutet gleichzeitig aber auch, wie P. Tillich weiter ausführt, dass, wenn diese Erfahrung Glaube genannt werden soll, „uns klar sein <muss>, dass Glaube nicht eine besondere psychologische Leistung <des Menschen> ist, die ihn vom Unglauben unterscheidet“[17], sondern allein Gottes Entgegenkommen.

Dabei ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass theologische oder philosophische Konzeptionen, welche nur auf Beispielen zur Erzeugung eines „Imaginations-“ und Handlungsvermögens (protestantisch-)kritischer „dezentraler Prozesse“[18] aufbauen und bei der Suche nach unabhängiger unumstößlicher Wahrheit nicht eine unbedingte Spannung aufgrund der Ausrichtung hinsichtlich unbedingter Bezüge bejahen würden, von vielen Menschen als einseitig und nicht tragfähig genug empfunden werden. Daher begeben sie sich oftmals wie G. E. Lessing, welcher von dieser Spannung gleichsam innerlich zerrissen wurde, intensiv auf die Suche nach einer sag- und tragfähigen Wahrheit, die sie vom Crux des ´Cogito ergo sum´ zu erlösen und außerhalb unserer unheilbaren menschlichen Bedingung zu ergreifen vermag. Wie auch schon Luther erkannte, gelingt aber der Sprung über diesen tiefen Graben der Selbsterlösung nicht, so dass einige Menschen am liebsten mit G. E. Lessing den berühmten Satz hinausschreien möchten: 

„Das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüberhelfen, der tu' es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet ein Gotteslohn an mir.“[19]

Dies alles scheint sich in dem einen existenziellen Schrei nach Erlösung auszudrücken, von dem auch schon K. Barth einst schrieb, dass der Mensch „nicht nach Lösungen schreie“, „sondern nach Erlösung“ von Hass, Mobbing, Ignoranz, Lieblosigkeit, Entwürdigung, und der von E. Munch auf brillante Art in einer einzigen Szene eingefangen wurde:


 Edvard Munch, Der Schrei[20]

Menschen, Hintergründe, Landschaften verschwimmen in runden, weichen, zerfließenden, fast aufgelösten Formen und Farben, nur der hölzern-gradlinig konzipierte Steg menschlichen Schubladendenkens und einer starren statischen ´Political Correctness´ - ausgedrückt durch zwei auf der Brücke befindliche dunkle Hutträger im Hintergrund des Gemäldes, die jeglichen weiteren Lebensweg der Hauptfigur verstellen- münden in den einen, im zentralen Bildmittelpunkt gehaltenen Urschrei des verzweifelten menschlichen Ich: ein Urschrei des Beachtet-, Wahrgenommen-, Geschätzt-, ja Geliebtwerdens, der die bei jedem Menschen so existenziell bedeutsame Suche nach sagfähiger, glaubens- und vermittlungsfähiger Wahrheit und einem tragfähigen, d.h. für sich selbst und andere zu rechtfertigenden Glauben initiiert, welcher höher ist als all unsere ach so rationalen Vernunftbestrebungen und die sich mit kühl vorherberechneten, vorherbestimmten und vorhergeplanten einengenden Schubladen hölzern-technisch-konstruierter gnadenloser Gradlinigkeit menschlichen Ordnungswahns und ihren Umzäunungen und Zwängen nicht zufrieden gibt; auch nicht mit einem festgefügten Status gruppendynamisch orientierter  Zugehörigkeitsbestrebungen, bei denen Menschen auf ein fest vorherbestimmtes „System schwören müssen“[21] und die ihnen entgegen gebrachte Wertschätzung und das Gehör, das sie bei anderen finden, davon abhängig gemacht wird, welche Stellung ihnen zu eigen ist, welcher Gruppe sie angehören oder wie perfekt sie sich äußerlich zu präsentieren wissen. Doch was für einer Wahrheit sollen sie denn „nachjagen“[22], wie es in Psalm 34.15 so simpel heißt? Welches Glaubenskonzept erweist sich als wirklich „nachhaltig“[23] tragfähig, ohne, wie die Brücke im Bild von E. Munch, in ihrer gnadenlosen Gradlinigkeit kreatives, buntes, farbenfrohes, gottgegebenes, individuelles, formschönes Leben eisern zu durchschneiden? 

Bei I. Kant ist sagfähiger Glaube in der Autonomie des freihandelnden Wesens so sehr mit, ja man könnte sagen in seiner moralischen Gesinnung verankert, dass dieser große Philosoph fest davon überzeugt war, „ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben“ zu können und sich unumstößlich sicher zu sein „dass diesen Glauben nichts wankend machen könne“, weil er ihn in einen Zusammenhang mit seiner Lebenswelt und zugleich öffentlichen „sittlichen Grundsätzen“ stellt, die, wenn er nicht glaubte, „umgestürzt würden“ und er dadurch „in seinen eigenen Augen verabscheuungswürdig“[24] wäre.

Und da I. Kant an dieser Stelle ausdrücklich darauf verweist, dass diese seine Überzeugung „nicht auf logischer, sondern moralischer Gewissheit“ der „moralischen Gesinnung beruht“, ist er sich dieser Glaubensüberzeugung sicher und betont: „Der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, dass, so wenig ich Gefahr laufe, die letztere einzubüßen, ebensowenig besorge ich, dass mir der erste <Glaube> jemals entrissen werden könne.“[25]

D.h. wir finden hier eine Weltkonzeption vor, welche die Legitimation persönlichen subjektiven Glaubens mit allgemeiner moralischer Grundhaltung verknüpft und durch eine Objektivierung auf solche Weise mit moralisch-kategorischen Prinzipien verwoben scheint, dass aus dem allgemeinen Fürwahrhalten moralischer Grundprinzipien eine Rechtfertigung persönlichen Glaubens entsteht, ein für mich wahrhaft beeindruckendes, aber auch gewagtes Konzept.

D. Sölle hingegen verweist in diesem Zusammenhang gleichsam als Verlagerung des sagfähigen hin zu einem praktischen tragfähigen Glaubenskonzept auf ein elementar wichtiges Bruch-Stück theologisch gesinnter Tragfähigkeit eines Glaubens als menschlicher Spiegelung des göttlich Unbedingten: Wahr-nehmung und Ansehen des Menschen als Brief und Übersetzung des von der Liebe Gottes erfüllten, sich barmherzig dem Nächsten zuwendenden fürsorglich Handelnden erhalten hier eine völlig neue Bedeutung gegenüber manchmal kalt wirkenden und nicht genügend zur praktischen Anwendung gelangenden theoretisch-ethischen Grundsätzen:

Theologische und auch philosophische Wahrheiten werden ihrer theoretischen Brillanz und ihrem Wahrheitsanspruch demnach viel umfassender gerecht, wenn sie im Leben des Menschen durch eine „Übersetzung“  als „Konkretion“ praktische Gestalt gewinnen: Denn erst „die Konkretion, die unser eigenes Leben darstellt, die Übersetzung der Liebe Gottes, die wir sind“ als „Brief Christi, der wir selber sind“, erzeugt „weltverändernde Praxis“ als für andere trag- und dadurch natürlich auch sagfähiger, d.h. nach außen hin überzeugend gelebter Glaube. „Es gibt“ daher „keinen anderen Brief Christi, der den Brief Christi“, der unser eigenes Leben in Barmherzigkeit und Versöhnung darstellt, „ersetzen könnte.“[26] 

„Der Brief Christi, der wir selber sind, wird daher weiter geschrieben (2. Kor. 3.3) und weiter empfangen und gelesen.“[27], so wie beim Gemälde von E. Munch, der unablässig an diesem Bild malte und insgesamt vier Versionen davon hinterließ. Der Schrei als Dringlichkeit der Suche nach Unbedingtem ist dabei in der Furcht begründet, das Leben könnte so sehr mit Bedingtheiten ausgefüllt sein, dass Unbedingtes keine Beachtung und damit bedeutungslos für den Menschen erscheinen könnte. Insofern spielen das eigene Theologieverständnis, die religiöse Ausrichtung und eine Bejahung damit verbundener notwendiger Umsetzungsschwierigkeiten als lebenslange Lernaufgabe eine tiefgreifende Rolle, weil ein trag- und sagfähiger Glaube in seinem tiefsten Grunde den Schrei nach Halt gewährender Orientierung beinhaltet, „die den Charakter einer unbedingten Entscheidung hat, so sehr sie auch bedingt sein mag.“[28] -

Gerade deshalb stellt sich innerhalb jeglicher menschlicher unheilbarer Bedingung auch die eingangs erwähnte Frage, wie als Ideologievermeidung abgeirrter Glaubensfrömmigkeit die Spannung zwischen der berechtigten Forderung nach Dezentralisierung mit einer Ausrichtung auf Unbedingtes als all(gem)eingültiger Wahrheitsanspruch zu kombinieren sein sollte. Biblische Beispiele bieten nämlich anhand der „Exodus- und Schöpfungstradition“ nicht nur „die Besonderheit jüdisch-christlicher Analogführung“ als Orientierungsmöglichkeiten auf „nicht-idealistische, autopoietische oder subjektselbstreferenzielle Weise“[29]; nein, sie gehen teilweise in ihrem unbedingten Anspruch so weit, als Wahrheit sozusagen nicht mehr in den Plural gesetzt werden zu können, wie im Evangelium nach Johannes verdeutlicht wird: Christus spricht: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“.[30]  Man beachte, dass Christus an dieser Stelle nicht davon redet, einen möglichen Weg einer beliebigen Wahrheit eines allgemein definierten Lebensprinzips unter vielen zu kennen, sondern der einzig mögliche Weg, die Wahrheit und das Leben selbst zu sein und damit in revolutionärer Weise alle anderen Konzepte ausschließt.

Damit muten viele Bibelstellen oftmals zu, jene Spannung unbedingter Eindeutigkeit innerhalb der Bedingung zu ertragen, was so manches zusammengebastelte religionspädagogische Konzept erst aushalten lernen muss. Trotzdem versteht gemäß des protestantischen Prinzips „jede Art von objektivistischer Wahrheitssetzung“ „Wahrheit ideologisch“[31]. Daher ist es wichtig, noch einmal zu verdeutlichen, dass man sich gleichsam vor einen tiefen Graben, den G. E. Lessing nicht überwinden zu können glaubte, zwischen dem Anspruch unbedingt zutreffender Glaubenswahrheiten gestellt sieht, welche die formale Konzeption einer unbedingten Entscheidung ein- und erfordern und gleichzeitig dem Wunsche Rechnung tragen möchten, nicht Opfer totalitärer und ideologischer Trugschlüsse falscher Glaubensverwirklichung werden zu wollen.

Dennoch kann aber laut P. Tillich „das Wagnis des Scheiterns, des Irrtums und der Vergötzung“ „getragen werden, weil auch das Scheitern uns nicht von dem trennen kann, was uns unbedingt angeht“[32], nämlich Christus, wie auch im Johannesevangelium bekräftigt wird: „und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“[33] So konkretisiert sich die vom Unbedingten ins Bedingte hinein vermittelte Glaubenserfahrung; und zwar als Standpunkt, der „sich selbst, den Zweifel an sich selbst“ und damit auch die Gefahr einer Ideologisierung durch unheilbare menschliche Bedingung „umschließt“.

„Solch ein Glaube braucht das freie Suchen nach letzter Wirklichkeit“, an der G. E. Lessing scheiterte, „nicht zu fürchten“ [34] und kann auch in widrigen Verhältnissen mit geradem Rücken und ohne sich beruflich und sprachlich verbiegen zu müssen, - wie S. Schütze es so treffend ausgedrückt hat: sicher nicht „als glatte Lösung aller offenen Probleme“ und auch nicht „als neues einheitliches theologisches System“ oder gar mit dem menschlichen Anspruch einer „zeitlos gültigen neuen Gesamtperspektive“ aufwarten, aber doch vielleicht als Bruch-Stück, „Vision“ oder „offener Grundriss“ eines „lebendigen und zukunftsfähigen kritischen Glaubens“ „konturiert“, d.h. skizziert „und ausgerichtet sein“[35].

Literatur

Beuscher, Bernd: Leistungskurs Religion. Vorlesungen zur Kunst der Religionspädagogik. Norderstedt 2000.

derselbe: Remedia, Norderstedt 1999.

Bolz, Norbert: Theorie der neuen Medien, München 1990.

Eisler, Rudolf: Kantlexikon, 4.unveränd. Nachdr., Hildesheim 1994.

Grill, Gerd (Hrsg.): Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Bd. 18, Mannheim 1992.

Lessing, Gotthold Ephraim, K. Lachmann (Hrsg.): sämtliche Schriften, Bd. 9 u. 10, Berlin 1839.

Lutherbibel, Köln 1912.

Schischkoff, Georgi (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1991.

Schütze, Stefan: „Gott“, „Welt“ und „Mensch“ im 21. Jahrhundert - Paradigmen theologischen Denkens: Auf der Suche nach einem für mich heute trag- und sagfähigen Glauben, Titel, Norderstedt 2012.

Sölle, Dorothee: Politische Theologie, Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, Stuttgart 1971.

Tillich, Paul: Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, GW, Bd. V. Stuttgart 1964.

derselbe: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, gesammelte Werke, Bd. VIII,  Stuttgart 1970.

derselbe: Philosophie und Schicksal, gesammelte Werke, Bd. IV, Stuttgart 1961.

Anmerkungen


[1] S. Schütze, „Gott“, „Welt“ und „Mensch“ im 21. Jahrhundert - Paradigmen theologischen Denkens: Auf der Suche nach einem für mich heute trag- und sagfähigen Glauben, Titel, Norderstedt 2012.

[2] G. E. Lessing, K. Lachmann (Hrsg.), sämtliche Schriften, Bd. 9, Berlin 1839, 38.

[3] S. Schütze, „Gott“, „Welt“ und „Mensch“ im 21. Jahrhundert - Paradigmen theologischen Denkens: Auf der Suche nach einem für mich heute trag- und sagfähigen Glauben, Titel, a.a.O.

[4] P. Tillich, Philosophie und Schicksal, gesammelte Werke, Bd. IV, Stuttgart 1961, 88 ff.

[5] S. Schütze, „Gott“, „Welt“ und „Mensch“ im 21. Jahrhundert - Paradigmen theologischen Denkens: Auf der Suche nach einem für mich heute trag- und sagfähigen Glauben, Titel, a.a.O.

[6] vgl. Lutherbibel, Köln 1912, Philipper 2.13, A.d.V.

[7] N. Bolz, Theorie der neuen Medien, München 1990, 34.

[8] P. Tillich, Philosophie und Schicksal, a.a.O., 90.

[9] ders., Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, gesammelte Werke, Bd. VIII,  Stuttgart 1970, 139.

[10] G. Grill, Meyers großes Taschenlexikon, Bd. 8, Mannheim 1992, 211. 

[11] Lutherbibel, a.a.O., Jesaja 42.3b.

[12] ebd., a.a.O., Philipper 1.6.

[13] K. Jaspers, aus: G. Schischkoff, Philosophisches Wörterbuch, a.a.O., 252.

[14] B. Beuscher, Remedia, Norderstedt 1999, 119.

[15] P. Tillich, Offenbarung und Glaube, a.a.O., 176f.

[16] Lutherbibel, a.a.O., Markus 9.24.

[17] ebd., 102.

[18] vgl. B. Beuscher, Remedia, a.a.O., 237.

[19] G. E. Lessing, K. Lachmann (Hrsg.), Bd. 9, a.a.O., 38.

[20] E. Munch, Der Schrei, Bildzitat, Foto des Originalgemäldes von 1910 des Munch Museums Oslo, aus: www.google.com/culturalinstitute, Internet 6.7.13.

[21] vgl. „Ich habe auf kein gewisses System schwören müssen. Mich verbindet nichts, eine andre Sprache, als die meinige zu reden. Ich bedaure alle ehrlichen Männer, die nicht so glücklich sind, dies von sich sagen zu können.“, aus: G. E. Lessing, K. Lachmann (Hrsg.), sämtliche Schriften, Bd. 10, a.a.O., 136.

[22] vgl. Lutherbibel a.a.O., „Lass vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach.“, Psalm 34.15.

[23] i.S.V. „sich für länger stark auswirkend“, Duden online, www.duden.de, A.d.V.

[24] R. Eisler, Kantlexikon, 4. unveränd. Nachdr., Hildesheim 1994, 207.

[25] ders., a.a.O.

[26] D. Sölle, Politische Theologie, Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, Stuttgart 1971, 134., vgl. auch Lutherbibel, a.a.O., „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“, Galater 6.2, A.d.V.

[27] D. Sölle, Politische Theologie, Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann, a.a.O., 134.

[28] P. Tillich in B. Beuscher, Leistungskurs Religion, Vorlesungen zur Kunst der Religionspädagogik. Norderstedt 2000, 312.

[29] ebd.

[30] Lutherbibel, a.a.O., Johannes 14.6.

[31] B. Beuscher, Leistungskurs Religion, a.a.O., 312.

[32] P. Tillich, Offenbarung und Glaube, a.a.O., 181

[33] Lutherbibel, a.a.O., Johannes 10.28b.

[34] P. Tillich, Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie, gesammelte Werke, Bd. V. Stuttgart 1964, 171.

[35] S. Schütze, „Gott“, „Welt“ und „Mensch“ im 21. Jahrhundert - Paradigmen theologischen Denkens: Auf der Suche nach einem für mich heute trag- und sagfähigen Glauben, a.a.O., 189, vgl. in diesem Zusammenhang die Bedeutung ´konturieren´ als „in Umrissen gezeichnet“ und „begrifflich schärfer gefasst“, Duden online, www.duden.de, A.d.V.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/84/magi5.htm
© Matthias Giesel, 2013