Paradigmen theologischen Denkens II


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Paradigmen theologischen Denkens - Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben

Teil IV: Weitere Verhältnisbestimmungen und Grenzziehungen

Stefan Schütze

2. Komplextheologisches Denken und Dorothee Sölles mystische Schriften

Lektürebasis:

Sölle, Dorothee: Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen, Stuttgart 31976

Sölle, Dorothee: Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, München 1999

(1) Im Rahmen meiner Ausarbeitung zu den Möglichkeiten von „Spiritualität, Ritual und Gottesdienst in einer nachtheistischen Religiosität“ in „Gefeiertes Geheimnis“ bin ich verschiedentlich erneut auf den theologischen Nachlass Dorothee Sölles gestoßen, zunächst auf ihre Impulse zum Gebet als „politisch-theologischer Selbstformulierung“ im Rahmen des sog. „Politischen Nachtgebets“[1], und dann im Rahmen meiner Beschäftigung mit den spirituellen Impulsen einer spezifisch „weiblichen“ Mystik, die Ingrid Riedel in ihrer „Mystik des Herzens“ zusammengestellt und ausgewertet hat.[2] Riedels Interpretation von Sölles mystischem Denken hat mich bewogen, die beiden vor ihrem postum veröffentlichten Fragment „Mystik des Todes“[3] veröffentlichten explizit mystischen Hauptwerke Sölles, „Die Hinreise“ in der 3. Auflage von 1976 und „Mystik und Widerstand“ von 1999 nochmals gründlich zu lesen.

„Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, … oder er wird nicht mehr sein“ hat Karl Rahner gesagt.[4] Entsprechend war Dorothee Sölle der Überzeugung, dass christliche Religion in unserer nachaufgeklärten Moderne ihr mystisches „Herz“ wiederfinden muss, wenn sie ihrer Infragestellung durch die Religionskritik zum Trotz Menschen einen Weg in die befreiende Erfahrung der Ganzheit und des Heilseins öffnen soll, auf die das Wort „Gott“ in den unterschiedlichen Religionen zielt. In Anknüpfung an das Erbe Rahners formuliert Johann Baptist Metz: „Zu lernen wäre hier, dass diese Mystik nicht eigentlich eine elitäre Angelegenheit spirituell bevorzugter Einzelner ist, sondern gewissermaßen eine populäre Angelegenheit aller Frommen.“[5]

Entsprechend hat Dorothee Sölle in „Mystik und Widerstand“ von einer „Demokratisierung der Mystik“ gesprochen, um die sie sich bemüht, weg von einer Deutung mystischer Frömmigkeitswege als „spiritueller Artistik“, hin zu ihrer Deutung als tägliches geistliches „Brot des Lebens“ in unserer ganz normalen, auch in der einfachsten Frömmigkeit.[6] Solche „demokratisierte Mystik“ ist für Sölle ein „Prozess“, in dem uns unser „eigene(s) Leben … immer verwunderlicher“ wird, so, als ob uns „andere Ohren, ein drittes Auge, Flügel der Morgenröte“ wüchsen[7], Ausdruck eines heimatlichen Lichts, das uns „‚allen in die Kindheit scheint‘“ (Ernst Bloch). Sölle selbst formuliert: „Ich will an die vergrabene Mystik der Kindheit erinnern. In ihr gibt es für sehr viele von uns, fast möchte ich sagen: für alle und jeden, Augenblicke des intensiven Erlebens, die uns mit einer merkwürdigen, unumstößlich scheinenden Gewissheit ergreifen.“[8]

Mystik ist für Sölle „Sehnsucht nach Gott“[9], aber der Gott der Mystik ist nicht nur die Gottheit einer einzigen Religion. „Mystik taucht in den verschiedensten Religionen – aber auch außerhalb – als Erfahrung und gemeinsame Bewegung auf. In einem Bild gesprochen, stelle ich mir die Weltreligionen in einem Kreis vor, der sein Zentrum im Geheimnis der Welt, in der Gottheit hat.“[10] Die Sprache der Mystik ist eine „Sprache ohne Herrschaft“[11], deren drei grundlegende „Sprachelemente“ die „Formen … der Negation“ (via negativa, „Wolke des Nichtwissens“), des „Paradox(es)“ (coincidentia oppositorum) und des kontemplativen „Schweigen(s)“ („stilles Geschrei“) sind.[12] Die Mystik ist eine „Reise“ ins Herz der Wirklichkeit und von ihm aus wieder zurück an ihre Ränder, zu ihren leidenden und marginalisierten Geschöpfen.

(2) Dieses Bild der „mystischen Reise“ hat Sölle bereits in ihrem früheren Buch „Die Hinreise“ näher entfaltet und ausgeführt. In ihm deutet sie die Mystik als die „Hinreise“, die im „Sterben des alten „Menschen“ in der mystischen „Versenkung“ besteht, und den politischen Gottesdienst (das, was sie später „Widerstand“ nennt) als „Rückreise“, in Gestalt der „Auferstehung“ eines neuen, von den Fesseln seiner egoistischen Selbstverkrümmung befreiten Menschen.

Diesen Gedanken der mystischen Hin- und Rückreise entwickelt Sölle hier paradigmatisch an der Geschichte der Gottesbegegnung des Propheten Elia am Berg Horeb. Elias Gotteserfahrung im Säuseln der „Stimme verschwebenden Schweigens“ (Buber), die den vorausgegangenen langen Hinweg Elias zum Berg Horeb voraussetzt, ist eine „Gegenerfahrung gegen Macht und Herrschaft“, die auch das traditionelle theistische Gottesbild verändert: „Gott ist in dieser Geschichte nicht ein Objekt unserer Erkenntnis, ja die Frage nach der Realität dieses Objektes ist selbst ein Ablenkungsmanöver, das von unserer Wirklichkeit, der inneren wie der äußeren fortführt. Wenn es Gott ‚gäbe‘ wie andere Gegenstände unserer Erkenntnis, so wäre die Hinreise überflüssig, das Sich-Entäußern, Sich-selber-verlassen, diese Art von Tod könnte man sich dann sparen.“[13] Der Gott der Eliageschichte ist kein „Ordnungselement“ oder „Garantiesymbol“ einer kapitalistischen „civil religion“; dieser verfügbare „Gott, den es gibt“ ist vielmehr „eine(r) falsche(n) Projektion“, von der sich mystische Gotteserfahrung befreien muss.[14]

„Nicht, dass wir projizieren, ist zu kritisieren, wenn erst verstanden ist, dass Religion eine wesentliche Form menschlicher Kreativität darstellt; aber was wir inhaltlich als Ziel, Wert, letzte Größe entwerfen und ansehen, ist entscheidend.“[15] Mit Erich Fromm unterscheidet Sölle die „autoritäre Religion“ theologischer Allmachtsphantasien von der mystischen Religion der „Empfindung des Einsseins mit dem All“, die das Göttliche „als Liebe und Gerechtigkeit“ imaginiert.[16] Die Geschichte von Elia am Horeb gehört für Sölle zu dieser zweiten Form von Religion: „Elia ‚hört‘ das leise Säuseln, verhüllt sich und tritt aus der Höhle, in der er über Nacht war. Es ist vielleicht eine Überinterpretation, wenn man das Heraustreten aus der Höhle als eine Art Geboren-Werden versteht, in dem der Weg vom Ego zum Selbst sich vollendet“[17]; auf jeden Fall hat aber die Gotteserfahrung des Elia sein Gottesbild und ihn selbst verändert. Er hat die Hinreise vollendet und „die tiefste Vergewisserung“ der Religion erfahren, von Gott getragen und „ein Teil des Ganzen“ zu sein[18]. Nun kann er die Rückreise antreten.

Was Elia auf dem Weg zum Horeb gelernt hat, ist das, was Meister Eckhart „Gelâzenheit“ nennt, das Lassen seines Selbst, das zugleich ein Lassen seines bisherigen Gottes ist. Mystische Gelassenheit ist, so Sölle, nicht stoische Gleichgültigkeit[19], sondern das radikale Lassen jeder egoistischen Sicherung meines Lebens, auch durch dogmatische Gottesbilder, und das „Absterben“ des eigenen Ich. Das Ziel dieses mystischen Lassenlernens ist „die Geburt Gottes in der Seele“ [20]; damit aber die wahre Gottheit in mir geboren werden kann, muss ich zuvor auch „den überkommenen, offenbarten, Heil versprechenden Gott“ lassen[21].

Ein immer wiederkehrendes mystisches Bild für solches existentielles und religiöses Lassenlernen ist die Erfrischung der „Dürre der Seele“ durch das Lebenswasser, die „Versenkung“ der Seele und ihr „Schwimmenlernen“ im Wasser im Wasser der Liebe[22], das zugleich ein Sterben und Wiederauferstehen ist, ein mystischer Regress, der aber letztlich immer auf den Progress, auf die „Rückreise“ zielt. In solcher mystischer Versenkung „nehmen wir ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit auf, eine ganzheitliche Beziehung“, in der wir unsere herkömmliche Weltinterpretation „entmächtigen“. Das ist keine religiöse Wellness, sondern spirituelle Arbeit: „Der Weg nach innen ist kein Spaziergang, bei dem man sich an den eigenen Gefühlen berauscht. Es ist eine Form der Selbsterfahrung, die unsere physischen und geistigen Normalzustände aufbricht, so dass Erfahrung, ‚die man früher Seele nannte‘ (Luing) wieder möglich wird.“[23]

Am Ende von „Die Hinreise“ nimmt Sölle besonders die Bedeutung der Verbindung von „Hinreise“ und „Rückreise“ für eine ganzheitliche und befreiende religiöse Praxis in den Blick: Mystik bedeutet “die Hinreise zur Entäußerung und Hingabe des Ich und die Rückreise mitten in diese Welt“, sie „bedeutet sterben lernen und wieder auferstehen.“ Aber was „bedeutet“ dann besonders „die Rückreise?“ Auch das lässt sich in der Interpretation der Geschichte von Elia am Horeb zeigen: „Elia hat die Stadien der Hinreise erfahren bis zum Ego-Verlust und dem Finden des neuen Selbst, bis zum Eintauchen in den Grund aller Dinge und der Erfahrung Gottes im ‚leisen Säuseln‘. Aber was geschieht nun? Elia versinkt nicht in Anbetung, … er erneuert nicht die für die Religionen so wichtige Einteilung in Heiliges und Profanes. Was stattdessen geschieht, ist für die gesamte jüdisch-christliche Tradition bezeichnend: die Erneuerung seines politischen Auftrags“, der Ruf zur „Rückreise“.[24]

Immer wieder setzt die Bibel den „stärkeren Akzent“ auf die „Rückreise“, z.B. auch in der „Himmelfahrtslegende“. Die Jünger sollen nach der Schau von Jesu Entrückung „(n)icht zum Himmel …. starren, sondern nach Jerusalem gehen und die Rückreise antreten“. Darin drückt sich tatsächlich eine „religionskritische Tendenz der Bibel“ aus, aber nicht eine Kritik der Religion an sich zugunsten einer „positivistisch verstandenen Welt“, sondern die Kritik einer Religion, die über die „Hinreise“ die „Rückreise“ vergisst. Die Religionskritik unserer nachaufgeklärten Gegenwart führt dagegen zum Verlust der Dimension der „Hinreise“ an sich und verschleiert damit unsere eigene moderne „Unfähigkeit“, die „Hinreise“ überhaupt noch anzutreten.[25] Die bourgeoise Religion der Neuzeit meint, sich den „Umweg“ über die „Hinreise“ ganz ersparen, „und sich mit der karitativ vernünftigen Rückreise … begnügen“ zu können, „ohne zu bemerken, welche Verstümmelung des Menschen damit erreicht wird“.[26]

Dagegen ist, so Sölle, „(d)er Wunsch, ganz zu sein und nicht zerstückelt zu leben … als ein ursprüngliches Bedürfnis der Menschen anzusehen“. „Der individuelle Wunsch, selber ein Ganzes zu sein, verbindet sich mit dem Wunsch, das Ganze zu erfahren, … das Tao zu erkennen“, Gott „‘alles in allem‘“ (1 Kor 15, 28) sein zu lassen.[27] Nur, wenn wir die religiöse Kraft zur „Hinreise“ wieder lernen, sie „als einen Teil unserer Befreiung erfahren“, werden wir auch die Kraft zu einer echten „Rückreise“ wieder finden. Bis dahin werden wir „den drei Affen gleichen“, die verlernt haben, zu sehen, zu hören und zu reden[28]. Was wir deshalb brauchen, sind für Sölle Gottesdienste und religiöse Erfahrungsorte, die uns das religiöse Sehen, Hören und Sprechen wieder erschließen, das mit der mystischen „Hinreise“ beginnt und auf die politische „Rückreise“ zielt.

(3) Das Lesen von Sölles mystischen Texten hat mich sehr bewegt. Und das obwohl, oder gerade weil für meine Denkbewegung in „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ im 21. Jahrhundert“ und „Gefeiertes Geheimnis“ die Kritische Religionsphilosophie von Immanuel Kant vielfach leitend geworden ist. Auch Kants Denken hat ja entgegen vieler gängiger Kantinterpretationen, die in Kant lediglich einen „verstaubten“ und recht gefühlsarmen reinen Rationalisten sehen, ein mystisches Herz und eine spirituelle Tiefe, die (wie ich schon in „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘“ zu zeigen versucht habe) eine ihrer schönsten Ausdrucksformen in Kants außergewöhnlich poetischer Aussage im „Beschluss“ seiner „Kritik der Praktischen Vernunft gefunden hat: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."[29]

Die Bedeutung von Mystik und religiöser Erfahrung für die philosophische Religion Immanuel Kants hat Stephen R. Palmquist in seinem Essay „Philosophers in the Public Square“ so weiter herausgearbeitet: Kants Philosophie hat in allen seinen kritischen Schriften eine zutiefst religiöse und theologische Basis. In der Kritik der reinen Vernunft führt Kant die auf das Ganze möglicher Erkenntnis zielenden transzendentalen Vernunftideen ein, deren „three archetypical examples“ die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind[30]. In der Kritik der praktischen Vernunft zeigt er, wie jedes ethische Handeln eine Weltinterpretation nach diesen Vernunftideen zur Voraussetzung hat. In der Kritik der Urteilskraft versucht Kant dann zu zeigen, dass und wie die herkömmlichen Gegensätze von theoretischer und praktischer Vernunft, von Natur und Freiheit „are synthesized by various forms of existential judgement“, in unseren „judgments of beauty, sublimity, and natural purposiveness“[31], die zum Ausdruck bringen, „that nature and freedom are in fact united in a greater whole in the context of real experiences“.[32] Und diese religiös „affirmative“ Kant’sche Denklinie setzt sich auch in seiner Religionsschrift, im „Streit der Fakultäten“, und in den Fragmenten seines „Opus postumum“ fort. Kant entwickelt in immer neuen Anläufen seine „new and profoundly reforming theological hermeneutic“, nach der „all doctrines and rituals must be interpreted as moral symbols, either directly or indirectly, in order to be meaningful“. Wer einmal diese „richness of Kant’s accomplishment“ für religiöses Denken erkannt hat, dem muss die traditionelle antireligiöse Kantinterpretation „almost unbelievably ludicrous“ erscheinen. Kant reduziert die Religion keineswegs „to nothing but morality“, sondern besteht im Gegenteil darauf, dass unsere Moralität „must be raised to the level of religion in order to become a feasible human endeavor at all.“[33]

Auf diesem Hintergrund muss dann, so Palmquist, auch die selbst bei religiös affirmativen Kantinterpreten verbreitete Behauptung revidiert werden, dass Kants Philosophie „no room whatsoever for religious experience“ lasse.[34] Schon in seiner Behandlung der mystischen Erfahrung von Swedenborg in seinen „Träumen eines Geistersehers“ weise Kant nicht Swedenborgs Behauptungen mystischer Erfahrung als solche zurück, sondern betone gemäß der Grundlagen seiner späteren kritischen Philosophie lediglich, dass man aus solchen Erfahrungen kein theoretisches Wissen gewinnen kann: „Kant argues that something real and even significant may have been happening to Swedenborg, but that his attempt to draw knowledge from those experiences was illegitimate.“ Mystische Erfahrung kann für Kant also zwar keine theoretische, aber eine umso größere praktische Bedeutung haben. Kant selbst kannte Erfahrungen, die man durchaus als mystisch bezeichnen kann, insbesondere die Erfahrung des Erhabenen in der Natur und in der menschlichen Sittlichkeit. Damit sind aber keine ekstatischen religiösen Auditionen oder Visionen gemeint, sondern gesagt: Kants gesamte kritische Philosophie „leads to a existential heart that can best be called ‚Critical mysticism‘“.[35]

Natürlich bleibt Kants Mystik des „Erhabenen“ trotz ihrer gelegentlichen poetischen Ausdrucksformen in vielerlei Hinsicht die Mystik einer intellektuellen Religion, die nicht in der Frömmigkeitspraxis einer bestimmen Kirche oder Glaubenstradition beheimatet ist. Hier geht Sölle mit ihrer intensiven Anknüpfung an den großen Traditionen der mittelalterlichen christlichen Mystikerinnen und Mystiker einen anderen Weg. Dennoch betont auch Sölle ihre kritische Distanz zur „institutionellen“ Frömmigkeit der etablierten christlichen Kirchen, die für sie selbst genauso wie eine rein akademische, nachaufgeklärte Theologie problematisch bleibt. „Mich persönlich hat weder die Kirche, die ich eher als Stiefmutter erlebte, noch das geistige Abenteuer einer nachaufklärerischen Theologie zu dem lebenslangen Wunsch, Gott zu denken, verlockt.“ Sie fühlt sich weder in der „Institution(en) Kirche“ noch in der Institution „wissenschaftliche Theologie“ tatsächlich beruflich und religiös „beheimatet“[36] und steht religiös in gewissem Sinne „dazwischen“.

Ein solches „Dazwischenstehen“ kennzeichnet nach Palmquist auch einen „Kantian theologian“; er stellt in „Philosophers in the Public Square“ diesbezüglich die Frage, ob ein menschliche Religion im Kant’schen Sinne interpretierender philosophisch Glaubender tatsächlich auch (anders als Kant selbst) eine „active, positive role“ in einer „historischen“ Kirche wahrnehmen kann, obwohl in ihr der Gottesdienst noch mit der Verpflichtung zur Anerkennung von Dogmen und Ritualen verbunden ist, die mit seiner ethischen Vernunftreligion nicht vereinbar sind. Palmquist sieht für einen solchen philosophisch Glaubenden nach Kant hier prinzipiell zwei Möglichkeiten: Entweder er sucht sich eine Glaubensgemeinschaft, die sich Kants Ideal von Kirche schon „as closely as possible“ angenähert hat, wie etwa die der Quäker, die darin schon „suprisingly close to Kant’s ideal“ sind, dass sie keinen „belief … in any historical or doctrinal claims“ fordern, sondern durch ihre Religion ausschließlich „the moral lifes of their members“ vertiefen wollen: „Quakers merely sit in silent worship, allowing the spiritual influence of their corporate gathering to empower them to live better.“[37]

Oder er versucht durch die Ausübung einer „professional role“ in einer der traditionelleren Kirchen „to exercise a positive, enlightening influence on ordinary churchgoers“. Er ist bereit, den Konflikt auszuhalten, der sich aus den unterschiedlichen Standpunkten „of both the philosophical (Kantian) theologian and the biblical (denominational) theologian“ ergibt. „Since Kant believed such conflict is healthy, it should not prevent a Kantian from being a good pastor.“[38] Er wird seinen pastoralen Dienst einer Weise ausüben, die die moralische Verantwortung des Einzelnen betont, in ihr oder ihm „a basic trust in divine assistance“ bestärkt, aber nicht in einer uns von der Verpflichtung zu eigenem ethischen Handeln entbindenden Weise, sondern in einer Weise, die an der „supreme importance of love“ orientiert ist, und darum die „beliefs and rituals“ der seiner Tradition „only as tools“ für die Orientierung menschlichen Handelns auf diese Liebe gebraucht, “never allowing them to be treated as ends in themselves“[39]

Gerade die „‘real‘ religion“ in unseren heute schon bestehenden „historischen“ Kirchen und Gemeinschaften braucht, so Palmquist, dringend „philosophy’s creative influence on religion“, wenn sie im Sinne von Kants „pure moral religion“ transformiert werden und sich dem wahren Wesen von Religion annähern soll[40], und darum braucht es nach Palmquist solche zwischen religiöser Aufklärung und traditioneller Religion stehenden „philosophischen Theologen“ gerade in den vielen noch traditionelleren Kirchen unserer Gegenwart.

Die Frage ist natürlich interessant, ob ich mich selbst in Palmquists Sinne als einen solchen Hybrid zwischen einem "philosophical (Kantian) theologian" und einem "biblical (denominational) theologian“ verstehen will oder muss, der in Ausübung seiner „professional role“ in einer der traditionelleren Kirchen versucht, „to exercise a positive, enlightening influence on ordinary churchgoers“.[41] Dass und warum ich mich nicht im Sinne der ersten Palmquist’schen Alternative einer „nichtkonfessionellen“ Kirche „without creeds“ wie den Quäkern oder den Unitarischen Universalisten anschließen könnte, habe ich in „Gefeiertes Geheimnis“ bereits begründet:

„Die unitarisch-universalistische Bewegung ist für mich in vieler Hinsicht beeindruckend, wenn auch vielleicht manchmal etwas zu ‚schillernd‘ … . Für mich wäre es kein Lösungsweg, selbst den Raum des konfessioneller bestimmten Christentums völlig zu verlassen, und einfach „konfessionslos“ zu werden. Aber ich möchte das, was ‚Konfession‘ und ‚Bekenntnis‘ auch nach dem Ende der dogmatistischen und absolutistischen Definitionen von Religion und Glauben, die für mich heute einfach nicht mehr ‚sag- und tragfähig‘ sind, immer noch positiv bedeuten könnte, neu, in pluralistisch offener und religiös nicht auf bestimmte Sprach- und Denkformen der Vergangenheit festgelegter Weise, als … zum Fragen, Verändern und Erproben anregende Glaubensimpulse definieren“[42], die über den Gegensatz von entweder aufgeklärter oder traditioneller Religiosität im Sinne eines „anatheistischen“ tertium datur hinausführt.

Doch auch mit der zweiten Palmquist’schen Alternative eines „philosophischen Theologen“ in einer konfessionellen Kirche kann ich mich nicht wirklich, oder nur mit größeren Qualifikationen, identifizieren. Warum das so ist, zeigt vielleicht besonders die Form religiöser Beheimatung und Verwurzelung, die die Lektüre von Dorothee Sölles mystischen Schriften in mir zum Klingen bringt. Ich habe das Gefühl, dass Sölle doch noch eine andere Ebene bei mir anspricht, die auch Kant nicht (oder nicht in gleichem Maße) ansprechen kann. Insofern bin ich wohl doch mehr als ein Kant'scher "Philosophischer Theologe" oder Hybrid. Auch Kaufman, Taylor oder Theißen sind ja einerseits stark kritisch auf Kant bezogen, aber doch nicht einfach nur theologische Kantianer. Ich selbst will religiös und theologisch vielfach an Kant und den Idealen der Aufklärung (jedenfalls in ihrer „minimalistischen“ Interpretation nach Samuel Fleischacker[43]) anknüpfen, aber doch auch deutlich über Kant selbst hinausgehen, indem ich sehr viel stärker als Kant auf die positiven Quellen der historischen Religionen, besonders auf die Schätze und Reichtümer der jüdischen und christlichen Bibel beziehe.

Wie Wilhelm Gräb es formuliert hat: „Wer mit der Bibel lebt, dem fallen ihre dichten Worte, ihre starken Bilder, ihre großen Erzählungen ein, wenn sonst schwer nur oder gar nicht gesagt werden könnte, was beglückt, was bedrückt und belastet. Wer mit der Bibel lebt, der lebt auch mit dem Gott, von dem sie redet. Und die Bibel redet so von Gott, dass dabei das Ganze des Lebens zur Anschauung kommt, in seinem ersten Anfang und in seinem letzten Ende, in all seinen Widersprüchen, im Wunder der Liebe und in der Grausamkeit des Hasses, auf den Höhen des Glücks und in den Tiefen der Not. Die Bibel ruft … jene Resonanzen im Gefühl hervor, die – gerade an den Grenzen, im Zerbrechenden, Fragmentarischen, Desaströsen und Ungeheuren – dennoch von bergendem Halt und neuem Mut zum Leben sprechen lassen.“[44]

Oder mit den Worten Gerd Theißens gesprochen: Die Bibel enthält für uns so etwas wie „kleine Meta-Erzählungen“, die unser Leben auch heute trotz unserer Erkenntnis seiner evolutionären Ungesichertheit tragen und gründen können. Diese „kleinen Meta-Erzählungen“ haben nicht den Anspruch, das Ganze jetzt schon überschauen und zuverlässig deuten zu können, wie ihn die alten „großen Meta-Erzählungen“ hatten. Aber sie sind doch vielleicht tastende „Prolepsen“ der Zukunft und wichtige adaptive „Durchbrüche“ in der kulturellen Evolution der Menschheit. „Was sich nämlich in ihr als adaptiv herausgestellt hat, ist ein Netzwerk von vielen Axiomen und Grundmotiven, die in kleinen Geschichten konkretisiert werden … Für den antiselektiven Imperativ reichen Erzählungen wie die vom Überleben der Sintflut, von der Fürbitte Abrahams für Sodom, vom Verzeihen Josephs, vom Exodus der vom Kindermord bedrohten Israeliten – bis hin zur Geschichte vom barmherzigen Samariter. Wir brauchen diese kleinen Geschichten, denn die ‚großen Erzählungen‘ drohen immer wieder, intolerant zu werden.“[45]

Mir geht es, anders gesagt, tatsächlich um ein an Kants kritischer Philosophie geschultes und durch sie "aufgeklärtes" theologisches Denken, aber zugleich gibt es ein "Mehr" in den Traditionen existentieller biblischer, mystischer und kirchlicher Religion gegenüber einer rein philosophischen Religion, das Kant zwar ebenfalls gespürt und artikuliert hat, das aber dennoch seine rein moralische "Vernunftreligion" transzendiert, und das ich nicht verlieren möchte. Vielleicht liegt die Verbindung von Kant und Sölle, von philosophischer und biblischer Religion ja eben in dem, was Sölle eine "demokratische Mystik" und Palmquist im Anschluss an Kant einen "Critical Mysticism" genannt hat, eine mystische religiöse Tiefe, die bei Kant eher im Hintergrund, und bei Sölle im Vordergrund bzw. im Zentrum steht, und die Sölle selbst "Theo-Poesie" genannt hat[46]. Auch Kants philosophische Sprache hat in diesem Sinne immer wieder Momente poetischer Tiefe, die sie über eine reine "Kopfgeburt" erhebt. Aber Sölles religiöse Sprache ist von Hause aus poetischer und mystischer, ohne je unkritisch zu sein. Vielleicht spricht sie mich darum besonders an, ebenso wie die Kearneys oder Caputos, die ebenfalls sehr poetisch ist.

(4) Am Ende dieses Abschnittes soll noch ein letzter Auszug aus Sölles „Die Hinreise“ stehen, in dem Sölle Gedanken ihrer „Mystik des Todes“ vorwegnimmt, und zugleich in sehr dichter und poetischer Weise Ähnliches zum Ausdruck bringt, wie das, was ich dann selbst ausführlicher in „Was von uns bleibt“ formuliert habe, wo ich unter Bezugnahme auf Sölle und im Anschluss v.a. an Mark Johnson bzw. Karl E. Peters, aber auch an Eberhard Jüngel, Hans-Peter Dürr und Raimon Panikkar eine Rekonstruktion christlicher „Hoffnung angesichts des Todes“ durch den Gedanken unserer "größeren Identität" bzw. unseres "größeren Selbst" zu entwickeln versucht habe, mit Hilfe der Metapher vom "Wassertropfen" im „Ozean der Liebe“, die ich zuerst ebenfalls bei Sölle gefunden habe[47].

Der wahre Tod, so Sölle in „Die Hinreise“, ist der Tod, bei dem wir äußerlich zwar noch eine Weile weiterleben, aber innerlich bereits „den furchtbaren Tod der Beziehungslosigkeit“[48] gestorben sind, weil wir unser Leben egoistisch auf das eigene individuelle Existieren reduzieren. Das ist der „Tod am Brot allein“, in dem uns „die anderen nicht Reichtum bedeuten, Herausforderung, Glück, sondern Angst, Bedrohung, Konkurrenz“[49], der Tod, den die Bibel „der Sünde Sold oder der letzte Feind“ nennt[50].

Weil der wahre Tod des Menschen nicht sein natürliches Sterben, sondern sein unnatürliches Sichverkrümmen in sich selbst ist, ist Glaube an das ewige Leben auch nicht Glaube an die Überwindung des natürlichen Todes in einem individuellen Weiterleben im Jenseits, sondern an eine den Egoismus aufhebende neue, „ewige“ Lebensqualität. „Ist mit dem Tode alles aus? So können nur die fragen, deren Ich in den Grenzen des Individuums gefangen ist, die sich abkoppeln von der großen, berührenden und verwandelnden Wirklichkeit. Ist mit dem Tode alles aus? ist eine gottlose Frage. Was ist denn dieses ‚alles‘ für dich? Du kannst deinen eigenen Tod nicht mit der Formel ‚dann ist alles aus‘ beschreiben, eben weil es zur Definition eines Christen gehört, dass er für sich selber nicht alles ist. Nein, es ist nicht alles aus, sondern es geht alles weiter. Was ich wollte, was ich mit anderen versucht habe, was ich angefangen habe und woran ich gescheitert bin – es geht weiter. Ich esse nicht mehr, aber es wird Brot gebacken und gegessen; ich trinke nicht mehr, aber der Wein der Brüderlichkeit wird weiter getrunken. Ich atme nicht mehr als dieser einzelne, diese Frau des 20. Jahrhunderts, aber die Luft wird dasein für alle.“[51]

Diese andere Haltung angesichts des natürlichen Todes verkörpert für Sölle besonders die biblische Geschichte vom Tod des Moses: „Mose starb im Angesicht des gelobten Landes“; er wusste, dass er dieses Land selbst nicht mehr erreichen würde. „Eine individuelle Auferstehungshoffnung hatte er nicht nötig. Weil er den großen Tod, der die Menschen nicht zum Leben kommen lässt, in der ägyptischen Sklaverei erkannt und bekämpft hatte, … darum brauchte er den kleinen Tod nicht zu fürchten. … Um diesen Tod möchte ich beten, ihn möchte ich allen wünschen. Es ist leichter zu sterben, wenn wir die Umrisse des Gelobten Landes deutlicher vor uns sehen.“[52]

Was immer wir auch theologisch unter dem „Himmelreich“ verstehen wollen, in das wir Menschen „eingehen“ sollen – der „Himmel“, in dem wir nach Paulus unsere wahres „Bürgerrecht“ haben (Phil 3, 20), ist nicht „über uns“ oder irgendwo „jenseits“ – „no hell below us, above us only sky“, wie John Lennon es gesungen hat - ist kein metaphysischer „Ort“, zu dem wir nach unserem Tod gehen, an dem wir unsere phänomenalen Identitäten fortsetzen, oder einander in irgendeinem buchstäblichen Sinne „wiedersehen“ würden. Das „Himmelreich“ oder „Gottesreich“ ist, wie es der Evangelist Lukas als Jesuswort überliefert (Luk 17, 21), „mitten unter euch“ (oder „inwendig in euch“, wie Luther das griechische „en hymin“ zunächst übersetzt hatte), eine ich-transzendente Dimension der Gemeinschaft und Partizipation am Ganzen der Wirklichkeit, die uns hervorgebracht hat und die uns „jetzt schon“ jeden Augenblick gründet und trägt. Auch die sehr poetischen Worte, die Dorothee Sölle in „Die Hinreise“ für diese Deutung von Tod und „Auferstehung“ gefunden hat, zeigen m.E. nochmals in einer sehr eindrücklichen Weise, dass und warum gerade Dorothee Sölle in vielerlei Hinsicht eine frühe deutsche Vordenkerin jener „anatheistischen“, „komplextheologischen“ nachtheistischen Glaubensbewegung war, die ich dann bei den neueren internationalen theologischen Denkversuchen von Richard Kearney, Gordon Kaufman, Catherine Keller, Mark Taylor und anderen weiter ausgeführt und fortgeschrieben gefunden habe, und in der es auch mir in meinen „Paradigmen theologischen Denkens“ insgesamt gegangen ist und geht.

Anmerkungen

[1]    vgl. insgesamt „Gefeiertes Geheimnis“, 39-46, auch veröffentlicht als „Leseprobe“ unter dem Titel „Die Tradition des ‚Politischen Nachtgebets‘ um Dorothee Sölle, in: Tà katoptrizómena. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik. Heft 82, Jahrgang 15/2013, https://www.theomag.de/82/sts8.htm

[2]    „Gefeiertes Geheimnis“, 101-103 und 106f.

[3]    auf Sölles „Mystik des Todes“ bin ich bereits in „Was von uns bleibt“, 16f., eingegangen, vgl. „Christliche Hoffnung angesichts des Todes. Teile I und II“. In: Tà katoptrizómena. Das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik. Heft 73, Jahrgang 13/2011, https://www.theomag.de/73/index.htm

[4]    zitiert nach Metz, Mystik, 180

[5]    Metz, Mystik, 180

[6]    Sölle, Mystik und Widerstand, 12

[7]    Sölle, Mystik und Widerstand, 19

[8]    Sölle, Mystik und Widerstand, 28

[9]    Sölle, Mystik und Widerstand, 16

[10]   Sölle, Mystik und Widerstand, 76

[11]   Sölle, Mystik und Widerstand, 91ff.

[12]   Sölle, Mystik und Widerstand, 93

[13]   Sölle, Hinreise, 86

[14]   Sölle, Hinreise, 86f.

[15]   Sölle, Hinreise, 87

[16]   Sölle, Hinreise, 88

[17]   Sölle, Hinreise, 89

[18]   Sölle, Hinreise, 90

[19]   Sölle, Hinreise, 104

[20]   Sölle, Hinreise, 106

[21]   Sölle, Hinreise, 107

[22]   Sölle, Hinreise, 109

[23]   Sölle, Hinreise, 102

[24]   Sölle, Hinreise, 126

[25]   Sölle, Hinreise, 177

[26]   Sölle, Hinreise, 178

[27]   Sölle, Hinreise, 178

[28]   Sölle, Hinreise, 185

[29]   KpV 288, zitiert nach Ludwig, Imperativ, 15f.; vgl. „‘Gott‘, ‚Welt‘ und ‚Mensch‘ im 21. Jahrhundert“, 301f.

[30]   Palmquist, Public Square, 235

[31]   Palmquist, Public Square, 235

[32]   Palmquist, Public Square, 239

[33]   Palmquist, Public Square, 239

[34]   Palmquist, Public Square, 239

[35]   Palmquist, Public Square, 240

[36]   Sölle, Mystik und Widerstand, 15

[37]   Palmquist, Public Square, 243f.

[38]   Palmquist, Public Square, 244

[39]   Palmquist, Public Square, 245

[40]   Palmquist, Public Square, 245f.

[41]   Palmquist, Public Square, 244

[42]   „Gefeiertes Geheimnis“, 74

[43]   In seiner Auslegung und wirkungsgeschichtlichen Deutung von Kants Essay „Was ist Aufklärung?“ von 1784 hebt Fleischacker als den „minimalistischen“ Kern von Kants Beitrag zur Aufklärungsfrage, der für ihn gegen die Kantkritiker von Hamann und Hegel bis Horkheimer und Adorno auch heute noch richtungsweisend bleibt, zwei bzw. drei „core themes“ des Kant’schen Aufklärungsideals heraus: „(1) that every human being has a duty to think for him- or herself and not merely accept doctrines on authority, and (2) that this individual duty is interwoven in a complex way with realm of open public discussion“, und vielleicht auch „(3) that the doctrines of churches, and other voluntary institutions, need to be mutable“. (Fleischacker, What is Enlightenment, 16). Im Gegensatz so einer solchen „minimalistischen“ Deutung von Kants Aufklärungsideal als einer autonomen und kritischen Grundhaltung, die mit ganz unterschiedlichen inhaltlichen Überzeugungen verbunden sein kann, würde eine „maximalistische Deutung“ bedeuten, dass man um im Kant’schen Sinne „aufgeklärt“ zu sein auch die gesamten Einsichten von Kants kritischer Philosophie übernehmen muss, d.h. insbesondere die Existenz Gottes nicht für eine rational verifizierbare Tatsache hält und in den historischen Religionen nur zu überwindende Vorstufen der reinen Vernunftreligion sieht. Kant selbst, so Fleischacker, „is … torn between“ der minimalistischen Interpretation, die insbesondere seine früheren Schriften, und ausdrücklich seine Schrift „Was ist Aufklärung“ bestimmt, und der maximalistischen Definition, zu der er insbesondere in einigen seiner späteren Schriften tendiert. (Fleischacker, What is Enlightenment, 39) Aber die Spannung zwischen beiden Interpretationen bleibe durch sein ganzes Werk hindurch bestehen und entspreche vielleicht der Grundspannung des liberalen Denkens überhaupt: „it is definitive of liberalism to uphold the value of a public realm in which doctrines of all sorts, including anti-liberal ones, can be openly debated, but at the same time liberals, like anyone else, hold some particular views they think correct, and would like everyone else to adopt.“ (Fleischacker, What is Enlightenment, 34)

[44]   Sinn fürs Unendliche, 301

[45]   Theißen, Zeichenwelt, 78f.

[46]   nach Riedel, vgl. „Gefeiertes Geheimnis“, 102

[47]   vgl. „Was von uns bleibt“, 47

[48]   Sölle, Hinreise, 7

[49]   Sölle, Hinreise, 9

[50]   Sölle, Hinreise, 14

[51]   Sölle, Hinreise, 23

[52]   Sölle, Hinreise, 23

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/84/sts08.htm
© Stefan Schütze, 2013