Paradigmen theologischen Denkens II


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Paradigmen theologischen Denkens - Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben

Teil IV: Weitere Verhältnisbestimmungen und Grenzziehungen

Stefan Schütze

8. Postskript: Zwei Nachträge

Lektürebasis:

Vásquez, Manuel A.: More Than Belief. A Materialist Theory of Religion, New York 2011

Stausberg, Michael: A new theory of religion? Introducing the review symposium on Manuel A. Vásquez: More Than Belief (2011), in: Religion, 42:4, 597-608, 2012; online veröffentlicht unter: http://michaelstausberg.net/wp-content/uploads/2012/04/A-New-Theory-of-Religion-2012.pdf (Stand: April 2013)

Robbins, Jeffrey W.: In Search of Non-Dogmatic Theology, Aurora (CO) 2004


„Kein Ende in Sicht“ – mit diesem Bildwort endete der Hauptteil dieses IV. Teils meiner „Paradigmen theologischen Denkens“. Und entsprechend gibt es für meine nach meinem Verständnis immer „unabgeschlossenen“ weil „unabschließbaren“ theologischen Grundlagenüberlegungen schon wieder eine doppelte weitere Fortsetzung.

In einem „Postskript“ zu diesem IV. Teil meiner „Paradigmen theologischen Denkens“ will ich einige Gedankenlinien des Hauptteils, insbesondere zur Bedeutung von Leiblichkeit / „embodiment“ für ein heute plausibles nachtheistisches theologisches Denken, und zur Möglichkeit von „Theologie“ überhaupt nach Nietzsches Proklamation des „Todes Gottes“, auf Grundlage zweier weiterer aktueller theologischer Lektüren noch etwas weiter ausziehen.

(1) Manuel A. Vásquez Buch „More Than Belief“ ist ein weiterer Beitrag zu einem beim fundamentalen „embodiment“ menschlichen Lebens, Denkens und Glaubens ansetzenden Verständnis von „Religion“, der insbesondere an Teil „3. Komplextheologisches Denken und David H. Nikkels Theologie des ‚radical embodiment‘“ dieser Fortführung meiner „Paradigmen“ anknüpfen kann. Vásquez‘ theologische Appropriation der Konzepte von „embodiment“ und Leiblichkeit verzichtet im Unterschied zu der Nikkels auf ein bestimmtes in ihr vorausgesetztes theistisches oder „panentheistisches“ Transzendenzkonzept, und kann damit die Bewegung meiner Suche nach einem auch „nachtheistisch“ plausibilisierbaren Verständnis von Religion und Glauben nochmals anders fundieren und fortschreiben, auch wenn Vásquez durch seine dualistische Interpretation der Philosophie Kants seine Version eines „nichtreduktiven“ Materalismus, anders als ich hier argumentieren würde, in starker Opposition zu Kants „transzendentalem Idealismus“ meint entfalten zu müssen.

Vàsques möchte in seiner „materialistischen Religionstheorie“ „de-provincialize the study of religion, … historicize and … materialize it“, und sich damit einem gegenwärtig zu beobachtenden „‘materialist turn‘ in religious study“ anschließen, „that is already underway at the margins of the discipline“[1]. Es geht ihm dabei um einen „nicht-reduktiven“ materialistischen Rahmen für das Verständnis menschlicher Religion, der die primäre Verleiblichung menschlichen Glaubens in bestimmten materiellen Praxisvollzügen betont, also konsequent bei der empirischen religiösen Praxis, und nicht hermeneutisch bei der Interpretation von bestimmten doktrinären Glaubensformulierungen oder der Auslegung bestimmter in der Tradition formulierter Glaubensinhalte ansetzt, dabei nicht essentialistisch und nicht fundationalistisch ist, und Religion im Rahmen der „material constraints and possibilities entailed by our being-in-the-world through our physical bodies“[2] deutet.

Dieser religiöse „Materialismus“ „highlights complexity, inter-level connectivity, emergence, situated knowledge, and relative indeterminacy“ [3]. Er ist „nicht-reduktiv“, weil er die materielle Basis gelebter Religion holistisch und nicht nur physikalisch bestimmt: „My key contention is that, while religious studies must acknowledge the evolutionary pressures, neurophysiogical dynamics, and cognitive constraints that enable and shape religion, these material factors by themselves underdetermine the diversity, creativity, and complexity of everyday religious practices. Thus, in order to offer a more holistic and context-sensitive materialistic understanding of religion, the cognitive and neurological sciences must engage psychology, anthropology, sociology, and history, not simply as disciplines that can be ultimately reduced to the lawful behaviour of neurons and atoms, but as legitimate fields of knowledge that deal with their own forms of materiality.“[4]

Die Geschichte westlichen religiösen Denkens ist nach Vásquez geprägt von Konzepten, „in which religious scholars have traditionally ignored the body“; zugleich gab es aber immer auch „countertrends that have fascilitated the recovery of the body, along with dimensions like practice, performance, power, emplacement, historicity, and mobility“.[5] Diesen geschichtlichen Trends und Gegentrends geht Vásquez in den ersten beiden Kapiteln seines Buches ausführlicher nach. In ihnen versucht er, wie Strausberg es in seiner Rezension zu Vásquez‘ „More than Belief“ formuliert, „the epistemological genealogy“ des abendländischen Leib-Seele-Dualismus „all the way“ zurück „to Greek philosophy“ und zum augustinischen Erbe im Christentum zurückzuverfolgen. „Yet, this is only the prelude for attributing the ultimate genealogical sin to Descartes and his mind–body dualism that would result in the modern (disembodied) subject and its anxieties, internalism, and idealism.“ [6]

Neben Descartes ist für Vásquez dabei insbesondere auch Kant wirkungsgeschichtlich verhängnisvoll gewesen. Kant setzt für Vásquez den Cartesianischen Leib-Seele-Dualismus in einer neuen Variante fort, „merely displacing the Cartesian spirit-matter split by the phenomna-noumena antinomy“[7], und verfestigt und zementiert ihn damit. Kant habe zwar, so Vásquez, über Descartes hinaus „the active role of reason in shaping knowledge“ erkannt[8]. Aber weil er dabei die menschliche Vernunft „transzendental“ und nicht empirisch konzeptualisiert habe, sei es ihm nicht gelungen, (to) „explain satisfactorily the origin of apriori structure of apperception“[9]. Kants Grundfehler war, so Vásquez, anzunehmen, „that categories that made it possible for things to appear to us in a given way were transcendental, not the product of cultural and historical variation“. Kant habe, indem er dieser „transcendental temptation“ erlag, den Desartes‘schen Dualismus nie überwunden, und die weitere Geschichte westlichen Denkens damit bis hin zu Husserl ebenfalls unheilvoll beeinflusst.[10]

Ein deutlicher Gegentrend zum Cartesianischen Leib-Seele-Dualismus kam, so Vásques, stattdessen zuerst von Spinoza, und später von Nietzsche, die beide auf ihre Weise versuchten, „to overcome the Cartesian dualism and to construct a somatocentric non-reductive materialism“[11]. Dieser Gegentrend wurde dann von „materialistischen“ Phänomenologen aufgenommen und verstärkt; noch nicht von Husserl, der zu stark dem transzendentalen Erbe Kants verpflichtet blieb, aber teilweise von Heidegger, und am deutlichsten von Merleau-Ponty. Wichtige Impulse für eine „verleiblichte“, materialistische Religionstheorie können dann, so Vásquez, auch aus der kritischen Aufnahme der zeitgenössischen Ansätze eines „Sozialen Konstruktivismus“, eines postmodernen „Dekonstruktivismus“, und insbesondere aus dem „enactive approach“ neurophysiologischer Bewusstseinsforschung, wie ihn Francesco Varela und Evan Thompson entwickelt haben, entnommen werden.

Der „Konstruktivismus“ ist für Vásquez zwar insgesamt zu anthropozenrisch und in der Tendenz zu totalisierend; die „Dekonstruktion“ zu text- und interpretationsorientiert: „The reductionism of the sort ‚There is nothing outside the text‘ threatens to turn constructivism into another version of idealism“[12]. Dennoch stellen sie für ihn „crucial elements for the articulation of a flexible non-reductive materialist framework to study religion“ bereit[13]: Eine „verleiblichte“ Religion, so Vásquez, ist immer auch eine vielfältig „konstruierte“ Größe, weil „our experiences and practices are unavoidably shaped by the contexts that we collectively construct“; wir sind auch in unserem religiösen Leben „embedded in sociocultural matrixes that provide us with the categories whith which we make sense of reality“.[14]

In der Rezeption neurophysiologischer Theorien zur Entstehung des menschlichen Bewusstseins ist für Vásquez der „enactive approach“ Varelas und Thompsons deshalb am fruchtbarsten für eine nicht-reduktive materialistische Religionstheorie, weil in ihm „culture and society …. into the dynamic interplay of bottom-up and top-down influences“ eintreten[15], und sein „autopoietisches“, verleiblichtes Verständnis der menschlichen Bewusstseinsentwicklung es ermöglicht, religiöse Erfahrung „as the non-linear coupling between dynamic, self-organizing neural systems, sensimotor processes, and the environment as mediated through our discursive and nondiscursive practices“[16] zu interpretieren. Eine nicht-reduktive materialistische Religionstheorie, so Vásquez zusammenfassend, hat „nothing to fear and much to gain from a frank conversation with the cognitive sciences, particularly with enactive models of cognition. … Notions such as autopoiesis and dynamic emergence do not discount the vividness and coherence of religious experiences … Quite the contrary, embodied cognition enriches the materialty of phenomenology and praxis by enfleshing it, by foregrounding the complex relations of mutual determination they sustain with neuropsycholological processes.“[17]. Sie geben damit religiöser Erfahrung und religiöser Praxis eine solide und flexible materielle Basis, ohne sie auf diese zu reduzieren.

Was bedeutet das alles für die religiösen „beliefs“, also für die Interpretation inhaltlicher religiöser Vorstellungen und Propositionen, wie den Glauben an „Gott“ bzw. „Götter“, an ein „ewiges Leben“, bzw. eine „übersinnliche“ Transzendenzdimension des Menschseins und der Wirklichkeit? Sie sind für Vásquez, weil ideell und nicht materiell, nicht die Grundlage von Religion, sondern von ihrer Einbettung in konkrete „materiale“ religiöse Erfahrungen und Praxisvollzüge her „pragmatisch“ zu deuten und zu rezipieren. Religion ist für ihn nicht in erster Linie ein System von „symbols, beliefs, narratives and cosmologies“[18], sondern eine konkrete soziale Lebenspraxis, die nicht „essentialistisch“ von bestimmten metaphysischen Vorstellungsgehalte her verstanden und gedeutet werden darf. „In other words, a well conceived (religious) materialism is not only humbly agnostic about the ‚supernatural‘ sources of religion, but it is interested in the conditions that made it possible for these sources to be recognized and felt as supernatural.“[19] Ein nicht-reduktives materialistisches Verständnis von Religion bewahrt dabei zugleich ein Verständnis für die Transzendenzdimension des Religiösen, das niemals auf ein „totalizing understanding of what religion is“ reduziert werden kann. „The shifting boundaries of what we call religion continue to defy our most astute efforts to fix them once and for all. Yet, this ‚transcendence‘ does not have to rely on theological categories like the sacred, the holy or the supernatural. It is rather anchored in the relative indeterminacy of our embodied existential condition … “[20].

Im Hinblick auf den epistemologischen Status religiöser Bekenntnisse, Vorstellungen und Konzepte schlägt Vásquez also, wenn ich ihn recht verstehe, eine Art „Epoché“ vor, eine methodische epistemologische „Reduktion“ auf die phänomenale religiöse Praxis, die „approaches religion as it is lived by human beings, not by angels“ [21], ohne dabei zu entscheiden, ob es so etwas wie „Engel“, „Wunder“, „Gott“ oder „Götter“ als übermaterielle „Quelle“ solcher materialen menschlichen Praxis auch ontologisch bzw. metaphysisch tatsächlich geben könnte. Wie die Phänomenologie in einer methodischen „Reduktion“ epistemologisch ihr Augenmerk auf die „Erscheinungen“ der Dinge für das diese Dinge intendierende Subjekt beschränkt, ohne damit die Wirklichkeit auch ontologisch auf die jeweilige subjektive Phänomenalität zu reduzieren (den ontologischen Status der subjekttranszendenten, „objektiven“ Realität vielmehr bewusst offen lässt), so will Vásquez sein Augenmerk auf die praktische Bedeutung religiöser Sinngebungen und Handlungsvollzüge in der sichtbaren menschlichen Religiosität konzentrieren, ohne damit zu leugnen, dass es einen metaphysischen „Überschuss“ der Sinnkonstitution geben könnte, der die konkrete religiöse Praxis transzendiert (also den ontologischen Status solcher metaphysischer Vorstellungen ebenso bewusst offen lassen).

Was ist nun der Ertrag dieser „nicht-reduktiven“, metaphysisch agnostischen Theorie einer fundamental „verleiblichten“, „materialistisch“ interpretierten menschlichen Religiosität, wie Vásquez sie entwickelt, für meine „Paradigmen theologischen Denkens“ und meine „Suche nach einem für mich heute trag- und sagfähigen“, nachtheistischen bzw. „anatheistischen“ Glauben?

Der große „Vorteil“ von Vásquez‘ religiöser Appropriation des Gedankens des „embodiment“ unseres kulturellen und religiösen Lebens gegenüber der Nikkels ist m.E., dass sie auf ontologisch „starke“ metaphysische Postulate im Sinne von Nikkels „full-fledged panentheistic understanding of God”[22] verzichtet, und dadurch die Aporien der „postmodern“ m.E. nicht mehr möglichen Plausibilisierung eines solchen für die menschliche Religion konstitutiv gemachten traditionellen Gotteskonstruktes vermeidet. Doch ich frage mich, ob man für eine heute plausible Theorie menschlicher Religion tatsächlich eine solche vollständige „Epoché“ im Blick auf die Gottes- und Transzendenzfrage wirklich durchhalten kann, oder ob unsere religiöse „Praxis“ nicht doch ihr spirituelles, mystisches Herz (die Dimension der „Hinreise“ nach Sölle) verliert, wenn eine ihr korrespondierende „religious interpretation of religion“ (Hick) nicht auch eine heute „sag- und tragfähige“ theologische „Rekonstruktion“ (Kaufman) des Transzendenzgrundes menschlicher Religiosität, und damit für den Bereich christlichen und jüdischen Glaubens auch eine „nachtheistische“ Refiguration des Gottesgedankens impliziert.

Auch sonst scheint mir Vásquez „materialistische“ Religionstheorie in der Gesamtbilanz doch vielfach etwas schwammig zu bleiben, oder, wie Strausberg es in seiner Besprechung formuliert, „rather vague and implicit at best“[23] Der „Nachteil“ von Vásquez‘ Ansatz wird für mich auch darin deutlich, dass er meint, seinen „nicht-reduktiven Materialismus“ gegen Kant entwickeln zu müssen, und in der Folge dann auch auch die jeweilige historische „religiöse Praxis“, in der menschliche Religion für ihn „verkörpert“ ist, nicht mehr kritisch an einem über diese Praxis hinausgehenden und sie regulierenden „transzendentalen“ Ideal von Religion und Glauben messen kann. Wenn unsere „verleiblichte“ religiöse Praxis als solche der Maßstab für alle Deutung und Beurteilung menschlicher Religion ist, wie kann er diese Praxis dann gegen die theofaschstischen Pervertierungen menschlicher Religiosität abgrenzen, die gerade unser beginnendes 21. Jahrhundert so stark erschüttert haben?

Gelebte, praktische Religion war und ist ja eine immer auch sehr ambivalente Größe, sie hat in der menschlichen Geschichte, wie Fritz P. Schaller es formuliert hat, „zwei Spuren: Eine Lichtspur und eine Blutspur“[24] hinterlassen, und bedarf darum, mit den Worten Richard Kearneys formuliert, immer auch einer „radical autocritique of its own violent tendencies if it is to rescue what in genuinely tolerant and emancipatory at its core“[25]. Hier hätte eine positivere Aufnahme (und sachgemäßere Interpretation) der „Vernunftkritik“ und ethischen Religionstheorie Kants, meine ich, Vásquez‘ „materialistische“ Religionstheorie noch deutlich weiterführen können. Nicht, dass ich jede Berechtigung von Vasquez‘ Kantkritik pauschal in Abrede stellen wollte. Kant hatte sicherlich tatsächlich eine Schwäche in der Würdigung konkreter „historischer“ religiöser und kirchlicher Praxis, die ihm selbst, auch in Folge der „pietistischen“ Religiosität seiner Eltern und Lehrer, die seine Kindheit und Jugend überschattet hatte, als Erwachsenem gänzlich fremd geworden war, und neigte dazu, sie insgesamt recht pauschal als „bloße(n) Religionswahn und Afterdienst Gottes“[26] zu diskreditieren. Dennoch bleiben seine (auf reformatorischen Wurzeln beruhende!) „antiidolatrische“ theologische Kritik gegenüber allen menschlichen Versuchen, sich der göttlichen „Gnade“ rituell zu bemächtigen, und sein übergeordneter „moralischer“ Maßstab („der Gott in uns“[27]), an dem er jede historische Religion misst, für mich unhintergehbar, und ein wichtiges Korrektiv für jede bestehende religiöse Praxis, das mir in Vásquez Religionstheorie zu fehlen scheint.

Wenn Vásquez die Reihenfolge Theorie – Praxis, von der er große Teile der abendländischen theologischen und philosophischen Tradition bestimmt sieht, und die für ihn „discarnate“ ist, zugunsten des Gedankens der „Verkörperung“ aller theoretischen Konzepte in der gelebten Praxis von bestimmten Gemeinschaften einfach umdreht, dann überwindet er m.E. noch nicht wirklich die Theorie-Praxisdichotomie, die er zu Recht kritisiert, sondern setzt sie lediglich in umgekehrter Weise fort. Die Aufgabe einer „materialistischen“ Revision traditioneller dichotomischer Denkfiguren wäre dagegen nach Clayton Crockett, der sich ebenfalls einem „nicht reduktiven“ „New Materialism“ verpflichtet fühlt[28] nicht einfach die Betonung des Primats „verkörperter“ Praxis vor „entkörperter“ Theorie, sondern vielmehr (to) „think critically beyond such simple-minded oppositions“[29], wie es Crockett selbst ja immer wieder gerade in fundamentaler Bezugnahme auf Kants kritisches Denken zu entfalten versucht. Zudem ist m.E. die Frage zu stellen, ob sich aus einem religionstheoretischen Ansatz beim fundamentalen „embodiment“ aller menschlichen Lebensvollzüge wirklich, wie Vásquez argumentiert, ein einseitiger Primat der (materialen) „Praxis“ vor der (ideellen) „Theorie“ ergibt. Sind „symbols, beliefs, narratives and cosmologies“[30] als Teil der geistigen Kultur des Menschen nicht genauso als „verkörpert“ zu interpretieren wie die Ausdrucksformen religiöser Praxis, da ja für ein ganzheitliches, nicht-dualistisches Verständnis des Menschen auch seine geistigen Funktionen und Hervorbringungen Teil seiner Materialität und Körperlichkeit sind? Hat Vásquez also mit seiner Priorisierung religiöser Praxis vor religiösen Ideen seinen eigenen Ansatz beim „embodiment“ wirklich konsequent zu Ende gedacht, oder verrät sie nicht eher doch einen auch bei ihm selbst weiterhin bestehenden Dualismus von Materie und Geist, weil er die geistigen Dimensionen religiösen Lebens anscheinend als nicht in gleicher Weise wie die praktischen „leiblich“ und „verkörpert“ denkt?

Vásquez folgt insgesamt der für mich irreführenden „Zwei-Welten-Interpretation“ der Philosophie Kants[31], und deutet den Begriff „transzendental“ dabei m.E. in einem falschen Gegenatz zu „cultural and historical“[32]. „Transzendental“ heißt für Kant, wie ich ihn interpretiere, nicht „überkulturell“ oder „unhistorisch“, sondern bezeichnet eine spezifisch menschiche Metaperspektive, die obwohl kulturell und historisch hervorgegangen, doch jede weitere Kultur und Geschichte insofern transzendiert, dass sie zugleich auf die sie erst konstituierenden „Bedingungen ihrer Möglichkeit“ weist. Mit Kant über Kant hinaus ist zur Frage des „embodiment“ menschlichen Denkens, menschlicher Kultur und Religion m.E. (soweit mit Vásques) zu sagen: Es gibt keine „reine“ - im Sinne einer übergeschichtlichen und körperlosen, nicht aus der Evolution körperlicher und materieller Prozesse emergierenden – Vernunft. „The mind’s categories are „not strictly a priori, but are constructed over a long history of experience, which is sedimented in language. A particular language is prior to and formative of individuals’ experiences, but its categories are themselves formed in cumulative response to historical and cultural contingencies.“ [33]

Die fundamentale Körperlichkeit auch der „apriorischen“ (jeder empirischen Einzelerkenntnis vorausgehenden und ihr zugrundeliegenden) Strukturen von Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand und Vernunft muss deshalb heute deutlicher herausgearbeitet werden, als Kant dies getan hat bzw. es mit dem Wissen seiner Zeit tun konnte. Dazu braucht es eine konsequente Reformulierung des sog. „mind-body“ – Problems als „body-body“ – Problem, wie es Evan Thompson im Rahmen seines sog. „enactive approach“ zum Leib-Seele-Problem versucht hat[34] - auch in der Heraushebung des „enactive approach“ in der modernen Neurobiologie und –philosophie kann ich Vásquez uneingeschränkt folgen. Aber eben der „enactive approach“ zur Deutung menschlichen Bewusstseins hat dem transzendentalen Idealismus Kants, anders als Vásquez es wahrnimmt, tatsächlich viel zu verdanken.

Kant war, wie auch die positive Kant-Rezeption von Thompson selbst unterstreicht[35], (hier gegen Vásques) gerade kein cartesianischer Dualist, sondern hat den Cartesianischen Leib-Seele-Dualismus bereits im Ansatz überwunden, wie ich es in „Gefeiertes Geheimnis“ ausführlicher darzustellen versucht habe[36]. Insofern müsste man, meine ich, eine wirklich nicht-reduktive „materialistische Religionstheorie“ nicht gegen, sondern mit Kant entwickeln, wie es auch Stephen R- Palmquist in seinem Essay „Kant’s Perspectival Solution to the Mind-Body Problem - Or, Why Eliminative Materialists Must Be Kantians“ begründet:

„Once we take into account” den “perspectival character” von Kants ganzer Philosophie, “a new way of understanding Kant‘s philosophy of mind emerges. The mind is no longer separate from the body, but is a manifestation of it, viewed from another (specifically human, rational) perspective. Kant‘s transcendental conditions of knowledge (spatio-temporal intuition, categorial conception, and principled schematization) do not portray the mind as somehow creating the physical world; rather, they imply the opposite, that knowledge of objects is necessarily structured by a set of unconscious assumptions about the physical world. Our pre-conscious … encounter with an assumed spatio-temporal, causal nexus is entirely physical. A reincarnated Kant‘s solution to today’s mind-body problem would be: eliminative materialism is good science; but only the explanatory idealist can consistently be an eliminative materialist. Philosophically, multiple perspectives are necessary in order to understand anything we say or do.”[37]

Das „Ich“ ist für Kant anders als für Descartes dabei gerade keine „körperlose“ Substanz, aber auch nicht nur eine entbehrliche „Illusion“ unseres Gehirns, sondern ein Emergent unseres ganzen Körpers in seiner Beziehung zur Welt, und als solcher die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von verkörperter Welterkenntnis überhaupt: „For Kant thought it was a fundamental mistake to assume that ‚I‘ somehow live in my brain. The brain‘s functions may be - nowadays we can say are (at least as far as we know) -essential to the experience of what we call ‚mental states‘; but to hold out the hope that the mind will someday be reduced to the brain is no more plausible today than was the hope of locating the soul in the brain in the days of Descartes and Kant.“ Kants perspektivischer Holismus fordert uns nach Palmquist heraus „to recognize that the whole body is the source of our feeling of having a distinct ‚mental life‘ … . In other words, it is not and never will be the brain on its own that turns out to be smarter than it is complicated, but rather, the brain and body functioning as a creative feedback loop and thereby defining the whole person. … What Kant‘s system of perspectives … can contribute“ zu unseren heutigen Debatten über das Verhältnis von Gehirn und Geist „is a realization that the mind or soul or ‚I‘ that arises out of the body is entirely imaginary, yet it is the very thing that makes possible our ability to explain what we know to be real.“[38]

Wenn man Vásquez‘ „nicht-reduktiven“, praxis-orientierten, und propositional agnostischen religiösen „Materialismus“ gegen Vásquez eigene Kantinterpretation kritisch mit Hilfe fundamentaler Einsichten aus Kants transzendentaler Vernunft- und Religionstheorie, und auf der Basis von dem, was Palmquist an anderer Stelle als Kants „Critcal mysticism“[39] bezeichnet hat, rekonstruiert und reinterpretiert, dann kann er m.E. tatsächlich eine sehr fruchtbare weitere „Denkhilfe“ zur Formulierung eines „heute trag- und sagfähigen Glaubens“ in Erweiterung der bisherigen Denkbewegung meiner „Paradigmen theologischen Denkens“ sein, und dazu helfen, menschliche Religion konsequent als „verleiblichte“ Grundfunktion menschlichen In-der-Welt-Seins, und in diesem Sinne als Teil der conditio humana zu verstehen, die den Menchen vielleicht erst eigentlich zum Menschen macht. „Es ist etwas in uns, was zu bewundern wir niemals aufhören können, wenn wir es einmal ins Auge gefasst haben, und dieses ist zugleich dasjenige, was die Menschheit in der Idee zu einer Würde erhebt, die man am Menschen als Gegenstand der Erfahrung nicht vermuten sollte. …“ (Immanuel Kant, „Streit der Fakultäten“[40])

(2) Eine letzte solche „Denkhilfe“, auf die ich in diesem „Teil IV“ meiner „Paradigmen theologischen Denkens“ nun abschließend noch näher eingehen will, ist die Grundlegung und Formulierung einer neuen „nicht-dogmatischen“ Glaubensperspektive, die Jeffrey W. Robbins in seinem 2004 erschienenen Buch „In Search of a Non-Dogmatic Theology“ zu entwickeln versucht hat. Robbins „Search“ nach einer auch nachtheistisch plausiblen „Non-Dogmatic Theology“ bietet m.E. einen weiteren Ansatz, wie eine neue Theologie „nach dem Tode Gottes“ - jenseits eines metaphysischen „absolute naming“ (Altizer) von Transzendenz oder Immanenz und eines nachmetaphysischen „end of theology“ überhaupt (Taylor) - möglich sein und aussehen könnte. Damit gibt sie mir die Möglichkeit, meine Gedanken insbesondere von Teil „6. Komplextheologisches Denken und Thomas J. J. Altizers Theologie des ‚Todes Gottes‘“ nochmals anders fortzuführen und zu vertiefen.

„This book is … in search of a non-dogmatic theology“, leitet Robbins sein Buch ein, „a search for a way of thinking that is both concrete and critical, that is both historically rooted and responsibly engaged with the contemporary issues and currents in religious and philosophical thought. This book is a search for a more ecumenical theology that speaks from and to the multiple faiths and contesting values that constitute our all-too-human identities as selves-in-community and communities in conflict. It is a search for a more pragmatic theology that lives in response to the realities of cultural and religious pluralism. It is a seeking out of horizons, a stammering towards a language, an engendering of a dialogue. Finally, it is an admission that a relevant theology must be one that rethinks itself according to an altered and always altering epochal consciousness …“[41].

Unsere „contemporary world“ stellt, so Robbins, „the vability and value of theology“ vielfach in Frage. „(T)here are many who have argued for the ‚end of theology‘, making the claim that theological thinking belongs to a past age … and that the death of God renders theological thinking anachronistic.“[42] Gegen diese Infragestellungen will Robbins ein neues, nicht-dogmatisches Verständnis theologischen Denkens entwickeln, das, obwohl „deconstructed by the death of God puts itself back together again – or better yet, discovers the distinctive promise of a broken-apart theology for an always fragmented world“. Dabei ist für Robbins nicht jede Form theologischen Denkens heute noch zu plausibilisieren, sondern es kommt darauf an, dass theologisches Denken ein „certain level of complexity“ entwickelt, das der Wirklichkeit unserer „mixed-up world“ Rechnung trägt[43], und dabei nach allen Seiten offen, suchend und tastend bleibt.

Die Worte einer nicht-dogmatischen Theologie, wie Robbins sie sucht, „live and breathe by their inadequacy, for they only propel the search for a more sufficiently complex language befitting a violently intense world. Theological thinking remains viable and valuable because the world in which we live still makes a claim on us, and demands our best and most thoughtful response.“ Aber die heute geforderte theologische Antwort auf die Perplexitäten unserer Zeit muss nicht-dogmatisch sein, „for dogmatism, whether politically or religiously motivated, has proven time and again unable to deliver on its promises of unification and clarification“, und wurde dabei immer wieder auch totalitär missbraucht.[44] „Thus, after the ‚end‘ of this … kind of theology … there is the possibility for a more relevant and more effective kind of theological thinking, … one that desires and demands meaning in the face of both its absence and excess …“, und genau diese neue Art theologischen Denkens möchte Robbins in seinem Buch „more explicite“ machen und seine Konturen ausloten.[45]

Dabei heißt „nichtdogmatisch“ für ihn nicht ohne religiösen Standort und Ausgangspunkt. Es geht ihm gerade nicht um jene Form eines religiösen Pluralismus, die „finally proclaim(s) the structural unity and identity of the world’s religions in spite of their superficial … differences“[46]. Im Gegenteil betont er, dass der konkrete Ausgangspunkt einer nichtdogmatischen Theologie, wie er sie versteht, die bestehende Vielfalt religiöser Überzeugungen und die Anerkennung ihrer Differenzen sein muss, und also das neue theologische Denken, das er sucht, diese Differenzen keineswegs einebnen will, sodern vielmehr „an appropriately complex conceptual language“ entwickeln möchte, „that might do justice to the many differences that draw, pull and tug us in a multitude of directions simultaneously“. Wir müssen heute unter den angebotenen religiösen Möglichkeiten wählen, und in diesem Sinne, wie der Soziologe Peter L. Berger es formuliert hat, „Häretiker“ sein.

Mitten in dieser Vielfalt möglicher religiöser Orientierungen versucht eine nichtdogmatische Theologie nach Robbins einen Prozess der Aneignung und Unterscheidung in Gang zu setzen „that helps“ bei der Aufgabe „of the reconfiguration of ultimate meaning“. Dabei gilt: „The search for a non-dogmatic theology is an admission that there has been a profound shift in the current cultural religious sensibility … that necessitates a changed theological structure.“[47] Die Gültigkeit einer christlich-religiösen Weltdeutung kann darum nicht mehr die unhinterfragte Voraussetzung sein, auf der theologisches Denken beruht. Weder das katholische Traditionsprinzip noch das protestantische Schriftprinzip können heute mehr den legitimen Anspruch erheben, religiöses Denken exklusiv zu normieren, sondern sind in ihrer früheren Absolutheit sowohl wissenschaftlich wie ethisch unwiederbringlich diskreditiert und „thus found themselves in desrepute and in need of an alternative“.[48] In den Jahrhunderten seit dem Beginn der Neuzeit hat der Kontext theologischen Denkens sich vielfach verändert, „beginning with the fragmentation of religious unity and the consequent dispersal of authority wrought by the Reformation, continuing through the interiorization and objectification of religion during the Enlightenment, the displacement of religion during the post-Enlightenment, and now, extending through the further dispersal and pluralization of religion in today’s complex and increasingly interdependend world“.[49]

Die „Wiederkehr der Religion“, von der unsere Gegenwart bestimmt zu sein scheint, ist, so Robbins, „a deeply ambivalent one, indicating not so much a return to a past form of religiosity as much as a scepticism about religious scepticism, a doubt about the doubts about God“[50]. „So, somewhere between the apparent religious revival and … the death of God … lies the cultural condition for our search.“[51] Die „non-dogmatische“ Theologie, die wir aufgrund dieser vielfachen Veränderungsprozesse des Religiösen heute brauchen, ist nicht mehr nur ein „‘faith seeking understanding‘“ wie im Mittelalter, sondern „a faith seeking fluidity in dialogue with other faiths; a fluid, dialogial understanding pressuring the dogmatisms of any single faith“. Eine „nicht-dogmatische“ Theologie, wie sie heute gefragt ist, versucht die fragmentierten „dots of experience“ unserer pluralen religiösen und kulturellen Lebenswelten zu einer kohärenten Linie zu verbinden, „and what makes it non-dogmatic is the realization … that the lines of connection and the picture rendered might always be otherwise, an intrinsic iconoclasm befitting a religiously diverse world“.[52] „And so, a non-dogmatic theology would be but a flash of continuity and coherence, a momentary picture rendered. Fragmentation, dispersal and pluralization – such is the circumscribed condition of contemporary religious thought.“[53]

Die akademische christliche Theologie kämpft dabei heute um ihre Berechtigung angesichts ihrer zunehmenden Verdrängung durch eine scheinbar rein säkulare, konfessionell neutrale allgemeine Religionswissenschaft. Immer wieder wird das Verhältnis zwischen Theologie und Religionswissenschaft von religionswissenschaftlicher Seite aus dahingehend bestimmt, „that the former is marred by its biases and institutional affiliations while the latter is legitmated by its objectivity and intellectual freedom.“ Aber die vermeintlich neutrale Religionswissenschaft kann sich, so Robbins, „theology’s insistence that knowledge is fundamentally limited by the gap between the known and the real“ nicht wirklich entledigen, genauso wenig wie dem theologischen „desire to think the unthinkable and speak the unspeakable“. Es wird immer einen theologischen Überschuss gegenüber der bloßen Religionswissenschaft geben, weil „theology speaks of the infinite overflow that makes any measure incomplete“, auch wenn die Theologie dieses „element of beyond“ und diesen „call of the Other“ heute nicht mehr fundationalistisch durch Berufung auf übernatürliche Offenbarungsquellen artikulieren kann, die eine „apodictic certainty“ garantieren würden.[54]

Die Funktion theologischen Denkens gegenüber jeder Form vermeintlich neutralerer religionswissenschaftlicher Analyse „can be seen“, so Robbins, „as the preservation“ der Frage nach einem transzendierenden „value beyond measure“[55]. Theologisches Denken würde so verstanden die „unmögliche“, aber dennoch nicht eliminierbare Aufgabe haben „of thinking to the Other, a task always in process and ever tentative, a task before beginning and without end“[56]. Theologie stünde dann für eine fundamentale Infragestellung aller menschlichen Welterklärung, eine Methode des Fragens „that questions the legitimacy of any and all methodologies, necessarily including its own“; sie wäre „a discource of discomfort by its making strange the tradition of its discourse“, „a thinking that thinks to the Other“, ein „desire to know“, auch wenn das, was sie zu wissen begehrt, immer unwissbar bleibt, und darum ein Diskurs an der Grenze jeder Entscheidbarkeit, der „decidedly undecided“ bleibt, und immer „from and in the midth of its uncertainty“ spricht.[57]

Der transzendente Horizont, auf den der theogische Diskurs jedes menschliche Denken, sein eigenes eingeschlossen, weist, „remains outstanding, never yet realized except as longing“, ein unerfülltes Versprechen, „a perpetual game of hide-and-seek as it simultaneously raises its hopes and exposes its lack“. Der theologische Diskurs, der auf das „Andere“ in allem scheinbar „Gleichen“ weist, „is a discourse that deconstructs itself because no language speaks the language of God“ [58]. „Theology, in and through language, is the taking on of the infinite responsibility of that which is beyond measure“; Theologie steht darum gegen jede Form von Religionswissenschaft immer für den nie verrechenbaren Horizont des „Anderen“, ist ein jede methodische Sicherung des seinem Wesen nach niemals zu Sichernden sprengender „account of unaccountability“. „In other words, when the value is the Other, the measure is immeasurable and theology remains otherwise than Religious Studies.“[59] Theologie bleibt gegenüber der Religionswissenschaft in diesem Sinne immer zugleich unmöglich und unverzichtbar: „So long as theology strives to speak the voice of the other, it is destined to fail, but it is precisely in that failure that theology finds its urgency.“[60]

Eine solche konsequent jede dogmatische Sicherung dekonstruierende und eben dadurch den Raum für den Einbruch des „Anderen“ in unsere Welt des „Gleichen“ offen haltende „undogmatische“ Theologie wird auch Barths theologische Religionskritik und Bonhoeffers Rede von einem „religionslosen“ Christentum positiv integrieren können, ohne deshalb das Phänomen menschlicher Religiosität insgesamt theologisch zu diskreditieren, oder das theologische Fragen seiner religiösen Verwurzelung zu entfremden. Sie interpretiert Barths und Bonhoeffers „form of theology without religion“ als die Suche nach einem mündigen theologischen Denken, das „exposes the godlessness of the world“ und zugleich „thrusts one into the flux of one’s times“[61]. Aber ein splches Denken wird menschliche „Religion“ nicht theologisch ungeklärt und umgekehrt theologisches Fragen nicht religiös indifferent sein lassen, „simply because the loss of theology might spell the loss of religious vitality, and the ‚return of the religious‘ must find its accompaniment in the theological desire for an intensity of life and a resposibility of thought“. Anders gesagt: „To have one‘s hope in the world, in spite of the world for the sake of the world – this is the legacy of a genuine theology with or without religion.“. Eine solche Theologie wird zugleich religionskritisch und religionsbezogen sein, denn „religion needs theology as much as theology needs religion“.[62]

Welche inhaltliche Gestalt eine solche „nichtdogmatische“ Theologie nach dem Ende der alten metaphysischen Gewissheiten heute annehmen könnte, erkundet Robbins dann weiter v.a. im Gespräch mit Kant, Heidegger, Derrida, Marion und Caputo, aber auch mit anderen aus seiner Sicht richtungsweisenden theologisch-philosophischen Denkern der Moderne und Postmoderne. Schon Kant hatte der dogmatischen theologischen Metaphysik, die er überwinden wollte, keinen ebenso dogmatischen Atheismus entgegengesetzt, sondern im Gegenteil mit seiner Bestimmung der Grenzen möglicher Vernunfterkenntnis gerade neuen „Platz für den Glauben“ schaffen wollen, der einen dogmatischen Atheismus ebenso ausschließt wie einen dogmatischen Theismus. Diese Bewegung bestimmt insgesamt auch Robbins „search for a non-dogmatic theology“: sie lebt aus der Überzeugung „that what at first glance might appear as being purely critical might also be read constructively, that a non-dogmatic theology is not the rejection of dogmatism, but its deconstruction“, weil sie die dogmatischen Überlieferungen der theologischen Tradition nicht einfach verwirft, sondern so reinterpretiert, dass sie durch ihre kritische Dekonstruktion gerade ein „renewal“ und eine „reinvigoration“ erfahren.[63]

Eine dekonstruktive Interpretation biblischer Verheißungen setzt ihr auch heute transformatives Potential also gerade frei: „the biblical story of promise is a retrospective one, an indication of a future hope grounded in a story of past deliverance. And as a retrospective, it is also a construct, but this is not to diminish its actual power in the construction of meaning and the making of sense. In fact, we might think of it as the actual root of meaning and logic of sense.“[64] Das „Ende der großen Erzählungen“ (Lyotard) ist gerade nicht das Ende sinnkonstituierender Geschichten überhaupt, bedeutet im Kant’schen Sinne das Ende von „Wissen“, aber nicht von „Glauben“: „(T)he incredulity toward metanarratives that Lyotard describes does not invalidate belief; far from it, for it is precisely such incredulity that heightens the awareness of the role stories play in the making of meaning and the logic of sense“. Es gibt nicht mehr eine einzige große und absolute Erzählung, aber viele kleine und relative Erzählungen, die uns Hoffnung und Sinn vermitteln - und eine „nichtdogmatische“ Theologie ist darum nicht mehr Auslegung nur einer einzigen großen Totalerzählung, sondern „rather the critical reflection on a whole multitude of beliefs and the plurality of religions, all of which do not necissarily cohere, and may even conflict“.[65]

Diese neue Pluralität ihrer Bezugsgrößen ist zugleich Potential und Grenze für die „nichtdogmatische“ Form theologischen Denkens, die Robbins sucht: „As a consequence, the theological reflection on a multiform faith cannot be the straightforward explication of a simple truth. It must be both more and less than that. More in the sense of its expansiveness, its attempt to account for the more of sense … More in the sense of doing justice to the intrinsic mystery, complexity, and ambiguity of faith, … the passion for the impossible. But less in the sense of caution against saying too much, of confusing knowledge with belief, of making an idol out of God, and of reducing theology to its dogmatic content.“[66] Eine „nichtdogmatische“ Theologie ist also im Blick auf die Werte der religiösen Traditionen zugleich affirmativ und transformativ, denn „the search for a non-dogmatic theology proceeds only in and through the varieties of religious (un)belief. But in the theological process, beliefs are inevitably changed and perspectives altered. … This is the promise of a non-dogmatic theology for this age of postmodern pluralism – a promise that is already, but not yet, and never fully, satisfied.“[67]

Mit diesen weiterführenden Gedanken scheint mir die Besprechung von Robbins Buch insgesamt ein guter Abschluss dieses IV. Teils meiner „Paradigmen theologischen Denkens“ bzw. ihres „Postskripts“ zu sein, weil Robbins in seiner „search for a non-dogmatic theology“ viele der Fäden, die ich hier zu weben versucht habe, in anderer Weise ebenfalls aufgreift und weiterführt. Robbins Buch zeigt auf seine Weise, dass das Ende des dogmatischen Theismus, auch in seiner Radikalisierung durch Nietzsches Proklamation des „Todes Gottes“, zwar das Ende jeder „starken“ Theologie des „absoluten Benennens“, aber kein Ende theologischen Denkens überhaupt sein muss, jedenfalls wenn es als nichtdogmatisches, tastendes „thinking to the Other“[68] rekonstruiert und refiguriert wird, das „from and in the midth of its uncertainty“ spricht[69], und eben dadurch die Gottesfrage auch nach dem Ende der alten theistischen Gotteskonzepte offen hält.

Eine gewisse Schwäche von Robbins Buch ist vielleicht, dass es im Blick auf konkrete inhaltliche theologische Aussagen über eine heute plausible religiöse Interpretation von „Gott“, „Mensch“ und „Welt“, die diesem nichtdogmatischen „thinking to the other“ korrespondieren könnten, etwa was eine heute sag- und tragfähige Rekonstruktion des Gottesgedankens selbst über seine formale Korrelation mit der Dimension von Alterität hinaus angeht, noch recht ungefähr und vage bleibt. Hier erscheinen mir etwa Taylors Rekonstruktion des Gottesgedankens in Richtung auf die theologische Deutung der als „immanente Transzendenz“ gedeuteten „emergent creativity“ am (Ab-)Grund der Wirklichkeit, oder Kaufmans differenzierte Inbeziehungsetzung von „Gott“ und dem „Geheimnis“ der Aktivität einer „serendipitous creativity“ in, mit und unter den emergenten Prozessen von Welt, Humanität und Liebe schon inhaltlich weiterentwickelt zu sein.

Einen eigenen konkreteren Vorschlag in diese Richtung hat Robbins jüngst gemeinsam mit Clayton Crockett in ihrem neuesten gemeinsam verfassten Buch „Religion, Politics, and the Earth“ von 2012 unternommen, in dem die beiden Autoren eine eigene „materialstische“ Rekonstruktion theologischen Denkens auf der Basis des Gedankens von „energy transformation“ versuchen, ein theologischer Ansatz, der nach Crockett und Robbins „takes seriously the material and physical world in which we live“, ohne einem „crude consumerist materialism“ oder einem „reductive atomic materialism“ Vorschub zu leisten: „Energy itself is not reductive matter but resonates with ‚spirit‘ and ‚life‘“[70]. Insofern kann gerade die dynamische Metapher von kosmischer „Energie“ eine wichtige Spur für eine heute plausible Rekonstruktion auch des Gottesgedankens sein, weil auch in unserer postmodernen, nachtheistischen Welt „‘the words religion and God remain … the most appropriate names …‘ for giving expression to the sense of ultimacy and ineluctable mystery and tragic horror from which our experience knows no escape“.[71]

Dieses letzte Buch bedarf sicherlich noch einer weiteren Rezeption im Rahmen meiner Gesamtüberlegungen, die ich aber in diesem IV. Teil meiner „Paradigmen theologischen Denkens“ nicht mehr ausführlicher leisten kann. Insofern bleibt es hier in dieser Hinsicht bei der Richtungsanzeige, die Robbins mit seiner „search for a non-dogmatic theology“ konturiert hat, und bei seiner darin entwickelten Vision eines neuen theologischen Denkens, das, obwohl „deconstructed by the death of God puts itself back together again – or better yet, discovers the distinctive promise of a broken-apart theology for an always fragmented world“[72] eine Vision, die, meine ich, auf ihre Weise zeigt, wie ein „dritter Weg“ „anatheistischen“ Denkens, um den es mir in meinen „Paradigmen“ insgesamt geht, jenseits eines „absolute naming“ des Göttlichen in der Welt (sei es transzendent oder immanent gedacht) und dem Verzicht auf jede „Benennung“ von Spuren Gottes bzw. von Alterität und „immanenter Transzendenz“ in unserer Gegenwart überhaupt Gestalt und Kraft gewinnen könnte.

Anmerkungen

[1]    Vásquez, More than Belief, 3

[2]    Vásquez, More than Belief, 6

[3]    Vásquez, More than Belief, 5

[4]    Vásquez, More than Belief, 174

[5]    Vásquez, More than Belief, 31

[6]    Strausberg, Vásquez, a.a.O.

[7]    Vásquez, More than Belief, 60

[8]    Vásquez, More than Belief, 125

[9]    Vásquez, More than Belief, 60

[10]   Vásquez, More than Belief, 125

[11]   Vásquez, More than Belief, 59

[12]   Vásquez, More than Belief, 13

[13]   Vásquez, More than Belief, 12

[14]   Vásquez, More than Belief, 123

[15]   Vásquez, More than Belief, 204

[16]   Vásquez, More than Belief, 161

[17]   Vásquez, More than Belief, 207

[18]   Vásquez, More than Belief, 12

[19]   Vásquez, More than Belief, 5

[20]   Vásquez, More than Belief, 10

[21]   Vásquez, More than Belief, 5

[22]   Nikkel, Embodiment, 127

[23]   Strausberg, Vásquez, a.a.O.

[24]   Evolution des Göttlichen, 335

[25]   Anatheism, 175

[26]   aus der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, zitiert nach Maslankowski, Kant, 236

[27]   „Alle die Religion betreffenden Schriftauslegungen müssen nach dem Prinzip der in der Offenbarung bezweckten Sittlichkeit gemacht werden … (und) … sind … alsdann nur eigentlich authentisch, d.h. der Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir nur den verstehen, der durch unseren eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also nur durch Begriffe unserer Vernunft erkannt werden kann …“ (Aus dem „Streit der Fakultäten“, zitiert nach Maslankowski, 259) „ aus der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, zitiert nach Maslankowski, Kant, 236

[28]   vgl. sein neuestes, mit Jeffrey W. Robbins gemeinsam verfasstes Buch „Religion, Politics, and the Earth: The New Materialism“, in dem er schreibt: „The challenge for all forms of theology and philosophy over the past few centuries has been to take acount of how our concerns are implicated in our material reality in an undeniable way without succumbing to a reductionist and deterministic materialism.“ (XVI)

[29]   Crockett, Theology of the Sublime, 5

[30]   Vásquez, More than Belief, 12

[31]   vgl. meine Ausführungen hierzu in „Gefeiertes Geheimnis“, 168-174

[32]   vgl. Vásquez, More than Belief, 125

[33]   James, Reality, 39

[34]   vgl. insgesamt Thompson, Mind in Life, s. Literaturverzeichnis, und meine Darstellung seines entsprechenen Ansatzes in „Gefeiertes Geheimnis“, 130f.

[35]   vgl. meine Ausführungen hierzu in „Gefeiertes Geheimnis“, 165-167

[36]   vgl. „Gefeiertes Geheimnis“, 165-168

[37]   Palmquist, Perspectival Solution, 1

[38]   Palmquist, Perspectival Solution, 14f.

[39]   Palmquist, Public Square, 240

[40]   zitiert nach Maslankowski, Kant, 260

[41]   Robbins, Search, XII

[42]   Robbins, Search, XIII

[43]   Robbins, Search, XVII

[44]   Robbins, Search, XVIII

[45]   Robbins, Search, XVIIIf.

[46]   Robbins, Search, 4f.

[47]   Robbins, Search, 5

[48]   Robbins, Search, 7

[49]   Robbins, Search, 11

[50]   Robbins, Search, 14

[51]   Robbins, Search, 15

[52]   Robbins, Search, 11f.

[53]   Robbins, Search, 13

[54]   Robbins, Search, 27

[55]   Robbins, Search, 31

[56]   Robbins, Search, 33

[57]   Robbins, Search, 34

[58]   Robbins, Search, 38

[59]   Robbins, Search, 39

[60]   Robbins, Search, 41

[61]   Robbins, Search, 51

[62]   Robbins, Search, 53

[63]   Robbins, Search, 153

[64]   Robbins, Search, 157

[65]   Robbins, Search, 165

[66]   Robbins, Search, 166

[67]   Robbins, Search, 174

[68]   Robbins, Search, 33

[69]   Robbins, Search, 34

[70]   Crockett/Robbins, Religion, Politics, and the Earth, XVI

[71]   Crockett/Robbins, Religion, Politics, and the Earth, 41, unter Aufnahme eines Zitats von Van A. Harvey über die Deutung von Religion nach Feuerbach („Feuerbach and the Interpretation of Religion“, Cambrdge 1995); zum möglichen Potential der Verwendung des Bildes von „Energie“ als Grundmetapher für eine heute plausible Rekonstruktion des Gottesgedankens vgl. auch meine diesbezüglichen Überlegungen in „Gefeiertes Geheimnis“, 138-140

[72]   Robbins, Search, XVII

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/84/sts08.htm
© Stefan Schütze, 2013