Ein Vierteljahrhundert

Vorstellungen ausgewählter Videoclips XXXIX

Andreas Mertin

Wie „Rayuela“ von Julia Cortázar[1] kann man auch den folgenden Text nach verschiedenen Abläufen lesen: in der Chronologie der geschilderten Videos (19861999200220092012), in der Chronologie der Annäherung des Autors an die Videos (12345) oder nach der Logik der Echternacher Springprozession: ausgehend vom Kern des Geschehens, dann einen Schritt zurück und im folgenden zwei Schritte vor (Shania TwainRobert PalmerPennyBritney SpearsMultifemale). Die Textfolge schreibe ich so, wie mir die Videos begegnet sind.


1.    Penny (2009)

In der dritten Episode der dritten Staffel von The Big Bang Theory aus dem Jahr 2009 (deutsche Erstausstrahlung 2011) kommt Sheldon morgens in die Küche und trifft dort auf Penny, die nach einer Nacht mit Howard French Toast anfertigt und dabei zu einer Musik aus dem Radio tanzt. Als sie Sheldon sieht, sagt sie zu ihm: Komm Sheldon, tanz mit mir! Sheldon erwidert knapp: Nein!, stellt das Radio aus und sagt dann: „Ich glaube an die Theorie der parallelen Universen und dass es unendlich viele Sheldons in unendlich vielen Welten gibt - aber ich weiß auch, dass in keiner von diesen Welten Sheldon tanzt.“ – „Und hast Du in irgendeiner dieser Welten Spaß?“ fragt Penny ironisch zurück. (Dass Penny dabei ausgerechnet „Arme Ritter“ herstellt, ist natürlich nur im Deutschen oder Englischen witzig, weniger im Amerikanischen).

Die Musik, zu der Penny in einem Herrenhemd tanzt, stammt von Shania Twain und trägt den Titel „Man! I feel like a woman“. Das Textfragment, das wir während der Penny-Szene im Radio hören, lautet: Wanna make some noise - really raise my voice / Yeah, I wanna scream and shout / No inhibitions - make no conditions / Get a little outta line / I ain't gonna act politically correct”. An anderer Stelle, auf die sich die Inszenierung in “The Big Bang Theory” natürlich auch bezieht, heißt es im Liedtext: “Oh, oh, oh, go totally crazy - forget I'm a lady / Men's shirts - short skirts / Oh, oh, oh, really go wild - yeah, doin' it in style”.

Eine der Wiederholungen dieser Staffelfolge war für mich jedenfalls der Anlass, mir einmal die Visualisierung der musikalischen Vorlage für dieses Intermezzo anzuschauen, also das Video zu Shania Twains 1999 erschienenem Hit.


2.    Shania Twain - Man! I Feel like a woman (1999)

Shania Twain ist Crossover-Künstlerin im Country-Pop-Segment mit vielen Hits in der internationalen Szene (u.a. “That don’t impress me much”, “Don’t be stupid” und eben “Man! I feel like a woman”). Wenn man das Lied zum ersten Mal hört, bewundert man sie allein schon für die Tatsache, dass sie das Wort „prärogativ“ völlig unironisch im Text des Refrains untergebracht hat: The best thing about being a woman / Is the prerogative to have a little fun.

Der Blick auf das unter der Regie von Paul Boyd entstandene Musikvideo (wenn ich es recht sehe, hat Boyd bisher acht Musikvideos für Shania Twain gemacht), zeigt eine äußerst reduzierte Bühneninszenierung: die Sängerin im schwarzen Dress vor einem dunkelroten wolkigen Hintergrund, neben bzw. hinter sich fünf männliche Models. Schnell fällt auf, dass die Models sicher keine Musiker sind, betont unprofessionell schlagen sie mehr gegen ihre Instrumente als dass sie sie spielen würden. Im Verlauf des Clips entledigt sich Twain der steifen Kleidung und damit der auferlegten Begrenzung, aber bleibt dabei stilvoll: “Oh, oh, oh, go totally crazy - forget I'm a lady / Men's shirts - short skirts / Oh, oh, oh, really go wild - yeah, doin' it in style”. Die englische Wikipedia informiert uns darüber, dass es zahlreiche Coverversionen und vor allem Anspielungen auf dieses Stück gegeben hat, u.a. von Britney Spears im Kinofilm „Crossroads“ (Not a girl). Und nicht nur die Wikipedia verweist darauf, dass es sich bei der Videoinszenierung um eine Art Videoresponse handelt, „a gender-flipped parody of Robert Palmer’s classic clip “Addicted to Love”[2].


3.    Britney Spears: Crossroads (2002)

Eine kurze Anspielung auf das Lied Man! I Feel like a woman findet sich in dem weitgehend verrissenen Kinofilm „Crossroads“ mit Britney Spears. Diese trifft nach längerer Zeit ihre Freundinnen wieder und macht sich mit ihnen auf eine spontane Reise mit dem Auto. Dabei schalten sie das Radio an und hören Shania Twains Lied und singen kichernd mit. Man hat dabei nicht das Gefühl, als ob sie verstehen, was sie da singen, eher das einer unendlichen Distanz zum ausgedrückten Lebensgefühl. Das kommt auch im zentralen Lied des Kinofilms zum Ausdruck, mit dem sich die Protagonistin schlussendlich durchsetzt: „I'm not a Girl – Not yet a Woman“.[3]


4.    Robert Palmer – Addicted to love (1986)

Der 1986 entstandene Clip zu Robert Palmers Stück „Adiccted to love“ ist ein Stück Videoclipgeschichte. Seine visuelle Umsetzung ist sehr reduziert und auf den Kontrast des Sängers zu den ‚Musikern‘ bezogen. In den Worten des Artikels der Wikipedia: „Das Musikvideo zu Addicted to Love wird als „legendär“ bezeichnet, es sei nicht nur auf die Persönlichkeit von Robert Palmer zugeschnitten gewesen, sondern habe ihn ‚unsterblich‘ gemacht. Regie führte Terence Donovan. Das Video zeigt Palmer vor einer Gruppe von attraktiven, sexy angezogenen und geschminkten Models. Palmers Image in dem Video wird als eines der kultigsten Auftritte der 1980er-Jahre angesehen. Es lebt von dem Kontrast zwischen den Geschlechtern, auf der einen Seite Robert Palmer als moderner Casanova und auf der anderen Seite die Gruppe attraktiver Mannequins, die so tun, als würden sie als Begleitband auf ihren Instrumenten spielen.“ Es gab auch kritische Einwände gegen das Video, weshalb Palmer zu reagieren gezwungen war: „Bereits kurz nach dem Erscheinen der Single und des Videos betonte Robert Palmer, dass weder das Lied noch das Video chauvinistisch seien, vielmehr habe er dem für die zeitgenössische Popkultur typischen ‚jugendlichen Zauber und Sinnlichkeit‘ ein Denkmal setzen wollen.“ Das klingt angesichts des Videos wenig überzeugend. Aber es verdeutlicht, worauf Shania Twain reagiert und was sie vertritt: das weibliche Empowerment.


5.    Multi-Femal „Man! I Feel like a Woman“ (2012)

Anhand eines für das Medienzeitalter beinahe schon uralten Stückes die Tendenzen der Zeit einzufangen ist eine Kunst. Das folgende Stück kompiliert zu Shania Twains Man! I Feel like a Woman Ausschnitte aus jenen Fernsehserien der letzten 15 Jahre, die rollenprägend für eine Generation geworden sind. Es ist erkennbar eine postfeministische Generation, die sich hier artikuliert, eine Generation, die zeigt, wohin das von Shania Twain intendierte weibliche Empowerment geführt hat. Die Produzenten nennen folgende Serien, aus denen sie Ausschnitte verarbeiten: 90210, Accidentally on Purpose, Castle, Charmed, Chuck, Covert Affairs, Dawson's Creek, Desperate Housewives, Drop Dead Diva, eelG, Gilmore Girls, Gossip Girl, Hart of Dixie, How I Met Your Mother, Life Unexpected, Lipstick Jungle, Nikita, One Tree Hill, The Big Bang Theory, Ugly Betty. Dabei dürfte Charmed die älteste Serie sein, Covert Affairs vielleicht die jüngste. Interessant ist natürlich auch, welche erfolgreichen US-Fernsehserien nicht vorkommen, insbesondere jene, die Rollenklischees transportieren oder eben keine jungen Frauen zeigen, die ihr Leben nach eigenen Plänen gestalten. Shania Twains Man! I Feel like a Woman kann jedenfalls für sich in Anspruch nehmen, etwas vom Zeitgeist eingefangen zu haben.


Postskriptum I

Meine persönliche Lieblings-Coverversion von „Man! I feel like a woman“ stammt von Jessie James im Rahmen ihres Auftritts in der Bing Lounge am 13. April 2012. Aber da das kein expliziter Videoclip ist, fällt es etwas aus der hier vorzustellenden Reihe. Trotzdem ist das Ergebnis betrachtenswert (am Besten direkt zu 2m21s vorspringen): http://www.youtube.com/watch?v=RhlU2C8JoMk

Postskriptum II

Bei den im Netz kursierenden Cover-Versionen von Paula Fernandes habe ich erst nicht glauben wollen / können, dass es die gleiche Künstlerin ist, die das performt. Hier zum Vergleich die Versionen von 2011, von 2012 und von 2014. Ein größerer Unterschied zu Shania Twain ist (in allen drei Versionen) kaum denkbar!


Anmerkungen

[1]    Cortázar, Julio (1983): Rayuela. Himmel-und-Hölle ; Roman. 2. Aufl… Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[3]    Britney Spears erhielt 2003 zweimal die Goldene Himbeere, einmal für ihre Rollendarstellung (schlechteste Hauptdarstellerin) und für ihr Lied (schlechtester Filmsong). Aber immerhiun war sie in guter Gesellschaft, Madonna bekam in jenem Jahr gleich drei Goldene Himbeeren.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/85/am454.htm
© Andreas Mertin, 2013