Wozu geht der Theologe ins Kino?


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Hochkultur und Schlager

Reflexionen zwischen zwei Zitaten Bertolt Brechts

Andreas Mertin

„Herr Keuner sah irgendwo einen alten Stuhl von großer Schönheit der Arbeit und kaufte ihn. Er sagte: Ich hoffe auf manches zu kommen, wenn ich nachdenke, wie ein Leben eingerichtet sein müßte, in dem ein solcher Stuhl wie der da gar nicht auffiele oder ein Genuß an ihm nichts Schimpfliches noch Auszeichnendes hätte.“[1]

Nach meinem Aufruf gegen fromm polierte Schnulzen im letzten Heft gab es unterschiedliche Reaktionen, positive wie kritische. Als „Gefangenen des hochkulturell/kritischen Milíeus“ vermutet mich Werner Busch in seinem Blog zur Reformationsdekade und meint, ich wäre der Schlagerkultur gegenüber intolerant, weil ich sie für binnenkirchlich nicht tolerabel hielte.[2] Tatsächlich bin ich ersteres nicht und letzteres tatsächlich, denn ich halte den deutschen Schlager für eine Form der Sünde, wenn auch in einem katholischen Sinn für eine lässliche.[3] Ein Gefangener eines wie auch immer bestimmten hochkulturellen Denkens[4] bin ich dagegen schon deshalb nicht, weil ich ihm nicht entstamme, sondern mich in einem biographischen Prozess ihm zugewandt habe und gleichzeitig weiterhin ausgiebig die populäre Kultur studiere und reflektiere.[5]

Kultur als ein ausdifferenziertes Angebot sinnlicher Reflexion[6] ist etwas, was uns von anderen Wesen unterscheidet. Als der Mensch vor über 40.000 Jahren zum ersten Mal Mitglieder seiner Gruppe freigesetzt hat, die sich nicht mehr um den reinen Überlebenskampf kümmern mussten, sondern Kultur schaffen konnten, schuf er nicht ein Gefängnis und auch keinen Luxusbezirk für die Happy Few, sondern eine Perspektive für eine bessere Gesellschaft; ein damals noch anachronistisches, utopisches Zeichen dafür, dass es auch anders geht als das ewige „Fressen und Gefressen werden“ und die Anpassung an die Lebensumstände.

Freilich ist man mit der Zuwendung zur Hochkultur keinesfalls automatisch in einer besseren Gesellschaft, sondern befindet sich im besten Fall im ersten Kreis der Hölle.[7] Die Zuwendung zur Hochkultur macht niemanden zu einem besseren Menschen, sondern zeigt nur, dass man sich nicht befrieden lassen will von einer „Unterdrückungs- und Verblödungsmaschinerie, wie sie Adorno sich in seinen schrecklichsten Albträumen nicht hätte ausmalen können“.[8] Georg Seesslen, ausgewiesener Kenner nicht nur des Kinos, sondern auch der weiteren Populärkultur und der Volksmusik, hat dementsprechend jüngst das Phänomen Andrea Berg analysiert und schreibt:

„Der Rhythmus: Stumpfa-stumpfa-stumpfa. Ein Ballermann-Disco-Rhythmus. Die Melodie: Das alte Schlager-Modell, skelettiert zur Modern-Talking-Schlichtheit. Die Produktion: Zu viel ist nie genug. Der Sound: Wie in der volkstümlichen Musik werden kindliche Instrumente elektronisch aufgepimpt, irgendein Klavier oder eine Harfe schmiert Bedeutung über das gnadenlose Geschunkel. Die Stimme: Ein schiemlich schweres Sch manchmal, anschonschten keine weiteren Beschonderheiten. Keine Höhen, keine Tiefen, keine Stimmungswechsel ... Die Botschaft von der Frau, die nichts anderes als den Mann will, wird uns buchstäblich eingehämmert. Und an solchen Punkten pflegt Unterhaltung in Ideologie umzuschlagen.“[9]

So ist es. Ich verstehe die Kollegen, die meinen, man müsse die Zuhörer dort abholen, wo sie stehen und dürfe ihnen nicht eine fremde Kultur aufdrängen, die sie nur verstört. Es ist und bleibt aber ein deutlicher Unterschied, ob man dem Volk aufs Maul schaut[10] oder ihm nach dem Mund redet. Der Unterschied ist der zwischen dem „Wie“ und das „Was“. Wie das Volk redet soll man durchaus schauen, um das theologische Anliegen angemessen dolmetschen zu können, aber was man zu sagen hat, sollte davon nicht abhängig gemacht werden.

Wer dem Schlager das Wort redet, der will aber nicht nur Koine als Sprache des Volkes, sondern er will all jene theologischen Variationen, die sich in der Anpassung an den Magie-Glauben des Volkes in den Jahrhunderten danach im Protoevangelium des Jakobus oder dem Pseudo-Matthäus-Evangelium niedergeschlagen haben. Er will ein anderes Evangelium vom treuen frommen Herzen, eines das Martin Luther immer abgelehnt hat.[11] Man kann auf den Hessentagen mit ihren Traum-, Lichter-, Wasser- und Rosenkirchen diese Transformation, um nicht zu sagen Verballhornung des Christentums gut studieren.

Ich traue freilich der Volksorientierung der ‚Schlager-Fuzzis‘ (Udo Lindenberg) unter den Theologenkollegen nicht. Sie meinen es nicht gut mit dem Volk. „Im Interesse des Volkes“ war immer ein Programm der Herrschenden, ihre Herrschaft zu erhalten, indem man Brot und Spiele für das Volk veranstaltete. Ich sehe nicht, wo der Schlager irgendwann einmal in den letzten 60 Jahren andere als herrschaftsstabilisierende und die Menschen in ihrem Elend belassende Qualitäten entwickelt hat. Back to the roots heißt beim Deutschen Schlager: Zurück in die 50er-Jahre, lange bevor die 68er damit begonnen haben, die Welt zu zersetzen.

Wie sollte sich auch eine Prophetie eines Jesaja, eines Amos, eines Hosea, wie das Ringen Hiobs mit den Klischees der Schlagerbranche verbinden? Noch das Liebesgeflüster im Hohelied wirkt mit seinem Plädoyer für die voreheliche Sexualität revolutionär gegenüber dem widerlichen Sexual-Kitsch des Schlagers: Lass mich in Deinem Wald der Oberförster sein.

Wenn allerdings der Protestantismus weiter wie das Judentum eine Bildungsreligion sein soll, dann gehört die Förderung von Bildung und Kultur zu den Elementarbedingungen seines Auftretens.[12] Dann ist es eben nicht gleich-gültig, ob das Material mit dem wir verkündigen, in einem angemessenen Verhältnis zu dem steht, was wir verkündigen. Denn nicht jede Melodie entspricht dem Evangelium und schon gar nicht jeder Text. Selbstverständlich kann man Elemente des Schlagers im Gottesdienst thematisieren, weil dieser auch in der Lebenswelt eines bestimmten Milieus von Kirche eine Rolle spielt. [Ich bezweifle allerdings stark, dass dieses Milieu ernsthaft daran interessiert ist, die Schlager dann auch noch im Gottesdienst zu hören. Wenn der Schlager zum Eskapismus gehört, möchte man ihm in der Kirche gerade nicht begegnen. Dort bestehen Angehörige des traditionellen Milieus gerade auf einer klaren Botschaft des Evangeliums.] Aber darum geht es hier nicht. Kontrovers ist vielmehr, ob der Schlager eine liturgische Funktion bekommen kann. Und hier sehe ich nur Widersprüche zur biblischen Botschaft.

Das eingangs verwendete Zitat von Bert Brecht aus den Geschichten von Herrn Keuner geht noch weiter und wendet sich dem Schlager zu. Was wäre, so lässt Brecht fragen, wenn man sich vom Schlager leiten ließe? Kein Problem, antwortet Herr Keuner, wenn wir uns in einer Gesellschaft bewegen würden, die schon ein gutes Leben führt, denn dann bräuchten wir keine Orientierungsmarken und keine weisen Ratschläge mehr:

»Einige Philosophen«, erzählte Herr Keuner, »stellten die Frage auf, wie wohl ein Leben aussehen müßte, das jederzeit in einer entscheidenden Lage vom letzten Schlager sich leiten ließe. Wenn wir ein gutes Leben in der Hand hätten, brauchten wir tatsächlich weder große Beweggründe noch sehr weise Ratschläge und die ganze Auswählerei hörte auf«, sagte Herr Keuner, der Anerkennung über diese Frage voll.[13]

Vielleicht, so hat ganz ähnlich Theodor W. Adorno in den Minima Moralia gemeint ... wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt.[14] Noch aber ist es lange nicht so weit, noch brauchen wir als Überlebensmittel die Werke der Hochkultur, die uns zeigen, wie ein Leben eingerichtet wäre, in der es der Differenzierung von Hoch- und Unterhaltungskultur nicht mehr bedürfte. Bis dahin steht das Leben aber unter einem eschatologischen Vorbehalt, der die bewusste Abwendung von dem, was der Mensch mit Vernunft und Bildung zu leisten vermag, nicht angeraten sein lässt.

Anmerkungen

[1] Brecht, Bertolt (1976): Geschichten von Herrn Keuner. In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. [in 20 Bänden], Bd. 12. 101. - 112. Tsd. Hg. v. Elisabeth Hauptmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Werkausgabe), S. 375–415, hier S. 406.

[3] Eine lässliche Sünde liegt im Gegensatz zur Todsünde vor, wenn es sich nicht um eine gewichtige Sache handelt, man sich des Bösen nicht voll bewusst war und die Tat nicht völlig freiwillig geschah (es lag innerer oder äußerer Zwang vor). [wikipedia] All das trifft meiner Einschätzung nach für den Schlager und seine Ideologie zu. Vgl. auch den Katechismus der katholischen Kirche, Punkt 1863.

[4] Die Sinus-Milieustudien von 2010 und 2013 kennen kein hochkulturell-kritisches Milieu, das sich vermutlich in verschiedene einander ausschließende Milieus zergliedern würde. Präziser wäre daher die Zuordnung zum liberal-intellektuellen Niveau als dem Milieu der aufgeklärten Bildungselite. 

[5] Mertin, Andreas (2013): Was heißt und zu welchem Ende studiert man Pop(ular)kultur? In: Lebendige Seelsorge 64 (3), S. 161–165.

[6] Paetzold, Heinz (1999): Ästhetische Erfahrung als Einheit von Sinnlichkeit und Reflexion. In: Dietrich Neuhaus und Andreas Mertin (Hg.): Wie in einem Spiegel. Begegnungen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik: Haag + Herchen GmbH, S. 87–112.

[7] Solženicyn, Aleksandr I. (1970): Der erste Kreis der Hölle. Roman. [4. Aufl.], [43. - 52. Tsd.]. Frankfurt a.M: S. Fischer.

[8] Seesslen, Georg: Boom - Millionenmal Du. In: Freitag. Online verfügbar unter http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/millionenmal-du

[9] Ebd.

[10] „man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet“ (Luther, Sendbrief vom Dolmetschen).

[11] „Es hat mir ein besonders guter Freund insgeheim gesagt, dass Seine Kurfürstlichen Gnaden in seinem Testament ein ganzes Quäntchen von seinem treuen frommen Herzen zu einer solchen Reliquie bestimmt hat“ Luther in seiner Satire „Heilige Dinge“ in der Neuen Zeitung vom Rhein 1542.

[12]Vgl. Mertin, Andreas (2012): Eine protestantische Sicht auf die Kunst. Zehn Grund-Sätze. In: tà katoptrizómena (77). www.theomag.de/77/am391.htm.

[13] Brecht, Bertolt (1976): Geschichten von Herrn Keuner. In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. [in 20 Bänden], Bd. 12. 101. - 112. Tsd. Hg. v. Elisabeth Hauptmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Werkausgabe), S. 375–415, hier S. 406.

[14] Adorno, Theodor W. (2004): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft). S. 179.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/86/am459.htm
© Andreas Mertin, 2013