Wozu geht der Theologe ins Kino? |
'Wär ich allmächtig, sehen Sie, ich würde retten, retten.'Georg Büchners Auseinandersetzung mit den biblischen Hoffnungen und der GottesfrageHans-Jürgen Benedict Kaum ein Schriftsteller hat sich so intensiv in seinen Werken mit dem, was den Menschen umtreibt, „was ist das, was in uns lügt, mordet und stiehlt“, und darin zugleich mit der Gottesfrage auseinandergesetzt wie der frühverstorbene Georg Büchner.[1] Ob der Hessische Landbote, Dantons Tod, Leonce und Lena, Woyzeck oder die Erzählung Lenz, immer spielen die biblische Sprache und ihre großen Hoffnungen und Enttäuschungen eine Rolle. Sei es dass die Bibelsprache (ebenso wie Volkslied und Märchen) von denen gebraucht wird, die an der Sprache verstümmelt sind wie Woyzeck und Marie, sei es dass die biblischen Gerechtigkeitsforderungen zugunsten der ausgebeuteten Bauern aufgerufen werden wie im Landboten, sei es dass die müden Revolutionäre und klugen Müßiggänger im atheistischen Gestus eine sinnlose Welt beklagen. „Da griff der Atheismus in ihn“, heißt es von dem gemütskranken Schriftsteller Lenz, als er versucht, ein totes Kind aufzuerwecken. Und noch drastischer: „Es war ihm als könnte er eine ungeheure Faust in den Himmel ballen und Gott herbeireißen und zwischen seinen Wolken schleifen.“[2] Oder wie Woyzeck bitter, lakonisch und müde: „Sehen sie her Hauptmann, wir armen Leut, wenn wir den Himmel kämen, ich glaube, wir müssten donnern helfen.“ Aber auch als Gegenbild die Beschreibung der Predigt von Lenz in einem Dorf im Elsass: „Er sprach einfach mit den Leuten; sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf und gequälten Herzens Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte Sein, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte.“ Als Theologe habe ich mich immer von der metaphysischen Unruhe und den Gotteszweifeln angesprochen gefühlt, die Büchners Figuren umtreiben. Es bricht sich sprachlich Bahn, übrigens ähnlich und doch anders gleichzeitig bei Heinrich Heine, was jahrhundertelang zurückgedrängt worden war. Es ist die alte Hiobfrage, wieso der Mensch leiden muss, wieso ein barmherziger und gerechter Gott das Unrecht zulässt. Es ist auch die Frage nach dem deus absconditus, den unter seinem Gegenteil verborgenen Gott, den Bonhoeffer dann in den paradoxen Satz fasst: „Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt.“ Als wir das Thema dieses Vortrags absprachen, war die neue Büchner-Biographie von Herrmann Kurzke noch nicht erschienen Georg Büchner. Geschichte eines Genies, München 2013) in dem er in einer fulminanten Kehre das christliche Urgestein des Büchner-Gebirges in den Mittelpunkt stellt. Kurzke attackiert die orthodoxe Büchner-Deutung, die ihn vor allem als Frühsozialisten und Revolutionär sieht. Dagegen Kurzke: „Für einen Frühsozialismusdiskurs im Werk Büchners gibt es nur wenige belastbare Belege, aber ganze Editionen, Biographien und Monographien leben davon, alles zu diesem Phantasma in Beziehung zu setzen. Auf der anderen Seite ist das Werk Büchners flächendeckend übersät und durchsetzt mit christlichen Anspielungen, Zitaten, Debatten und Textfragmenten. Seinem Urgestein nach ist das Büchner-Gebirge christlich. Man kann dennoch in ihm herumwandern, ohne das zu bemerken, so wie man in einem Waldweg nicht anmerkt, ob er in den Vogesen oder im Schwarzwald verläuft.“ Ulrich Greiner stellte seine Rezension des Buchs in der ZEIT sogar unter den Titel Der Christ. Sicher überzieht Kurzke seine These, auch ist sein Buch für einen wissenschaftlichen Germanisten eine oft merkwürdige Phantasiereise in das Leben eines Genies. Aber er macht zumindest auf etwas in der Büchner-Darstellung oft Übersehenes aufmerksam und damit auf die Relevanz des heutigen Themas. Ich orientiere meine Darstellung des Themas an Büchners fünf Haupt-Werken, erkläre ihren Kontext, zitiere und deute die für das Thema wichtigen Stellen und versuche ein Resümee. 1. Der Weg zum Hessischen Landboten1831 ging Büchner zum Medizinstudium nach Straßburg (im selben Jahr, in dem Heine nach Paris, ins neue Jerusalem emigrierte). In der Tat empfand Büchner die Nähe von religiöser Einstellung und gesellschaftlicher Veränderung besonders in Straßburger Theologenkreisen, in denen er verkehrte, Kreise, die republikanisch und menschenrechtlich orientiert waren. Der religiöse Fanatismus, wie er ihn nannte, spielte eine wichtige Rolle bei seinen revolutionären Überlegungen. Nur das „materielle Elend“ und „der religiöse Fanatismus“, sagt er 1836, können die zwei Hebel sein, die eine Veränderung im Großen bewirken. In einer Diskussion in der Straßburger Studentenvereinigung Eugenia im Juni 1832 vermerkt das Protokoll, dass der deutsche Student Hus, Ravaillac und Sand in eine Reihe stellte. Er entdeckte „eine Gemeinsamkeit zwischen dem böhmischen Reformator, dem katholischen Fanatiker (der Heinrich IV ermordete) und dem burschenschaftlichen Kotzebue-Attentäter“ (Jan-Christoph Hauschild, Georg Büchner, Reinbek 2004, 37), nämlich ein ausgeprägtes sittliches Bewusstsein, das alle drei zu „Märtyrern einer Idee“ werden ließ. Büchner rechnete also mit religiösen Antriebskräften bei sozialen Veränderungen, diese konnten auch menschenfreundlicher sein wie in den Erörterungen mit seinem französischen Bekannten Alexis Muston, mit dem er auf einer Wanderung im Odenwald über „Saint-Simonismus, soziale und religiöse Erneuerung, Weltrepublik, vereinigte Staaten von Europa und andere Utopien diskutierte“ (zit. Hauschild, 46) vielleicht ein wenig in der Art Heines und seines „Ein neues Lied, ein bessres Lied, o Freunde, will ich euch dichten, wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten.“ Die Juli-Revolution in Frankreich hatte zum Sieg des Besitz-Bürgertum, der Geldaristokratie geführt, das zusammen mit dem Bürgerkönig Louis Philippe seinen Aufstieg zur beherrschenden Macht feierte. Leider erfüllte sich nicht, was Heine auf Helgoland hoffte, als er von der Revolution in Paris hörte: „Die Nordsee riecht nach Kuchen“, „das arme Volk hat gesiegt“. „Das Ganze ist doch nur eine Komödie. Der König und die Kammern regieren, und das Volk klatscht und bezahlt“ schrieb Büchner an die Familie. Aber die Zeitläufte waren revolutionär noch aufgeregt in Frankreich, Straßburg war ein Brennpunkt der Folgen der Juli-revolution, die sozialen Probleme verschärften sich es gab Unruhen und Aufstände. Auch strömten viele Flüchtlinge nach Straßburg (Höhepunkt war der Einzug dreier Generale der geschlagenen polnischen Aufstandsbewegung, den Büchner miterlebte). Zurück in Deutschland im Großherzogtum Hessen, im verschlafenen Gießen verschärfte sich sein Eindruck der Notwendigkeit eines gewaltsamen Umsturzes der ungerechten Verhältnisse. In dieser Situation lernte er den Pfarrerssohn August Becker kennen, abgebrochener Student und Anhänger der radikalen Revolution, der ein guter Freund wurde und durch diesen Ludwig Weidig, den Rektor aus Butzbach, ebenfalls ein entschiedener Befürworter eines gewaltsamen Umsturzes. Mit diesem verabredete er die Anfertigung einer Flugschrift und besorgte sich bei ihm eine Statistik des Großherzogtums, aus denen er die notwendigen fiskalischen Angaben seiner antifeudalen Argumentation zu belegen suchte, auf ihrer Grundlage wollte er die unter den Steuern leidenden hessischen Bauern und Handwerkern agitieren. Um zu verstehen, wie es damals in Hessen auf dem Lande aussah, lohnt ein Besuch des Films Die andere Heimat von Edgar Reitz. Ich stelle mir vor, Büchners Flugschrift wäre hier verteilt worden, wie hätten die Bewohner reagiert? Wären sie hier geblieben, um die elenden Verhältnisse zu verändern? Büchner war der Überzeugung, dass der einzige reale Ansatzpunkt für die revolutionäre Agitation des Volkes dessen materielles Elend war. Den Frankfurter Wachensturm durch Studenten und Intellektuelle von 1833, an dem auch Freunde von ihm beteiligt waren, hielt er für verfrüht. Man muss die Bauern erst „aus ihrer Erniedrigung hervorziehen“, man musste daher den Ausbeutungscharakter des Staates aufzeigen, „ihnen zeigen und vorrechnen, daß sie einem Staate angehören, dessen Lasten sie größtenteils tragen, während andere den Vorteil daraus ziehen“ (so Becker im Prozess gegen Weidig, zit. Hauschild 61) „Stil und Metaphorik der Flugschriften sollten sich, so Büchner, am christlichen Mythos orientieren und ‚ihre Überzeugungskraft aus der Religion des Volkes hernehmen‘, denn sie sei ‚der Fels, auf dem man Blutgerüste für die Tyrannen und Altäre für die Freiheit bauen müsse.‘ In den ‚einfachen Bildern des neuen Testaments‘ sollten ‚die heiligen Rechte der Menschen‘ erklärt werden.“ (Hauschild, 63) Das war mehr als eine bloß taktische Maßnahme, die auf die noch religiös geprägten Gefühle der Landbevölkerung Rücksicht nahm. Der christliche Mythos als Fels, das ist der Fels von Golgatha, der einen leidenden Gott trägt (auch „der Fels, auf dem ich stehe“, wie es in einem frommen Lied meiner Jugendzeit hieß- im EG 407), der aber bald zum „Fels des Atheismus“ (so Payne in Dantons Tod) sich wandelt. Büchner selber war von der Wirkkraft des Glaubens überzeugt, wie einer seiner Freunde und frühen Interpreten, Wilhelm Schulz, 1851 sagte; bei Büchner verbanden sich Respekt gegenüber dem „religiösen Gefühl“ als einer Sehnsucht nach dem „Ideal“ (so sein Freund Muston) und gleichzeitig Skepsis gegenüber dessen traditionellen Ausformungen. „Jede Zeile seiner Schriften gibt davon Zeugnis, daß er in seinen religiösen Ansichten und in denen über Religion freier war als irgendeiner. Aber seine durch und durch skeptische Natur ließ ihn auch seinen Zweifel bezweifeln und bewahrte ihn vor jenem Hochmute, der sich mit dem Dünkel der Untrüglichkeit als Dogmatiker der Verneinung dem der Bejahung entgegenstellt. Sein poetischer Sinn ließen ihn unter der Hülle der religiösen Vorstellungen, die ja eine Art Volkspoesie sind, die ewigen Wahrheiten erkennen, welche die Menschen bewegen.“ (zit. Grab, Georg Büchner und die Revolution von 1848, 1985, 61) Diese Haltung entsprach auch der Einstellung Heines, der den religiösen Legenden als einer Form der Poesie seinen ironisch getönten Respekt nicht verweigerte (etwa der Jungfrauengeburt), während Karl Marx in seiner Religionskritik dekretierte, man müsse nur die religiösen Blumen um die das Volk bindende Kette abreißen, dann werde es schon revoltieren. Ein folgenschwererer Irrtum, der sich in der staatlichen Religionsbekämpfung der Sowjetunion bis hin zur Religionspolitik der DDR negativ auswirkte und so letztlich zu ihrem Scheitern beitrug: „Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Gebete und Kerzen“ (so ein Offizier der NVA zu den Leipziger Montagsdemonstrationen). 2. Der Landbote eine fiskalisch unterfütterte Agitation in prophetischem GeistDer Landbote gehört zur Gattung der Flugschriften sie war aus der Reformation und den Bauernkriegen bekannt. Das Neue bei Büchner ist, dass er durch die Aufzeigung des Systemcharakters der Missstände wie durch die Zitierung der mit den Unterdrückten parteilichen biblischen Tradition die revolutionäre Stimmung im Volke weniger anheizen als erkunden wollte. Insofern war der Hessische Landbote so etwas wie eine eingreifende Untersuchung- eine Methode, die auch aus der Sozialarbeit bekannt ist durch eine Gemeinwesenanalyse werden die nachteiligen Verhältnisse den Adressaten bekannt gemacht, sodass sie selber ihre Lage daran erkennen und in einem zweiten Schritt sich möglicherweise aktivieren lassen. Es gelingt Büchner, Statistik und sozialkritische Bibelworte so miteinander zu verbinden, dass die Entfremdung und Ausbeutung der Bauern und Handwerker schreiend deutlich wird. Schon der Beginn ist eine mitreißende Neuerzählung des in der biblischen Schöpfungsgeschichte skizzierten Urzustands: „Im Jahre 1834 sieht es so aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht so aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am fünften Tage und die Fürsten und Vornehmen am sechsten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: ‚Herrschet über alles Getier, das auf Erden kriecht‘, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. (...) das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde verzehren sein Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß das Salz auf den Tischen der Vornehmen.“ Das kernig-realitätshaltige Lutherdeutsch bekommt durch die direkte Übertragung auf die Verhältnisse im Großherzogtum Hessen eine aufrührerische Note. Die Steuerlast, die den landbesitzenden Bauern auferlegt worden ist, „ist der Blutzehnte, der vom Leib des Volkes genommen wird.“ Gleichzeitig wird der Staat, dem nach paulinisch-lutherischer Lehre absoluter Gehorsam geschuldet ist, weil von Gott, entmystifiziert. Der Staat sind alle, er ist eine Ordnung für alle. Der hessisch-großherzogliche Staat aber macht aus der Ordnung einer Ausbeutungsmaschine, macht aus 700.000 Menschen „Ackergäule und Pflugstiere“. Die Ordnungshüter, die Beamten, „ihre Anzahl ist Legion“, sind „seine Hirten, Melker und Schinder des Volkes, sie haben die Häute der Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause, die Tränen der Witwen und Waisen sind der Schmalz auf ihren Gesichtern, sie herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft.“ Die bildkräftige Sprache des Amos, Jesajas und Hoseas, dieser Furor der Propheten wird zu einer Anklage gegen Fürstenherrschaft und Beamtenwillkür, die ihresgleichen sucht in der Geschichte politischer Rede in Deutschland. „In dem Wust von Gesetzen hat sich der Unsinn aller vorigen Geschlechter auf euch vererbt (vgl. dazu Marx), der Druck, unter dem sie erlagen, sich auf euch fortgewälzt, das Gesetz ist nur das Eigentum einer unbedeutende Klasse von Vornehmen und Gelehrten, die sich durch ihr eigenes Machwerk die Herrschaft zuspricht …) die Justiz ist seit Jahrhunderten in Deutschland die Hure der deutschen Fürsten.“ „Wo sind die Gerichtshöfe, die eure Klage über verlorene Menschenrechte annehmen, wo die Richter, die Recht sprächen?“ Die Attacke aufs Militär und seine Soldaten, „die euch den Schädel zerschmettern, wenn ihr zu denken wagt (…) sie sind die gesetzlichen Mörder, welche die gesetzlichen Räuber schützen“, ein Satz, für den man auch noch in der Bundesrepublik vor Gericht gezogen wurde. Und dann die drastische Bildrede vom Fürsten, „der der Kopf des Blutigels ist, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne usw.“ Die Attacke auf das angebliche Königtum von Gottes Gnaden, das von Gott verflucht ist, vom Fürstenmantel als „Teppich, auf dem sich die adligen Damen und Herren in ihrer Geilheit übereinander wälzen usw“ Und schließlich die großartige geschichtstheologische Gegenerzählung von der französischen Revolution, ganz im Stil der deuteronomistischen Theologie. Gott ist letztlich der Akteur aller geschichtlichen Wendungen, von Sieg und Niederlage, von Revolution und ihres Verrats. In seiner Erzählung kommt der Landbote (Büchner) schließlich geschickt auf die Situation in Deutschland nach der Juli-Revolution von 1830 zu sprechen, wo die Fürsten dem Volk Verfassungen hinwerfen, die nichts ändern, alle Gewalt bleibt beim Großherzog, und die Zustimmung der Stände, die er jetzt für neue Gesetze braucht, an die kehrt er sich nicht. Und dann im Gestus des Propheten, der die Zeichen der Zeit zu deuten weiß, ganz wie Jeremia, der den Jerusalem erobernden Nebukadnezar als Knecht Jahwes bezeichnet: „Der Herr, der den Stecken des fremden Treibers Napoleon zerbrochen, wird auch die Götzenbilder unserer einheimischen Tyrannen zerbrechen, durch die Hände des Volks (…) Gott wird euch die Kraft geben, ihre Füße zu zerschmeißen, sobald ihr euch bekehrt von dem Irrtum eures Wandels: daß nur ein Gott ist und keinen Götter neben ihm (…) daß keine Obrigkeit von Gott zum Segen verordnet ist als die, welche auf das Vertrauen des Volk je sich gründet: daß dagegen die Obrigkeit die Gewalt, aber kein Recht über ein Volk hat, nur also von Gott ist, wie der Teufel auch von Gott ist, und daß der Gehorsam gegen eine solche Teufelsobrigkeit nur so lange gilt, bis die Teufelsgewalt zerbrochen werden kann.“ Sätze, die man gerne hundert Jahre später von Christen zur Unrechtsherrschaft Hitlers gehört hatte und nicht die Verbiegungen vieler Theologen, die Hitler lange als von Gott eingesetzte Obrigkeit rechtfertigten! Es ist theologisch faszinierend, was Büchner hier tut: er zieht die Bibel direkt in die Politik - etwa in der Anwendung des Eheversprechens auf den Bund zwischen dem Volk und seiner Sprache, das jetzt in dreißig Stücke zerrissen sei, aber: „Was Gott vereinigt hat, das soll der Mensch nicht trennen.“ Oder in der Deutung des Ephesertextes von den Gewaltigen und Fürsten, die in der Finsternis herrschen, den bösen Geistern unter dem Himmel (Eph 6) als heutige von Gott zugelassene Peiniger der Bürger und Bauern. Geschichtstheologie pur bis zur endzeitlichen Drohung an die Fürsten. „Aber ihr Maß ist voll…Gott, der Deutschland um seiner willen geschlagen hat durch diese Fürsten, wird es wieder heilen.“ Die deutschen Fürsten haben Deutschland zu einem großen Leichenfeld gemacht, aber mit dem Propheten Ezechiel sieht der Landbote, wie die Gebeine sich wieder mit Fleisch und Haut überziehen „Sie wurden wieder lebendig und richteten sich auf ihre Füße.“ Den Entrechten ruft er zu: „Eure Gebeine sind verdorrt, denn die Ordnung, in der ihr lebtet, ist eitel Schinderei.“ „Aber wie der Prophet schreibt, so wird es bald stehen in Deutschland. Der Tag der Auferstehung wird nicht säumen. In dem Leichenfeld wird sich‘s regen.“ Und er verweist auf die große zahlenmäßige Übermacht der unterdrückten 700.000 gegen 10.000. Und in einer aktuellen Anwendung des Schwertworts Jesu bei seiner Verhaftung: „Wer das Schwert erhebt gegen das Volk, wird durch das Schwert des Volkes umkommen. Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, aber bald wird es ein Paradies sein.“ Und nochmals ekstatisch sich steigernd die Schlussverheißungen: „Ihr bücktet euch lange Jahre in den Dornäckern der Knechtschaft, dann schwitzt ihr einen Sommer im Weinberge der Freiheit, und werdet frei sein ins tausendste Glied... Herr, zerbrech den Stecken unserer Treiber und laß dein Reich kommen - das Reich der Gerechtigkeit. Amen.“ Ein ähnlich prophetisch-subversiver Ton wird erst wieder in Heines Die schlesischen Weber und im Kommunistischen Manifest von Marx/Engels auf hohem literarischen Niveau angeschlagen, während bei Hauptmann Die Weber die christliche Frömmigkeit vor allem konventikelhafte Ergebung ins Schicksal bedeutet. Und man muss 130 Jahre warten, um wieder eine ähnlich prophetisch getönte christliche Rede von der Befreiung zu hören, die I have a dream Rede Martin Luther Kings 1963 bei dem Marsch auf Washington, derer Ende August gerade gedacht wurde. Auch hier die Beschwörung der prophetischen Verheißungen des Alten Testaments, die sich steigernden Befreiungsformeln I have a dream, let freedom ring, free at last. Man hat eingewandt, dass Weidig Büchners Entwurf veränderte, stärker mit biblischen Zitaten versah, den Schluss hinzufügte, auch einiges abschwächte, so den Gegensatz zwischen Armen und Reichen, in dem er die letzteren als Vornehme bezeichnete. Aber die Zitierung biblischer Sozialkritik und Befreiungsverheißung trägt Büchners Handschrift, der wie gesagt, von der Wirkkraft religiöser Gefühle im Kampf gegen die herrschenden Mächte überzeugt war. Man könnte vielleicht durch die Untersuchung von Predigten, die im Großherzogtum Hessen zu dieser Zeit gehalten wurde, herausfinden, ob es überhaupt eine agitatorische bzw. aktuelle Verwendung der prophetischen Sozialkritik durch die hessische Pfarrerschaft gab und der Landbote so auf Resonanz bei den Bauern und Handwerkern stoßen konnte. In der Regel war in den Andachtsbüchern und Liedern keine sozialkritische Lesart üblich, sondern ehe die der Vertröstung aufs Jenseits und des Aushaltens der harten Lebensumstände, wie sie der Pfarrer Wiegand in Reitz Film Die andere Heimat übte. Auch war die Gründung von Rettungshäusern für verwahrloste Jugendliche (kurz zuvor 1833 in Hamburg-Horn mit dem Rauhen Haus) und von Stadtmissionen für deklassierte Handwerker in den rapide wachsenden Städten, wie Johann Hinrich Wichern sie nach englischem Vorbild betrieb, die caritative Antwort des Christentums auf Massenarmut und Not (weniger der Kirche, denn all das entstand als Zweitstruktur neben der Kirche). Nicht von ungefähr wird die Innere Mission im September 1848 gegründet, als die Revolution überall niedergeschlagen worden war. Re-Christianisierung, Bibelworte und materielle Stützung statt gründlicher Veränderung der Verhältnisse. Büchner rechnete keinesfalls damit, dass der Landbote unmittelbar zum Aufstand, zur Vertreibung des Großherzogs und zur Ausrufung der Republik führen würde. Er war ein Versuchsballon, der erkunden sollte, ob es eine revolutionäre Stimmung gab. Büchner selber schmuggelte das Manuskript in einer Botanisiertrommel zur Druckerei nach Offenbach, indem er sich mit einem Freund als Naturkundler ausgab. Danach gründete er in Gießen mit Freunden nach französischem Vorbild eine „Gesellschaft der Menschenrechte“. Anfang Juli trafen sich die republikanischen Delegierten aus Hessen auf der Ruine Badenburg, um die weitere Strategie zu beraten. Dabei gab Weidig den Ton an. Die inzwischen gedruckten Exemplare des Landboten sollten abgeholt und verteilt werden. Doch das scheiterte vorerst, weil es einen Verräter, Johann Conrad Kuhl gab, der die Gruppe denunzierte. Der Bote Minnigerode wurde verhaftet. Büchner wurde zwar verhört, aber nicht verhaftet, er konnte die anderen Mitverschwörer rechtzeitig warnen. Eine Gefangenenbefreiung zerschlug sich. Trotzdem konnte später ein Teil der Landboten-Exemplare in Friedberg, Butzbach und Gießen verteilt werden. Was wäre geschehen, wenn sich Pfarrer in großer Zahl zur Verlesung des Landboten, der doch so biblisch getönt war, entschlossen hätten?! 3. Kreuzestravestie, Atheismus-Diskurs und Todesangst Dantons TodIn Dantons Tod schildert Georg Büchner 1835 den Kreuzweg der französischen Revolution in dem Augenblick, als die Revolution zur totalen Schreckensherrschaft übergeht. Der „gräßliche Fatalismus der Geschichte“, von dem Büchner in dem berühmten Brief an seine Braut spricht, rollt über die Akteure hinweg. Danton, eben noch der Retter vor der Allianz der Fürsten, tritt vor dem Geschehen zurück und betrachtet es träumerisch resigniert. Auch die Führer der Revolution sind nur noch der Spielball eines blinden Geschehens, „Puppen von unbekannten Gewalten am Draht gezogen.“ Zwar ist Danton noch in der Lage, Robespierres Herrschaft der Tugend, für die er tausende opfern will, in Frage zu stellen. „Wo die Notwehr aufhört, fängt der Mord an. Ich sehe keinen Grund mehr, der uns länger zum Töten zwänge.“ Aber er ist nicht mehr fähig, dem Rad in die Speichen zu greifen (eine Formulierung, die Büchner hundert Jahre vor Bonhoeffer, der das Bild in einem berühmt gewordenen Satz schon 1933 verwendet, mehrfach benutzt.) An dieser Stelle gebraucht Dantons Freund Camille Desmoulins die Passion Jesu als Muster, um den Terror zu parodieren. Desmoulins zeichnet Robespierre als Blutmessias. „Dieser Blutmessias Robespierre auf seinem Kalvarienberge zwischen den beiden Schächern Couthon und Collot, auf dem er opfert und nicht geopfert wird. Die Guillotinen-Betschwestern stehen wie Maria und Magdalena unten. Saint-Just liegt ihm wie Johannes am Herzen und macht den Konvent mit den apokalyptischen Offenbarungen des Meisters bekannt; er trägt seinen Kopf wie eine Monstranz. Sollte man glauben, daß der saubere Frack des Messias das Leichenhemd Frankreichs ist und daß seine dünnen, auf der Tribüne herumzuckenden Finger Guillotinenmesser sind?“ Eine ungeheuerliche Travestie des Kreuzesgeschehens, gespeist aus einer jahrhundertealten Bildtradition, die für Büchner und seine Zeitgenossen noch lebendig ist. Doch was Desmoulins als vernichtende Kritik Robespierres meint, nimmt dieser bewusst an: „Jawohl, Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird. - Er hat sie mit seinem Blut erlöst, und ich erlöse sie mit ihrem eigenen. Er hat sie sündigen gemacht und ich nehme die Sünde auf mich. Er hatte die Wollust des Schmerzes und ich habe die Qual des Henkers.Wer hat sich mehr verleugnet, ich oder er?“ In der Tat - der revolutionäre Terrorist muss eine Erlöserrolle für sich beanspruchen. Und er treibt die relativierende Identifikation noch weiter, in dem er fortfährt: „Wahrlich, der Menschensohn wird in uns allen gekreuzigt, wir ringen alle im Gethsemane-Garten im blutigen Schweiß, aber es erlöst keiner den andern mit seinen Wunden.“ Robespierre relativiert die stellvertretende Einmaligkeit des Golgatha-Geschehens, indem er ihre Wirkung bestreitet. Der blutige Aspekt des Erlösungsgeschehens, den die Theologie gerne spiritualisiert, wird hier festgehalten. Der schuldlose Messias Jesus, der die eschatologische Gewalt, die göttliche Gewalt des heiligen Krieges ablehnte („Meinst du nicht ich könnte meinen Vater bitten und er würde mir sofort 12 Legionen Engel schicken“, weist er den das Schwert ziehenden Petrus bei der Gefangennahme zurecht), kann er nicht sein. So wenig wie Büchner selber. Handeln bzw. Nichthandeln bedeutet in jedem Fall schuldig zu werden (auch hier wieder eine Parallelität zu Bonhoeffers Ethik). In seinem Brief an die Braut Minna über den grässlichen Fatalismus der Geschichte ist Büchner näher an Robespierre als an Danton: „Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das Muß ist eines von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, ist schauderhaft.“ Büchner zitiert hier den rätselhaften Spruch Mt 17, 8, in dem Jesus eine tragische Perspektive aufreißt (in die er ja mit seiner gewaltsamen Tempelaktion auch selber eintritt). Büchner entscheidet sich für eingreifendes Handeln, indem er die Flugschrift, den Hessischen Landboten verfasst und ihre Verteilung mitorganisiert. Von einem Aufstand mit Gewaltanwendung aber ist er weit entfernt. Nahe aber ist die strukturelle Gewalt des Staats, die einige Freunde verhaften lässt und die ihn in Gestalt des Gießener Universitätsrichters Georgi nur aus taktischen Gründen verschonte. Die Welt ist eben nicht erlöst. Jesu Opfer war nicht das letzte Opfer, das alle Opfer beendet hat, sondern wird in dem ungeheuerlichen Opferritual der Revolutionen fortgesetzt. Der Anspruch der Erlösung der Gesellschaft von ihren Widersprüchen durch eine Gewalt, die wiederum die letzte sein soll, kann nicht anders als messianisch gedacht werden. Das hat Büchner durch die verfremdende Zitierung der Passionsgeschichte deutlich gemacht. Es sollte nicht die letzte Travestie des blutigen Golgathageschehens sein. Die Massensäuberungen und Vernichtungsaktionen von Faschismus und Stalinismus im 20.Jahrhundert haben Blutmessiasse und Bürokraten des Massenmords hervorgebracht, verglichen mit denen Robespierre und St.Just harmlos wirken. Büchner sagte über sein Drama, das von Gutzkow in der Zeitschrift Phoenix veröffentlicht wurde: „Ich betrachte mein Drama wie ein geschichtliches Gemälde, das dem Original gleichen muss“. Gegen den Vorwurf, Dantons Tod sei als Lektüre für junge Frauenzimmer ungeeignet, wandte er ein: „Ich kann doch aus einem Danton und den Banditen der Revolution nicht Tugendhelden machen. Wenn ich ihre Liederlichkeit schildern wollte, so mußte ich sie eben liederlich sein, wenn ich ihre Gottlosigkeit zeigen wollet, so mußte ich sie eben wie Atheisten sprechen lassen.“ Und das kann er ganz gut, etwa wenn der Engländer Thomas Payne sprechen lässt: „Es gibt keinen Gott, denn: Entweder hat Gott die Welt geschaffen oder nicht: hat er sie nicht geschaffen, so hat die Welt ihren Grund in sich, und es gibt keinen Gott, da Gott nur dadurch Gott wird, daß er den Grund alles Seins enthält: Nun aber kann Gott die Welt nicht geschaffen haben, denn entweder ist die Welt ewig wie Gott oder sie hat einen Anfang. Ist letzteres der Fall, so muß Gott sie zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen haben, Gott muß also, nachdem er in Ewigkeit geruht hat, einmal tätig geworden sein, muß also eine Veränderung erlitten haben, die den Begriff Zeit auf ihn anwenden lässt, was beides gegen das Wesen Gottes streitet. Gott kann also die Welt nicht geschaffen haben.“ Das klingt wie in einer Philosophievorlesung, messerscharfe Deduktionen in dürftiger Dialogform, die Diskussion belebt sich, wenn Payne auf Spinozas Deus sive natur a zu sprechen kommt: Payne: „Dann ist Gott in allem, Wertester, im Philosophen Anaxagoras und in mir. Das wäre so übel nicht, aber sie müssen mir zugestehen, daß es nicht gerade viel um die himmlische Majestät ist, wenn der liebe Herrgott in jedem von uns Zahnweh kriegen, den Tripper haben, lebendig begraben werden oder wenigstens die sehr unangenehmen Vorstellungen davon haben kann.“ Das erreicht fast das ironisch-heitere Niveau, das Heine in seiner Geschichte der Religion und Philosophie durchweg hat. Dann fallen die berühmten Sätze, die in jeder Quellensammlung zur Atheismusfrage stehen: Payne: „Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz, nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen. Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von unten bis oben.“ Das verweist schon auf Dostojewskij Brüder Karamasow. Auf Iwan, der seine Eintrittskarte zurückgeben will, solange Kinder leiden müssen in dieser Welt. Ein später Reflex ist auch Lars Gustafsons Tod eines Bienenzüchters mit seiner Anklage gegen die Schmerzparoxysmen des Krebstodes. Aber wie gesagt, alles eher wie in einem Lehrbuch, Büchner lässt die Atheismusfrage von den Protagonisten abhandeln, Anliegen scheint sie ihm nicht zu sein Wo sein Herz schlägt, das merkt man deutlich, das ist die ungelöste soziale Frage. „Wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab.“ (Robespierre) Und so wird neben Robespierre, der die Revolution durch Terror vorantreiben will und Danton, der des Terrors nach den Septembermorden, dem Königsmord und der Einrichtung des Revolutionstribunals müde geworden ist, das Volk der dritte Hauptakteur des Stücks. Das Volk ist den Befehlen der bürgerlichen Revolutionäre gehorsam gefolgt, wirklich gebessert hat sich seine Situation nicht: „Köpfe statt Brot, Blut statt Wein (…) Die Guillotine ist eine schlechte Mühle und Samson (der Henker HJB) ein schlechter Bäckerknecht. Wir wollen Brot, Brot!“ Auch hier zeigt sich wieder Büchners scharfe Beobachtungsgabe für die widersprüchlichen Leidenschaften der Unteren wie seine ungebrochene Sympathie für die Geringsten: „mal ist (das Volk) faul, mal eitel, mal blutrünstig, mal derb erotisch, anfällig für Schmeichelei und häufig äußerst wankelmütig in seiner Parteinahme. Aber seine Aggressivität ist die Wut der Verzweifelten, seine Irrtümer sind die Folge mangelnder Aufklärung, seine erschreckende Primitivität ist seine Tugend: Die Qual elementarer Bedürfnisse macht es zu einer furchtbaren Gewalt, die den Prozess der Revolution immer wieder in Gang setzen kann.“ (Hauschild 89) Büchner ist insofern kritisch gegenüber dem Volk, (ähnlich wie Heine, der vor allem ästhetisch von den das Volk hofierenden Kommunisten das Schlimmste befürchtet), aber er hofft doch immer noch, dass „das Verhältnis zwischen Armen und Reichen das revolutionäre Element in der Welt“ bleibt. Die Schillersche Lektion, Freiheit zu geben durch Freiheit in einem ästhetisch orientierten Staat (das ist seine Antwort auf den Terreur von 1792/93, auf die schreckliche Schändung der Prinzessin von Lamballe und die Ermordung des Königs), ist verblasst. Bleiben die nihilistisch-melancholisch getönten Gespräche der Todgeweihten in der Conciergerie über Tod, Leben, Gott, das Nichts, Schönheit, Sinnlichkeit, Liebe, Vergänglichkeit. Danton: „Wenn die höchste Ruhe Gott ist, ist das Nichts Gott? Aber ich bin Atheist;der verfluchte Satz: Etwas kann nicht zu nichts werden, das ist der Jammer..das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab, Camille: Die Welt ist der ewige Jude, das Nichts ist der Tod, aber er ist unmöglich. Oh, nicht sterben können, wie es im Lied heißt.“ Eine nihilistische Perlenkette, auf der schöne Apercus zum Nichts aufgereiht werden, um schließlich in der Vorstellung, allein (ohne Julie) zu gehen, im Angstschrei: ich kann nicht sterben, zu enden. Dann unruhiger Schlaf, Träume, Visionen, ein eschatologisches Addio, das der schönen Welt, den Frauen zumal zugerufen wird, ein Abschiednehmen besonderer Art, dessen melancholischer sinistrer Sogkraft man sich schwer entziehen kann. Danton: Morgen bist du eine zerbrochene Fiedel, die Melodie darauf ist ausgespielt. Der Wein ist ausgetrunken, aber ich habe keinen Rausch davon (…)Jawohl, es ist so elend sterben zu müssen. Der Tod äfft die Geburt nach; beim Sterben sind wir so hilflos und nackt wie neugeborne Kinder. Freilich, wir bekommen das Leinentuch zur Windel.“ Und noch einmal in einer Steigerung lakonisch-kluger, die Geschichte des Sterbens zitierender Bildworte und Vergleiche. Philipeaux sieht letztlich im Schreien der Sterbenden einen Strom von Harmonien, Danton wendet ein, dass die Körper die Instrumente sind, auf denen die häßlichen Töne gespielt werden. Dann folgt Bild auf Bild, wir sind wie gepeitschte Ferkel für fürstliche Tafeln, dem Moloch geopferte Kinder, Goldkarpfen am Tisch der seligen Götter. Es gibt keinen Trost, kein seliges Sterben, kein Gehaltensein im Glauben, keinen Blick auf Christus, der meinen Tod erlitten hat. Und fast hat man den Verdacht, Büchner stellt das Sterben ohne Gott so ins Zentrum, um zu zeigen, wie allein und verloren ein Gottesleugner in der Welt ist (wie Jean Paul in seinem Angsttraum der Rede des toten Christus vom weltgebäude herab, dass kein Gott sei es sagte.) 4. Dummer, einfältiger Mond, bitteres Lachen und Atheismus. Eine Deutung zu Büchners Satz im Lenzfragment: „Da griff der Atheismus in ihn“In Büchners Novelle Lenz erfährt der gemütskranke Dichter Lenz, der Aufnahme bei dem Pfarrer Oberlin im Elsaß gefunden hat, in einem Nachbardorf sei ein Kind gestorben. Er geht dort hin, lässt sich die Kammer zeigen, wo es aufgebahrt liegt, ein heftiger Schmerz angesichts der kleinen kalten Leiche faßt ich an, er wirft sich nieder, betet, dass Gott ein Zeichen an ihm tun und das Kind beleben möge, dann spricht er wie Jesus: Stehe auf und wandle. Doch die Leiche bleibt kalt. Da jagt er hinaus ins nächtliche Gebirge, über dem ein Mondhimmel mit ziehenden Wolken zu sehen ist. „In seiner Brust war ein Triumphgesang der Hölle (…) Es war ihm als könnte er eine ungeheure Faust in den Himmel ballen und Gott herbeireißen und zwischen seinen Wolken schleifen (…) So kam er auf die Höhe des Gebirgs und der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich da drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest.“ Wieso greift der Atheismus in diesem Augenblick in ihn? Ist es die Enttäuschung über die fehlgeschlagene Totenerweckung? Die schlimmer gewordene Depression? Die Erfahrung nächtlicher Unbehaustheit des Wanderers im Gebirge? Auffällig ist die merkwürdige Konstatierung eines dummen Himmels mit einem lächerlichen Mond kurz vor dem Atheismus-Satz. Die Natur und die Gestirne haben nichts Tröstliches mehr. Kein Mond, der vor Leid nicht mehr scheinen mag wie in Friedrich von Spees Traurgesang von der Not Christi am Ölberg, sondern einfältig und dumm hängt er da am nächtlichen Wolkenhimmel. Das Universum hat seinen bergenden, schützenden Charakter verloren. Es ist eine kalte und leere Welt. Der Mond ist nicht mehr das freundliche Nachtgestirn, dessen Aufgang Matthias Claudius so schön besungen hat. Die abendliche Welt ist nicht mehr „traulich und hold“, keine „stille Kammer“, wo wir „des Tages Jammer verschlafen undvergessen“ können. Der nur halb zu sehende Mond ist kein Gleichnis mehr dafür, dass nicht das, was wir Augen haben, das Wahre ist, ist kein Verweis auf das Heil Gottes, dessen Fülle uns noch bevorsteht. Aus dieser Übereinstimmung ist Büchners Lenz herausgefallen. Er hat nicht mehr den Trost des Träumers in Jean Pauls Siebenkäs, der aus seinem Angsttraum „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“, auf wacht und sich auf einer Wiese im Abendsonnenschein wiederfindet, getröstet von den Strahlen der Sonne und den Glockentönen. Nicht von ungefähr sucht 50 Jahre nach Büchners Lenz Nietzsches „toller Mensch“ Gott am helllichten Tag mit der Laterne und klagt, dass mit dem Tode Gottes die Erde von der Sonne losgekettet wurde. Die kosmische Verlassenheit ergreift eine Menschheit, die den Himmel entgöttlicht hat. Die Jean Paulsche Angst, „dass Gott eine Einbildung und die Seele der Vernichtung preisgegeben sei“, ist noch da. Atheismus ist für Jean Paul und auch für Büchner (selbst für Nietzsche) „niemals der schmerzfreie Agnostizismus der Moderne, dessen Weltverständnis durch den Ausfall einer Überwelt sich nicht ändert.“ Nein, es ist der vernichtende Gegengott, Negation des Lebens, Sieg des Todes (D. Sölle, Realisation, Neuwied 1973, 251) Einerseits ist Büchners Erzählung eine genaue Krankenbeschreibung, und er hat ja auch die Aufzeichnungen Oberlins über den an einer Depression erkrankten Lenz benutzt. Merkwürdige Verhaltensweisen des Nachts, die Szene mit der Katze, die er und die ihn fixiert, die Angstzustände zwischen Wachen und Schlafen, Wahnsinnsattacken auch am Tage, er rettet sich in den Schoß Oberlins. „Und wenn er ruhiger wurde, war es wie der Jammer eines Kindes, er schluchzte, er empfand tiefes, tiefes Mitleid mit sich selbst, das waren auch seine seligsten Augenblicke. Oberlin sprach ihm von Gott. Lenz wand sich ruhig los und sah ihn mit einem Ausdruck unendlichen Leidens an und sagte endlich: ‚Aber ich, wär ich allmächtig. Sehen Sie, wenn ich so wäre, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten, ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe und schlafen können.‘ Oberlin sagte, dies sei eine Profanation (Entweihung des Heiligen). Lenz schüttelte trostlos mit dem Kopfe.“ Der zugesagte Trost des Gehaltenseins in Gott prallt wirkungslos an ihm ab. Lenz findet keine Ruhe mehr. Noch einmal eine Abendszene am Schluss des Fragments: „hoher Vollmond, alle fernen Gegenstände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie; die Erde war wie ein goldener Pokal, über den schäumend die Goldwellen des Mondes liefen.“ Kann Lenz doch noch den Trost einer Mondnacht erfahren? Nein, die dumpfe Angst steigert sich in ihm, je mehr sich die Gegenstände in der Finsternis verloren und er versucht mehrfach, Hand an sich zu legen. Oberlin lässt ihn nach einem erneuten Selbstmordversuch nach Straßburg transportieren „Sein Dasein war ihm eine notwendige Last. So lebte er hin“ endet das Fragment. Deutlich wird: die sich steigernde Psychose ist verbunden mit einer sich verschärfenden Kritik am Christentum. Wie ein Kind mit seiner magischen Religiosität erprobt er die Wunder Jesu. Die Erfahrung des Misslingens treibt ihn zu wilden Gotteslästerungen. Die Landschaft im Mondlicht erlebt Lenz nur noch als „dumm“ und „einfältig“, als bestimmt von einem Gott, der dem Leiden teilnahmslos zusieht „Es war ihm als könnte er eine ungeheure Faust in den Himmel ballen und Gott herbeireißen und zwischen seinen Wolken schleifen.“ Ist das nun ein um sich greifender Nihilismus, der alles in seinen vernichtenden Bann zieht, zu der letzten Tiefe des Nichts, in der alles grau und sinnlos ist? Oder lässt Büchner in seiner Darstellung noch eine politische Absicht erkennen, gibt die Handlungsmöglichkeit nicht total auf? Die sich steigernden Wahnzustände, seine Erfahrung von Einsamkeit und Isolation haben ihren Grund in einem „Leiden an der Unmöglichkeit verändernden Eingreifens“ (Ueding), wie es für die Vormärzzeit typisch war. Sodann lässt sich auch eine politisch motivierte Kritik am Christentum erkennen, das mit seiner Jenseitsvertröstung die Verhältnisse im Diesseits unangetastet lässt, mit den bestehenden Mächten paktiert und die Sache der Propheten und Jesu letztlich verrät. Büchner hat „die Rolle des wahnsinnigen Lenz“ dazu benutzt, „um dem Zweifel an Gott so kräftigen Ausdruck zu verleihen, wie dies auf direktem Weg damals kein Schriftsteller durfte, ohne ins Gefängnis zu kommen“ (so F. Sengle) bzw. ohne zensiert zu werden. Ich erinnere daran, dass Goethe es zunächst nicht wagte sein gotteslästerliches Prometheus-Gedicht zu veröffentlichen und dass er ein christuskritisches Gedicht des West-Östlichen Divans unterdrückte. Heine schreibt seine christentumskritische Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland 1834 im vor der Zensur sicheren Paris. Nach der versuchten Auferweckung des toten Mädchens heißt es, als Lenz auf die Höhe des Gebirges kommt und den dummen einfältigen Mond sieht: „Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz und fest“ Wieso mit dem Lachen? In Lessings Minna von Barnhelm kommt es zu einem Gespräch zwischen Minna und Tellheim. Der verabschiedete und verschuldete Offizier Tellheim zweifelt zutiefst an einer gerechten Weltordnung und bricht in ein bitteres Lachen aus. Dieses Lachen ist bzw. klingt blasphemisch. Minna bemerkt es mit Schaudern: „Oh, ersticken Sie dieses Lachen. Es ist das schreckliche Lachen des Menschenhasses…wenn sie an Tugend und Vorsicht (gemeint ist Vorsehung HJB) glauben, Tellheim, so lachen Sie so nicht! Ich habe nie fürchterlicher fluchen hören als Sie lachen.“ (IV/6) Es gibt ein Lachen, das bitter, sinnzerstörend und zynisch ist. Das Lachen, das Lenz anstimmt, ist in letzter Konsequenz ein gotteslästerliches Gelächter, das sich auch in Klopstocks Messias beim Satan findet. So bilden in Büchners Lenz Naturentfremdung, bitteres höllisches Lachen und Atheismus eine verzweifelte Trias. 5. Sinnleere Welt, aristokratischer Müßiggang und geträumtes ItalienIn der Komödie Leonce und Lena spielt die Gottesfrage direkt wenig, aber indirekt durchaus eine Rolle. Denn der Prinz Leonce lebt in einer Welt, die für ihn keinen Sinn macht, eine Welt bestimmt von Langeweile und Müßiggang. Die Leisure-Haltung des herrschenden Adels parodierend sagt er: „ich habe alle Hände voll zu tun. Ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen: sehen sie, erst habe ich auf den Stein 365 mal zu spucken. Haben sie das noch nicht probiert. Es gewährt eine ganz eigene Unterhaltung.“ Er parodiert gewissermaßen den Katechismus eines von Pflichten bestimmten Lebens, das verantwortungsvoll und fraglos gelebt wird. „Es grassiert ein entsetzlicher Müßiggang. Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie lieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile, und das ist der Humor davon- alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken warum, und meinen Gott weiß was dazu.“ Das Leben als sinnlose Wiederholung, als Sisyphus-Tätigkeit, aber ohne das Camus-Paradox: „Man muss sich Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen“, ohne die heroische Annahme der Absurdität des Lebens, die der ziemlich genau 100 Jahre später geborene vertritt. Mit dem gelangweilt-melancholischen Prinzen karikiert Büchner ähnlich wie im Hessische Landboten den „langen Sonntag (der Vornehmen) sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie der Dünger auf dem Acker (…)“, blendet aber in der Komödie den harten Alltag der Werktätigen aus. In Leonce und Lena wird aus dem sozial bedingtem Müßiggang ein existentieller, Langeweile wird zur anthropologischen Kategorie. „Der melancholische Gestus der Hofgesellschaft resultiert aus dem Leiden an einem Leben, das zum leeren Ritual erstarrt ist.“ (Kindler NLL 1989, Bd. 3, 318) Es ist eine gottlose Welt, denn es gibt keine Hoffnung auf ein gerechtes Leben, sondern nur den utopischen Traum eines schönen Lebens a la Italia, und das auch nur vielleicht für alle - das arme Volk muss weiter Vivat schreien, wenn der König kommt, und der Schulmeister kommentiert sarkastisch: „Sie sehen, wie die Intelligenz im Steigen ist. Bedenken sie es ist Latein.“ Auch Lena, als fremdbestimmt zu Verheiratende sieht sie sich plötzlich als Tote, wird von der Vergänglichkeit des Lebens angeweht. Und verfällt dann, als ihre Gouvernante sie als „wahres Opferlamm“ bezeichnet, in eine passionschristologische Interpretation der Welt, die an nihilistischer Schärfe kaum zu überbieten ist: „Jawohl, und der Priester hebt schon das Messer.-Mein Gott, mein Gott, ist es denn wahr, daß wir uns selbst erlösen müssen mit unserm Schmerz? Ist es denn wahr, die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne seine Dornenkrone und die Sterne die Nägel und Speere in seinen Füßen und seinen Lenden?“ Das pro me des Leidens Christi ist aufgehoben, ähnlich wie in Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei wird die erlösende Kraft des Leidens Christi bestritten, Christus ist gewissermaßen kosmologisch auf die Welt genagelt. Dieser Passionsweltschmerz der Prinzessin wirkt aber ein wenig äußerlich, kommt Büchner gewissermaßen zu leicht aus der Feder, als dass man ihn Lena so recht abnehmen kann, es sei denn als Spielerei. Ganz zum Schluss in der utopischen Wendung eines am Bilde Italiens um Capri und Ischia modellierten Lebens schlägt Leonce vor: „Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, daß es keinen Winter mehr gibt und wir (…) das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeern stecken.“ Und Staatsminister Valerio will ein Dekret erlassen, nach dem „ jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird. Und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion.“ Die menschliche Bestimmung von Gen 3 zu Arbeit und Fron, die von entfremdeter Arbeit nach dem Fall bestimmte condition humaine wird aufgehoben. Auch in ihrer religiösen Dimension, denn eine kommode, also bequeme Religion ist eine, die den Menschen nicht mehr unter der Annahme der Trennung von Gott ein schlechtes Gewissen macht, auch keine, die an ihn befreiungstheologisch appelliert sondern allenfalls eine, die seinen Alltag religiös angenehm, durch Esoterik und Wellness-Spiritualität überhöht. Büchner war übrigens nie in Italien, er hat seine Utopie aus Goethe, Heine und anderen destilliert (wie Voss in einer genauen Analyse dieser Passage gezeigt hat). Mit einer gewissen Berechtigung könnte man sagen, dass Büchner hier unsere Wohlstands-und Freizeitgesellschaft antizipiert auf nach Italien war das Motto der Deutschen nach dem Erfolg des Wirtschaftswunders Ende der 50er Jahre, den Winter zum Sommer machen durch Reisen auf die Kanaren und an die Costa del Sol in den 60er und 70er Jahren. Die Rentner, die oft sozial vereinsamt auf den Sonneninseln überwintern, sind die schlechte Erfüllung des Traums vom schönen Leben. 6. Woyzeck - Versenkung in das Leben eines der GeringstenIn der gleichnamigen Novelle sagte der gemütskranke Schriftsteller Lenz in einem Gespräch über realistische Literatur: „Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll und wir können wohl nicht was bessres klecksen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins und dann ist’s gut, wir haben nicht zu fragen, ob es schön oder häßlich sei (…) Man versuche es einmal und senke sich in das Leben eines der Geringsten und gebe es wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganz feinen kaum bemerkten Mienenspiel.“ Dies liest sich wie eine Anweisung zu dem Trauerspiel-Fragment Woyzeck. Hier hat Büchner genau hingeschaut, sich in das Leben einer Figur aus der Unterschicht versenkt, in das Schicksal einen deklassierten Handwerksgesellen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. „In jeder Szene ist Woyzecks soziale Notlage erkennbar und greifbar: in den wenigen Habseligkeiten, die er kurz vor der Tat an seinen Stuben-und Bettgenossen Andres verschenkt, ebenso wie in der Möblierung von Maries Wohnung: Ihr Kind hat weder Bett noch Wiege, Marie besitzt nur ein Stückchen von einem Spiegel.“ (Hauschild 138) „Wir arme Leut“ ist die resignative Formel, die Woyzeck mehrfach wiederholt. Büchner kannte als Sohn eines Bezirksarztes das Leben der Geringsten, den Anblick von Elend, Not und psychischer Verzweiflung, die daraus resultierende Gewalttätigkeit. „Die Frage aus dem Fatalismusbrief, was es sei, das in uns lügt, mordet und stiehlt, beantwortet Büchner im Woyzeck mit dem Hinweis auf die Umstände, die Verhältnisse, die soziale Zwangslage“ (Hauschild, 140) „Es liegt in niemands Gewalt (..) Kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, weil wir durch gleiche Umstände wohl alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen.“ (ebd) Der Hintergrund von Büchners Drama ist ein historischer Kriminalfall: der Mord des arbeitslosen Perückenmachergesellen Woyzeck an seiner Geliebten Johanna Christiane Woost 1821. Der Fall erregte Aufsehen, weil öffentlich heftig um die Zurechnungsfähigkeit des Täters diskutiert wurde, der offensichtlich unter depressiven Schüben und Verfolgungswahn litt. Aufgrund eines Gutachtens des Leipziger Stadtphysikus Clarus wurde Woyzeck zum Tode verurteilt und im August 1824 auf dem Marktplatz zu Leipzig hingerichtet. Büchner kannte wohl das Gutachten, abgedruckt in einer Erlanger medizinischen Zeitschrift von 1836, weil in dieser auch sein Vater über einen Fall von Nichtzurechnungsfähigkeit publiziert hatte. In zwei weiteren ähnlichen Mordfällen dieser Zeit wurden die Täter aufgrund von Gutachten aber nur zu Zuchthausstrafen verurteilt (der Fall des Leineweber Johann Dieß und der des Tabakspinnergesellen Daniel Schmoller). Büchner hat aus diesen Mordfällen Einzelheiten übernommen, insofern weicht sein Woyzeck von dem historischen erheblich ab. Aus dem arbeitslosen Friseur macht Büchner einen vielbeschäftigten gehetzten Liniensoldaten, der seine soziale Notlage mit Arbeit rund um die Uhr zu mildern versucht (wie heute Menschen mit mehreren prekären Jobs). Zudem wird er zum Objekt der medizinischen Wissenschaft, die seine apokalyptisch eingefärbte Psychose („Rauch vom Land“ spielt auf die Vernichtung von Sodom und Gomorrha in Gen 19 an) in einem Erbsenexperiment verstärkt. Büchner zeigt, dass Woyzecks Verbrechen ein soziales Verbrechen an Woyzeck vorangeht - die Peinigung durch den Doktor und den Hauptmann. Als Vertreter der staatstragenden Institutionen Wissenschaft und Militär tragen vor allem sie die Schuld an Woyzecks Entwicklung, der als psychisch labiler Mensch der Untreue seiner Lebensgefährtin Marie (heiraten kann er sie nicht wegen des fehlenden Mindestvermögens) nicht gewachsen ist und sie einem Eifersuchtsanfall ermordet. Die dritte staatstragende Institution die Kirche ist nur indirekt präsent, etwa in dem Dialog zwischen Woyzeck und dem Hauptmann beim Rasieren (Szene 6). „Woyzeck, er ist ein guter Mensch aber, er hat keine Moral. Er hat ein Kind ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Garnisonsprediger sagt. Woyzeck: Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehen, ob das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: laßt die Kleinen zu mir kommen. Hauptmann: Was sagt er da? Was ist das für eine kuriose Antwort.er macht mich ganz konfus mit seiner Antwort.“ Wunderbar, wie hier das Wort des Evangeliums, die Kindersegnung (Mtk 10 par) gegen Institution und Moral gesetzt werden. Der Vertreter der Moral gerät dadurch ganz aus dem Gleichgewicht. Und dann folgt die kostbare Einlassung Woyzecks über Geld und Moral: Woyzeck: Wir arme Leut Sehn sie, Herr Hauptmann: Geld! Geld! Geld! da setz einmal eins seinesgleichen auf die Moral in die Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unseins ist doch einmal unselig in der und der anderen Welt. Ich glaub, wenn wir in den Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen. Hauptmann: Woyzeck, Er hat keine Tugend …. Hier wird die Heuchelei von Staat und Kirche auf den Begriff gebracht. Ohne Geld keine Moral. Woyzeck muss mit Marie in einer Quasi-Ehe leben, weil er kein Geld hat. Die Kirche prangert die Sittenlosigkeit der Unterschicht an, ohne ihre materiellen Ursachen in Betracht zu ziehen. Die übliche Deutung war: Sittenlosigkeit führt zu Gottlosigkeit und Armut. Woyzeck kehrt es um: Armut führt zu Sittenlosigkeit .Und seine gut begründete Furcht lautet, auch im Himmel wird es nicht anders. Nicht in Abrahams Schoß sitzt der Arme (wie im Gleichnis von reichen Mann und vom armen Lazarus Luk 16) sondern er muss donnern helfen. Geld als Nichtsorgen, als ein menschenwürdiges Auskommen haben, ohne gehetzt zu sein, das wäre eine menschliche Lösung. Nicht Vertröstung aufs Jenseits und auch nicht Moralpredigt des Hauptmanns oder des Garnisonspredigers. Oder: Moral nur zusammen mit Geld bzw. den Wohlstandsinsignien. Oder mit Brechts Dreigroschenoper-Song: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral! Woyzeck: Wenn ich ein Herr wär und hätt einen Hut und eine Uhr und eine Anglaise (Kutsche) und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann, aber ich bin ein armer Kerl.“ Zur gleichen Zeit notiert der Theologiekandidat Johann Hinrich Wichern im Hamburger Armenviertel St. Georg, in dem er die Familien seiner Sonntagschulkinder besuchte, schreckliche Armut überall. Zugleich konstatiert Wichern laufend Defizite und äußert moralische Verurteilungen: Ehebrecherin, uneheliches Kind, nicht konfirmiert usw. In seiner Argumentation entsteht jenes Begründungsgefälle, das dem heutigen Betrachter sofort auffällt: Elend und Not sind für Wichern Folgen einer Glaubens- und Sittenlosigkeit, nicht umgekehrt: Armut führt zur Gott- und Sittenlosigkeit . Der Szenenwechsel zwischen Kaserne, Behausung Maries, Straße und Wirtshaus wird immer hektischer. Das Stimmengewirr steigert sich. Der Vorführer, der Gesang der Handwerksburschen, die merkwürdige Predigt eines Handwerkburschen, Woyzecks innere Stimmen, Maries Bibellektüre und Gebet, die Stimmen der Mädchen vor der Haustür, das Märchen der Großmutter. Woyzecks Eifersucht steigert sich, auch mit seinem Kameraden Andres kann er darüber nicht reden, er bleibt allein mit seinen Wahnvorstellungen, macht sein Testament, kauft sich ein Messer beim Juden, tötet Marie, geht ins Wasser. Das Fragment wurde erst 1875 durch Karl Emil Franzos in den Wiener Neuen Nachrichten veröffentlicht, uraufgeführt wurde es 1913 am Münchener Residenztheater. 1925 fand die szenische Uraufführung von Alban Bergs Oper Wozzeck an der Berliner Staatsoper statt. Eine Szene in der Oper ist besonders anrührend. Nachts in ihrer Stube sitzt Marie bei Kerzenschein und liest in der Bibel. Erst im Propheten Jesaja, in den Gottesknechtliedern, von der Schuldlosigkeit und bricht in den expressiven Schrei aus: „Herr-Gott! Sieh‘ mich nicht an!“ Weiterblätternd liest sie in der Geschichte von der Ehebrecherin den ersten und den letzten Vers und schlägt die Hände vors Gesicht. Hier wird durch musikalische Konstruktion die Leidenssituation eines getrieben-hilflosen Menschen zum Ausdruck gebracht, wird die verflackernde, verzweifelt- tröstliche Kerze zur Musik, rührt der Sprechgesang der Geängstigten ans Herz, all das wohlgemerkt bei einem atonalen Kompositionsverfahren. Das Kind wacht auf, drängt sich zur Mutter, diese erzählt ein abgrundtief trauriges Märchen und stößt dann beim Blättern in der Bibel auf die Geschichte der Maria Magdalena, der großen Sünderin, die Jesus die Füße salbt. Wieder dient die biblische Geschichte Marie als Vorlage für einen extremen expressiven Gebetsschrei: „Heiland, ich möchte dir die Füße salben. Du hast dich ihrer erbarmt, erbarme dich auch meiner“ (3. Akt, 1. Szene). Aber der Schrei ist vergeblich. Die Szene wandelt sich zum Waldweg am Teich, wo Wozzeck Marie, als der Mond rot aufgeht, „wie ein Messer“, ersticht. 6. Tod und NachwirkungBüchner floh im März 1835 aus Hessen nach Straßburg, nachdem er vorher ständig in Angst vor einer Verhaftung gelebt hatte. Und in der Tat - einer der eifrigsten Mitverschwörer, Gustav Clemm, verriet die Gruppe im April 1835 und die meisten, darunter Becker und Weidig (er stirbt 2 Tage nach Büchners Tod im Darmstädter Untersuchungsgefängnis unter ungeklärten Umständen) wurden verhaftet. In Straßburg verfertigte er mit großer Anstrengung eine wissenschaftliche Arbeit über die Nerven der Flußbarbe, die er vor der naturwissenschaftlichen Gesellschaft vortrug, die von ihr gedruckt wurde und die er dann an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich einreichte, die sie akzeptierte. Im Oktober 18 36 habilitiert sich an der dortigen Universität und beginnt Vorlesungen zu halten. Am 13. Februar 1837 stirbt er nach kurzer Krankheit, betreut von seinen Freunden Wilhelm und Caroline Schulz, an Typhus. Eines seiner letzten Worte als Antwort auf die Frage von Caroline Warum: „Wir haben der Schmerzen nicht zu viel, wir haben ihrer zuwenig, denn durch den Schmerz gehen wir zu Gott ein! - Wir sind Tod, Staub, Asche, wie dürften wir klagen.“ Schulz, seine Braut Minna, die Familie und andere Freunde hielten die Erinnerung an ihn wach, doch seine Wirkung setzte erst ein mit der Werkausgabe von Franzos 1879 und mit der Aufführung von Woyzeck ein. Mit der Novemberrevolution nach dem verlorenen Krieg wird endlich Büchners Hoffnung auf Gleichheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit annäherungsweise umgesetzt. 1923 wird der Georg Büchner-Preis als hessischer Staatspreis für Kunstförderung ausgelobt. Nach dem Zivilisationsbruch des Faschismus und dem zweiten Weltkrieg wurde dieser Büchner-Preis als der wichtigste deutsche Literaturpreis nunmehr von der Akademie für Sprache und Dichtung verliehen. Unterhalb des Niveaus von Büchner sollte es keine preiswürdige Literatur geben. Die Liste der Preisträger und die Reden, die aus diesem Anlass gehalten wurden, zeigen die nachkriegsdeutsche literarische Verfasstheit. Sie war jedenfalls ab Ende der 60er Jahre stark gesellschaftskritisch. Die Christlichkeit Büchners wurde selten betont, er galt als Frühsozialist und als erster den Unterdrückten sich zuwendender Autor. Nun also der Versuch Kurzkes, ihn als Christen kenntlich zu machen. Er sei nicht materialistisch sondern metaphysisch. Überall stoße man bei Büchner auf das Engel und Teufel, Himmel und Hölle und das ganze Spektrum christologisch-eschatologischerer Bildlichkeit Sein Werk sei „flächendeckend übersät und durchsetzt mit christlichen Anspielungen, Zitaten, Debatten und Textfragmenten.“ Immer wieder tauche die Thematik „eines Ringens um Gnade“ auf. Im Woyzeck bleibe Maries „Heiland, ich möchte dir die Füße salben“ verschont von Ironie und Groteske. Dem kann ich zum Teil zustimmen. Doch deutlicher muss gesagt werden: Büchner zitiert die christliche Vorstellungswelt als teils schon überlebte Bildwelt, weiß aber keinen Ersatz dafür. Sie ist noch Ausdruck des Protests gegen aufgezwungenes Unrecht und schon literarische Reminiszenz (wie die eingestreuten Märchen und Lieder). Wie andere politisch eingestellte Christen seiner Zeit wollte er Deutschland verändern. Die Aufmerksamkeit für das Leiden der Geringsten entspricht der Parteinahme Jesu für die Armen und Außenseiter, nach der die Zöllner und Huren eher ins Gottesreich kommen als die Frommen. Büchner gelingt es, ihre widersprüchliche Leidenssignatur zu erfassen, die Mischung von Krankheit und Armut bei Woyzeck, von Genialität und Schizophrenie bei Lenz, von Sinnlichkeit und Schuldgefühl bei Marie. Wie in der Erzählung der Grisette Marion in Dantons Tod kann er Religiosität weltlich deuten: „Es läuft auf eines hinaus, woran man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen, es ist das nämliche Gefühl; wer am meisten genießt, betet am meisten.“ Was Büchner und seinen Figuren aber fehlt, ist ein Gehaltensein in Gott. Aus diesem Gottvertrauen sind sie herausgefallen. Die Gewalt dieser Szenen und ihrer Sprache berührt nach wie vor. Im Übergang zu einer technisch-wissenschaftlichen Welt, in der man handelt, als ob es Gott nicht gäbe, hält Büchner die Gottesfrage gerade im schlichten Zitat des Wortes Gottes, im vergeblichen Appell an seine Macht lebendig: „Sehen sie. wäre ich allmächtig, ich würde retten, retten.“ Indem seine Figuren zunehmend die Welt als von Gott verlassen erfahren, drücken sie das als Verlust aus, etwas, was im Gestus der Anklage, der Enttäuschung teils herausgeschrien, teils lakonisch, zynisch kommentiert und notiert wird. So zitiert Büchner im Landboten agitatorisch die sozialen Anklagen der hebräischen Propheten. Er erinnert an ihre Hoffnung auf Wiederbelebung der verdorrten Gebeine in Ezechiel 37 und verkündet mit dem Propheten den Tag der Auferstehung. Als Gottlose leiden die Revolutionäre im Dantons Tod unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. In Leonce und Lena hört man vor allem die Stimme der geistreichen Müßiggänger, im Woyzeck die der sprachlos Leidenden. Hier weiß er keine bessere innerweltliche Alternative mehr außer einem geträumten Italien und dem Tod. 100 Jahre später gibt Bonhoeffer in finsterster Zeit auf die Gottverlassenheit die tief paradoxe Antwort: „der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt. Der Gott, der uns leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“ Und hinausgehend über Büchners Gott-und Christusverlassenheit in konstruktiver Annahme dieser Paradoxie, in verzweifelter Behauptung einer schwachen Anwesenheit Gottes in der Gottesfinsternis von Stalingrad und Auschwitz: „Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“ (Widerstand und Ergebung München 1951, 241f) Darf man sagen, Büchners Poetik ist heute anwesend in den Stimmen den Leidenden, wie sie z.B. Svetlana Alexijewitsch, die diesjährige Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels in ihren halbdokumentarischen Büchern wiedergibt die nicht gesehenen sowjetischen Frauen in der Roten Armee, die im Großen vaterländischen Krieg Hitler mitbesiegten, die zehntausenden von Liquidatoren in Tschernobyl, die auch für uns starben, weil sie den Reaktorbrand bekämpften, die jungen Soldaten, die im sowjetischen Afghanistankrieg starben (Zinkjungen genannt, weil sie in Zinksärgen zu ihren Müttern zurückkehrten), die um ein menschenwürdiges Leben kämpfenden Menschen im nachtotalitären Weißrussland heute (Secondhand-Zeit). Wahrlich, sie hätte auch den Büchnerpreis verdient, weil sie wie er die Geringsten sprechen lässt?! Anmerkungen |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/86/hjb23.htm
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