Wozu geht der Theologe ins Kino?


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Der alte Theologe geht immer noch ins Kino

Zum theologischen Mehrwert der Kunst. In der Art eines Tagebuchs

Hans- Jürgen Benedict

Für Peter Stolt zum 87.Geburtstag

Im Dezember 1992 erschien ein Themenheft der Pastoraltheologie mit dem Titel: Kirche geht ins Kino. Darin schrieb ich den ersten Artikel Der Theologe geht ins Kino. Weitere Artikel von Schneider-Quindeau, Dannowski, Kucharz und Marcel Martin sondierten auf anregende Weise das neue Terrain. Der Schriftleiter Peter Stolt schrieb zu diesem Heft zunächst vorsichtig begütigend, dann sich warm redend:

„Ich hoffe, kein Leser denkt bei diesem Themenheft: Die PTh gehe ins Allotria. Möglich wäre es. Trotz theologischer Filmarbeit hat diese Art Kultur wenig Anerkennung durch die praktische Theologie gewonnen. Kino – alltagsweltliche Zerstreuung. Kirche geht ins Kino – was soll sie da? Moralisieren, pädagogisieren, das ihr zuarbeitende Religiöse beklatschen? Später, später; zuerst soll sie zugucken – menschlich bepackt oder gelangweilt, wütend oder verblüfft, jedenfalls interessiert bei Menschengeschichten sein. Das Heft beginnt also mit also mit dem großen Kino-Erlebnis. Hans-Jürgen Benedict geht mitten in das große Theater mit all seinen Assoziationen und Einfällen, Kino als Tingeltangel und Offenbarung, als immer neue Schöpfung und Auslieferung an ein Jüngstes Gericht, Kino als Kunst und Kommerz, Erbauung und Verführung.“ (PTh 81,1992/12,469)

Ja, so war es, lieber Peter Stolt. Der Theologe Benedict berichtete über seine eigene Kino-Sozialisierung und die Kinos in der Nachkriegszeit in Hamburg-Bahrenfeld und dann über die Filme, die er in ganz verschiedenen Kinos, im Jahr 1992, gesehen hat - vom heruntergekommenen Ufa-Palast über das Open Air –Kino auf dem Rathausmarkt, das Savoy, Abaton bis zum UCI Multiplex in Bochum und dem Tuschinski in Amsterdam. Großartige Filme wie The Player von Robert Altmann, Night on Earth von Jim Jarmush, Die Liebenden von Pont Neuf von Carax, eher finstere wie Das Schweigen der Lämmer mit der großartigen Jodie Foster , Basic Instinct von Verhoeven, Hollywood-Durchschnittsware wie Batmans Rückkehr sowie Filme für Minderheiten wie Faßbinders Angst essen Seele auf in einer Retrospektive. Ich schloss den Artikel mit einer theologische Erinnerung an Kracauers Theorie des Films (auf Englisch: The Redemption of physical reality) und dem Abglanz der Gottebenbildlichkeit auf den Gesichtern der Schauspieler als „Errettung der inneren Wirklichkeit“.

Jetzt 20 Jahre später, inzwischen 72 Jahre alt, gehe ich natürlich immer noch ins Kino, auch in ganz verschiedene Filmtheater, einige der Kinos von damals gibt es nicht mehr. Nach wie vor gehe ich ins Abaton, wo ich in der von Katholischer und Evangelischer Akademie veranstalteten Filmreihe Licht & Dunkel mitmache, das heißt nach dem Film zum Filmgespräch zur Verfügung stehe, zuletzt bei Gloria, im Dezember für Gravity, im Abaton war ich auch beim Hamburger Filmfest und habe ich zuletzt Edgar Reitz Andere Heimat gesehen, bewegende Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Landschaften und Gesichtern von einem Glanz, den die Farbe nicht erreicht, ja die „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ wieder einmal. (Gleichzeitig las ich zu Büchners 200. Geburtstag den Hessischen Landboten und fantasierte, was wohl geschehen wäre, wenn der Schabbacher Pfarrer Wiegand den von der Kanzel verlesen hätte.) Fast überhaupt nicht mehr gehe ich in Multiplex-Kinos, aber auch ins Metropolis schaffe ich es momentan nicht mehr, dafür nebenan in die Hamburgische Staatsoper (zumeist zur Generalprobe). Vita brevis ars longa. Es gibt einfach zu viele gute kulturelle Angebote, wenn man neben dem Film noch Theater, Oper, Konzerte, Ausstellungen bildender Kunst und die neueste Literatur wahrnehmen will. Mir genügt in der Regel das Alabama auf Kampnagel, ein schlichtes Stadtteilkino, in dem die großen Filme 4-6 Wochen nach ihrer Premiere laufen, in drei Minuten bin ich dort, als Senior für 5 Euro, komme immer nach der Reklame: Das Mädchen Wadjda war der letzte Film, den ich dort gesehen, sowie Zwei Leben. Und wie es der Zufall will, im Juli war ich in Amsterdam, um ins kunstvoll renovierte Rijks-Museum zu gehen, die Nachtwache und die Vermeers in neuer Hängung zu sehen und bin bei der Gelegenheit dann nach über 20 Jahren noch mal ins Tuschinski gegangen. Dort lief Der große Gatsby in 3 D, leider nicht im opernähnlichen Hauptsaal, filmisch trotz der Opulenz der Ausstattung eher eine Enttäuschung.

Mein Heimkino ist der neue HD-Fernseher (kein Riesenbildschirm). Und da lasse ich mich dann spätabends von Arte oder 3 Sat überraschen – mit Filmen von Hitchcock (Frenzy), Pasolini (Teorema), Bunuel (Der diskrete Charme der Bourgeoisie), Truffaut (Die amerikanische Nacht) und vielen anderen. Gestern abend (28.10.2013, 20.15) sah ich auf Arte Fellinis La Strada aus dem Jahr 1954 mit Guilietta Masina und Anthony Quinn, und war so betroffen von diesem wunderbaren Film wie beim ersten Sehen – in der Liebe des naiven Mädchens Gelsomina zu dem sie ausbeutenden Zampano leuchtet die Gnade auf, in der sie sich befindet, ohne es zu wissen. Selten ist im Kino der Glaube daran, dass auch das unscheinbarste Leben einen Sinn hat, so überzeugend realisiert worden. Man weint in dem untrüglichen Gefühl dafür, dass man nur so zu sein braucht, wie Gelsomina es in jenem Moment ist, als sie dem Seiltänzer lauscht und sich ihr Gesichtsausdruck verlegen aufhellt, als er ihr sagt, Zampano liebt dich vielleicht. Jene merkwürdige Welt aus Bretterzäunen, Neubaugerippen, Niemandsland und Heideflächen, die mitlaufenden Kinder, die Darbietungen auf Marktplätzen, das ist sowohl das Italien der 50er Jahre wie die Seelenlandschaft der Protagonisten, die auf ihrem vorsintflutlichen Motorrad-Gefährt über die Landstraßen ziehen, ein Bild für die Unbehaustheit des Menschen. Jene arme Nachkriegswelt mit ihren kleinen Glücksmomenten, den franziskanischen Einsprengseln von Demut und Liebe, und dann der herzzerreißende Schluss, als sich Zampano, nachdem er von Gelsominas Tod erfahren hat, betrinkt und weinend am Meeresstrand zu Boden wirft – das kann nur das Kino, jenes Medium, das Epiphanien inszenieren kann wie kein anderes, ohne in Illusionismus abdriften zu müssen, wenn es denn großes Kino ist. Arte povera, die das Eis der Seele spaltet. „Ins Kino gegangen, geweint.“ (Kafka) In der Predigt können wir Theologen dem nur nacherzählend hinterherhinken, und wenn es uns sprachlich gelingt, bestenfalls etwas aufleuchten lassen von diesen Gleichniserzählungen der Moderne – etwa den Schluss von Chaplins Lichter der Großstadt, wie ihn Patrick Roth in Meine Reise zu Chaplin beschreibt. Oder das aufklarende Lächeln der Gelsomina im Gespräch mit Matto in Fellinis La Strada.

Um noch mal auf Peter Stolts Schriftleiter-Bemerkung vom pastoraltheologischen Allotria zurückzukommen – in den letzten 20 Jahren sind so viele filmpädagogische Bücher und populärtheologische Analysen erschienen, dass sie kaum noch zu zählen sind. In diesen Arbeiten konnten Theologen endlich einmal ihre kulturellen Vorlieben und Leidenschaften mit ihrer theologischen Wissenschaft verbinden, und deren hermeneutische Qualitäten an Film- und Populärkunst erproben. Stellvertretend für viele nenne ich Inge Kirsner, die in den letzten 15 Jahren (seit Erlösung im Film 1996) regelmäßig unter religionspädagogischem Aspekt dazu publizierte und Jörg Hermann, der die „Sinnmaschine Hollywood“ und die Sinnproduktion via Populärkultur im Erlebnishaushalt seiner Zeitgenossen wissenschaftlich eruiert hat. Voraussetzung dieser Analysen war: Man versteht Filme und andere kulturelle Produkte besser, wenn man sie theologisch interpretiert, entdeckt das Eigene im Fremden, kann das Fremdgewordene der Religion mithilfe der Kultur wieder zum Eigenen machen. Eine Win/Win-Situation also, wobei mir zuweilen die etwas zwanghafte Methode, Filme theologisch auszuleuchten, auch eine Kompensation des Bedeutungsverlusts von Theologie und Kirche scheint. Wir können offensichtlich nicht mehr selber so erzählen vom Reich Gottes, dass es aufleuchtet, wir brauchen die Medien Film, Literatur, Kunst, um überhaupt eine Ahnung vom ganz Anderen zu vermitteln.

Nun also die skeptische Frage der Redaktion nach dem theologischen Mehrwert der Kultur. Braucht die Kultur uns als Fragende überhaupt? Hilft uns die theologische Fragestellung ein Kunstwerk besser zu verstehen? Braucht die autonome Kunst, die sich längst von der Kirche emanzipiert hat, die theologische Interpretation noch, zu schweigen von der kirchlichen Vereinnahmung?

Dass die etwas tumbe Gelsomina in ihrer rührenden Zurückgebliebenheit uns hoch differenzierten Betrachtern etwas voraus hat, nämlich den Zustand der unbewussten Gnade, das ist schnell klar. Fellini hat diese in die eigene Kindheit zurückreichende Figur als einer gestaltet, dem dieser Zustand der Gnade ja auch verlorengegangen ist und der ihn über diese Figur filmisch wiedergewinnt. Deswegen stürzt nach einer Bemerkung Adornos wie vor der Musik Schuberts „die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen, so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen. ohne zu wissen warum; weil wir noch nicht so sind, wie jene Musik es verspricht; und im unbenannten Glück dessen, dass sie nur so zu sein braucht, dessen uns zu versichern, dass wir einmal so sein werden.“ Der intellektuelle Analytiker der Kunstwerke, der sie aufmerksam betrachtet, kommt durch sie wieder in einen Zustand der Gnade, der ihm durch die Reflexion verlorengegangen ist. Wie in Kleists Marionettentheater dem jungen Mann, dessen Gebärde der des antiken Splitterausziehers gleicht und in dem Augenblick, als ihm das bewusst wird, seine Grazie und Lieblichkeit für immer verliert. Dabei ist der Verlust der naiven Unmittelbarkeit die Voraussetzung dafür, jenen Zustand der Gnade und Identität zu beschreiben. Es ist eben so, dass die Kunst die Verheißungen der Religion, nennen wir sie Gnade, Barmherzigkeit, Sanftmut, Vergebung, Feindesliebe, Demut, mit einem Wort Dorothee Sölles allererst „realisiert“. Was angeschlagen und verheißen, aber selten genug theologisch-kirchlich ausgeführt und umgesetzt ist, wird sprachlich, musikalisch und bildlich verwirklicht, bekommt eine ästhetische Gestalt in Wort, Ton und Farbe. Die Romane Jean Pauls und die Döblins sind, wie Sölle gezeigt hat, voll von solchen Realisierungen. In den schönsten Momenten der Kunst findet sich, „wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein“, nach Kleist in dem Menschenkörper, „der entweder gar keins oder ein unendliches Bewußtsein hat, d.h. in dem Gliedermann oder in dem Gott.“

Es ist nun der Filmregisseur, der zwar wie jeder Mensch aus der Gnade gefallen ist, aber zugleich als Schöpfer der bewegten Bilder, Gott gleich, vor dem Hintergrund dieser Differenzerfahrung jene Wiedergewinnung der Gnade, wenn er denn ein großer Künstler ist, filmisch realisieren kann. Ich denke an die Schlussszene von City Lights – der Tramp steht vor dem Blumenladen, den die ehemals blinde Frau betreibt. Sie sieht den hilflos lächelnden Tramp vor dem Schaufenster, winkt ihn heran, ergreift seine Hand, um ihm ein Geldstück zu geben. Und in diesem Moment, in diesem Ergreifen und Spüren der Hand erkennt sie ihn als ihren unbekannten Wohltäter, der ihr geholfen hat, ihr Augenlicht zurück zu erhalten. Ihr Blick fragt: du warst das, und der Tramp nickt verlegen. Ein großer Moment des Wiedererkennens, in der Tradition der Anagnorisis, wie sie bei der Heimkehr des Odysseus und im biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn obwaltet. Das Gute an solchen Szenen ist, dass sie auch ohne die Kenntnis der antiken und biblischen Tradition auf den Zuschauer wirken. Auch der der christlichen Tradition Fernstehende, der Kirchenferne wird die Gnade dieses Moments spüren, wenn er nicht ganz unempfindlich ist. Im Gespräch mit einem Freund oder seiner Frau hinterher werden sie sich vielleicht austauschen über das, was sie da eigentlich so ergriffen hat. Hast du auch weinen müssen? Und warum?

Oder um ein Beispiel aus einem realistischen Roman des späten 19.Jahrhunderts zu nehmen, Fontanes Effi Briest. Instetten hat seine Frau Effi wegen ihres lange zurückliegenden Ehebruchs verstoßen, ihr die Tochter genommen, sie ist krank an Leib und Seele zu ihren Eltern zurückgekehrt. Und da schreibt ihre Dienerin Roswitha Instetten einen Brief, in dem sie ihn darum bittet, doch den Hund Rollo ihrer Herrin wiederzugeben, sie möchte das so gern, der könne sie auf ihren Spaziergängen begleiten. Und sie habe gesagt: „Der ist mir auch nicht gram. Das ist der Vorteil, daß sich die Tiere nicht so kümmern.“ Da sagt sein Freund: „Die ist uns über.“ Und Instetten nickt und gesteht ein, dass sein Leben verpfuscht ist. „Die ist uns über“. Roswitha ist uns über, Gelsomina ist uns über. Der Tramp Chaplins in City Lights ist uns über. Insofern ist es sinnvoll, solche Geschichten in Andachten und Predigten nachzuerzählen. Der Prediger leiht sich die Stimme der großen Kunst, um Glaubensdinge dem Hörer nahezubringen. Statt abstrakter theologischer Rede alltagsweltliche Exempel, Geschichten aus der Seelsorge, aus Sozialreportagen oder aus beispielhaft gelungenen Filmen und Erzählungen. Ein Theologe, dem das überzeugend gelingt, das Aufrufen großer Kunstwerke in Andachten und Predigten, ist Klaus Eulenberger, dessen sensible Morgendachten zu dem Besten gehören, was die geistliche Verkündigung im Rundfunk zu bieten hat. Er hat ein Gespür für „schöne Stellen“, die eine Glaubenswahrheit allererst durch ihre sprachliche Umsetzung glaubwürdig machen. So hat er jüngst Geschichten aus Christoph Ransmaiers Atlas eines ängstlichen Mannes in einer Andachtsserie zum Thema Himmel zitiert und an ihnen in zweieinhalb Minuten deutlich gemacht, was die Rede vom Himmel uns noch sagen kann. Ich verfahre ähnlich. In einer Glaubenssachen-Sendung (NDR Kultur 16.6.2013) fragte ich zum Schluss: Warum brauchen wir manchmal den Trost des Himmels? Es ist schon merkwürdig. Auch ansonsten gegenüber dem Christentum skeptische Dichter haben immer wieder angesichts des Todes an einer Jenseitshoffnung festgehalten. So heißt es am Schluss von Goethes Wahlverwandtschaften, nachdem die tragisch Liebenden Ottilie und Eduard gestorben und in einer Kapelle begraben sind: „So ruhen die Liebenden nebeneinander, Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere verwandte Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.“ In der Tat, welch freundlicher Augenblick und welch schöner Satz! Dichtung sagt etwas so schön, wie es nicht oder noch nicht ist. Das geschieht auch in der Schlussszene von Tschechows Drama Onkel Vanja, in der Sonja dem gedemütigten Onkel Vanja den Trost des himmlischen Jerusalem zuspricht, fast mit den Worten der Bibel.

„Onkel Vanja, wir werden leben … Und wenn unsere Stunde gekommen ist, werden wir ergeben sterben und dort im Jenseits sagen, daß wir gelitten haben, daß wir geweint haben, daß es uns bitter schwer war, und Gott wird sich unser erbarmen…Wie werden ausruhen, wir werden die Engel hören, wir werden den Himmel erblicken, Onkel Vanja.“

Onkel Vanja weint. Ich weiß, dieser Himmelstrost ist illusionär. Und doch bin ich, im Theater sitzend, angerührt von dieser himmlischen Trostrede und kann selbst nur mühsam die Tränen unterdrücken. Manchmal müssen wir das Versprechen des Himmels fast herbeilügen. Noch einmal Effi Briest. Effi ist krank in das elterliche Wohnhaus zurückgekehrt und versucht sich zu erholen. Sie macht mit ihrem Konfirmator, Pastor Niemeyer, einen Spaziergang. Und kommt an die Schaukel ihrer Mädchenzeit, springt drauf und fliegt durch die Luft. Sie erinnert sich an den Schaukelflug früherer Zeiten und ruft aus: „Ach, wie schön war es ,und wie mir die Luft wohltat; mir war als flög ich in den Himmel. Ob ich wohl hinein komme? sagen Sie mir’s alter Freund, sie müssen es wissen. Bitte, bitte.“ Niemeyer nahm ihren Kopf in seine alten Hände und gab ihr einen Kuß auf die Stirn und sagte. „Ja, Effi, du wirst.“ „Ja, Effi, du wirst in den Himmel kommen. Das heißt nichts anderes als: Du wirst bei Gott sein, an den du jetzt schon glaubst. Mehr können wir nicht sagen, aber auch nicht weniger. Und die Kunst kann es schöner als wir Pastoren, und deswegen dürfen, sollen wir sie zitieren, die großen, berührenden, gnadenhafte Momente der Literatur, des Films, der Oper, jener unverdienten Geschenke an eine Menschheit, die wohl nie so werden wird, wie jene Kunst es verspricht. Wir leihen uns ihre Stimme, ihre Töne, ihre Bilder.

Und manchmal gibt es sogar direkte theologische Nachhilfe von Fremdpropheten oder -poeten. Martin Walser (Über Rechtfertigung: eine Versuchung, 2012) ist im Alter nicht fromm geworden, aber er hat auf einmal theologische Themen für sich entdeckt, die mit der Lektüre des frühen Karl Barth, dem des Römerbriefs, zusammenhängen. Ihn fasziniert, wie hier „der Glaube nur als Glaube übrig (bleibt), ohne Selbstwert, ohne Eigenkraft, ohne eine Größe sein zu wollen, weder vor Gott noch vor den Menschen“. Er stehe, so Walser, voll und ganz zu der Aussage Barths, dass der Mensch vor Gott immer der Angeklagte bleibt. Das „Bedürfnis nach Rechtfertigung“ sei uns verlorengegangen. Wir heutigen Menschen seien solche, die andere und die Verhältnisse anklagen, anstatt die Schuld einmal bei uns selber zu suchen. Wir sollten endlich einmal zugeben, dass uns etwas fehlt, dass uns Gott fehlt. „Meine Muse ist der Mangel.“ Das treibe ihn zum Schreiben. Walser hat über seine Schriftstellerei mal gesagt, sie bestehe in dem Versuch „etwas so schön zu sagen, wie es noch nicht ist“. Genau diese Einsicht wendet er jetzt auf die Theologie an. Schon in „Mein Jenseits“ heißt es „der Glauben mache die Welt schöner als das Wissen.“ Und: „Glauben heißt die Welt so schön machen, wie sie nicht ist.“ Jetzt heißt es: gelungene Theologie sei eigentlich Dichtung. „Karl Barths Sprache ist nicht weniger Dichtung als die Sprache Nietzsches. Aber beide erinnern an eine Zeit, in der es den Unterschied zwischen Dichtung und Religion nicht gab. Die Psalmen. Das Alte und das Neue Testament“. Barth tanze genauso mit den Wörtern wie Zarathustra, aber es ist ein Tanz mit der Negation, „ein dialektischer Tanz“, aufgelöst in Bewegung, ins Umkreisen der Gnade, ins Erlebbar machen, dass uns etwas fehlt. Das ist eine wichtige Einsicht – Theologie als über etwas klug reden geht an den Menschen und ihren existentiellen Fragen vorbei, man muss in etwas sein und reden. Das fehlt in der Theologie von heute oft. In seinem vorletzten Roman Das dreizehnte Kapitel(den allerletzten habe ich noch nicht gelesen) versucht Walser das erzählerisch umzusetzen. Zwei ältere Menschen, beide eigentlich relativ glücklich verheiratet, eine Schriftsteller und eine Theologin, verlieben sich Briefe schreibend ineinander. Sie können und wollen sich nicht trennen, aber in ihrem Briefwechsel, in dem auch Karl Barths Unmöglichkeit des Glaubens eine Rolle spielt, gehen sie so aus sich heraus, dass sie ihre Ehepartner auch so verraten. „Unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einem Abgrund namens Wirklichkeit. Ich erlebe mich, mich hinüberhangelnd, ohne je drüben den Fuß setzen zu können auf etwas, was mich trägt. Ich lebe von Ihnen“, schreibt der Schriftsteller Basil Schlupp. Und die Theologieprofessorin Maja Schneilin, antwortet, ihr Hängebrückenbild bedarf einer evangelischen Korrektur. „Ich möchte sie verführen zum Brückenbau ins Voraussetzungslose. Wir wissen nicht, wo wir landen werden. Aber wir können‘s nicht lassen ins Voraussetzungslose zu bauen, Wort für Wort.“ Als der Mann der Theologin tödlich erkrankt, geht sie mit ihm auf eine letzte anstrengende Fahrradtour in Kanada (die Liebenden bleiben im e-mail-Kontakt), von der beide nicht zurückkehren. Bei Walser ist das Fiction, ein Roman, der Phantasie des Autors entsprungen, der immer wieder um das Thema der Liebe kreist, auch gerade das der Liebe im Alter, wenn es eigentlich schon zu spät ist für die ganz großen Gefühle und körperlichen Ekstasen - und solche doch noch mal entstehen. Da ich alt bin, soll ich noch der Liebe pflegen, sagt Sara und lacht. Und lächelnd erzählt Walser davon, nachdem er von den allzu anzüglichen erotischen Altmännerphantasien durchs Barthsche Christentum geheilt scheint.

Der Theologe muss aber auch deswegen auf die großen Kunstwerke achten, um die Stimme der Leidenden genauer wahrzunehmen. Er konnte das lernen bei Büchner in seinem Woyzeck, bei Dostojewskijs Idioten Fürst Myschkin, bei Marmeladow und Sonja in Verbrechen und Strafe. Er kann das gegenwärtig lernen bei Svetlana Alexijewitsch, der diesjährigen Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels, die den Preis am 13. Oktober in der Frankfurter Paulskirche erhielt. Für diese der Wirklichkeit verfallene Schriftstellerin ist die Welt ein Chor aus Stimmen, deren Schreien, Flüstern sie hört und wiedergibt in ihren halbdokumentarischen Büchern. Die Stimmen der sowjetischen Frauen im 2. Weltkrieg, die in der Roten Armee Dienst taten, und Hitler mit besiegten, die Stimmen der zehntausende von Liquidatoren, die als Soldaten und Feuerwehrleute den Reaktorbrand in Tschernobyl bekämpften, sich dabei atomar verseuchten und elendiglich krepierten, gehen sie nicht zu ihren Männern, sagte das Krankenhauspersonal den Ehefrauen, sie werden sie nicht mehr wiedererkennen, die jungen Soldaten, die in den sowjetischen Afghanistankrieg geschickt wurden und in Zinksärgen zu ihren Müttern zurückkehrten (Zinkjungens). Die Figuren haben kurze Auftritte, in denen die Essenz ihres Lebens aufleuchtet, weil ihnen die Alexijewitsch zuhört, ihre Erinnerungen kommen plötzlich mit einer Präzision und Leuchtkraft, sie haben etwas von einer Beichte, ja einem Gebet im Angesicht des Todes. Und diese eschatologische Gedrängtheit gibt ihnen eine religiöse Dimension, die Qualität von Gebeten, ohne dass das religiöse Vokabular fällt.

Morgens um 8.30 höre ich, wenn es irgend geht, „Am Morgen vorgelesen“ (NDR Kultur), jedenfalls regelmäßiger als die Morgenandachten um 7.50, die einem den Einstieg eher verderben können. Gerade liest Monika Maron aus ihrem Roman Zwischenspiel. Ich bin erstaunt, wie bei dieser skeptisch-lakonischen Autorin religiöse Fragen auftauchen – die Erzählerin hat auf dem Weg zur Beerdigung ihrer Schwiegermutter Olga hat sie eine Sehstörung, verfährt sich und trifft verstorbene Menschen aus ihrem Leben, Olga selber, den Freund Bruno, Margot und Erich Honecker, auch den Hund Nicki ihrer Kindheit. Es geht um Schuld. Denn Erich und Margot zeigten im Gespräch keine Schuldeinsicht. Schuldig zu werden sei unausweichlich. Schon Kinder in die Welt zu setzen, sei mit Schuld verbunden. Der kinderlos gebliebene Bruno meint, er habe seine Kinder viel zu sehr geliebt, als dass er es übers Herz gebracht hätte, sie zu zeugen. Weniger Kinder in der Welt, mehr Frieden, behauptet ein Bevölkerungswissenschaftler. Die Ich-Erzählerin erzählt von der Stasi-Tätigkeit ihres Ex-Ehemannes, der selbst seine neunjährige Tochter dafür einsetzte. Doch Nicki drängt zur nächsten Wurstbude. Nachdenklich und amüsiert zugleich setze ich mich danach an den Schreibtisch. Ja, so kann man die großen Fragen traktieren. Wer gut erzählt und uns dabei unterhält, im doppelten Sinn des Wortes, unterhaltsam am Leben erhält, ist Teil der großen Ökonomie Gottes. Oder wie es in Luthers Katechismus heißt: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu (…) mit allem mich täglich versorgt“ – auch dem Quantum guter Literatur und Unterhaltung (theologischer Mehrwert inbegriffen)!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/86/hjb24.htm
©Hans Jürgen Benedict, 2013