Wozu geht der Theologe ins Kino? |
Religion der ImmanenzEine RezensionStefan Schütze Kessler, Andreas: immanieren. Skizzen einer Religion der Immanenz Gottes in jesuanischer Perspektive. Ein Essay, Tredition-Verlag Hamburg 2012 Meine in „Tà katoptrizómena“ veröffentlichten „Paradigmen theologischen Denkens“[1] beziehen ihre Impulse hauptsächlich aus der aktuellen englischsprachigen theologischen und religionsphilosophischen Literatur, v.a. aus dem Bereich der zeitgenössischen liberalen nordamerikanischen Gegenwartstheologie. Immer wieder haben aber auch heutige deutsche theologische Autoren meinen Denkweg bereichert, etwa Wilhelm Gräb, Dietrich Zilleßen, Matthias Kröger, Fritz Schaller, und allen voran Gerd Theißen. In diese Reihe anregender, kritischer und für mich weiterführender aktueller deutscher theologischer Literatur lässt sich auch das 2012 erschienene kleine Büchlein „immanieren“ des Berner Theologen und Religionspädagogen Andreas Kessler stellen, das ich hier im Folgenden besprechen will. Kesslers „Essay“ antwortet auf das „postmetaphysische Weltbild“ vieler heutiger Menschen, indem er versucht, „Gott, Christentum und Religion“ konsequent „innerhalb von Immanenz“ zu denken bzw. zu überdenken und zu refigurieren. D.h., er will in „ametaphysische(n) und atranszendente(n) Interpretationen“ den christlichen (oder „jesuanischen“) Glauben bzw. den christlichen (oder „jesuanischen“) Blick auf die Welt „ohne Rückgriff auf Transzendenz … entfalten“, Gott, Welt und Mensch also in reiner Immanenz denken.[2] „Wenn es um Religion geht“, so Kesslers einleitende Grundthese, „dann müssen wir beim Menschen beginnen. Der Mensch macht die Religion, sie ist sein kulturelles Produkt, ähnlich der Komposition eines Liedes, dem Malen eines Bildes, oder dem Austüfteln eines Spiels, nur komplexer.“ Das heißt für ihn aber nicht, dass Religion reine Illusion oder Ideologie wäre sie ist vielmehr „eine notwendige, weil den Menschen menschlich machende Erfindung“[3] sie hilft dem Menschen sein Leben in seinen Begrenzungen und Potentialen zu bejahen und in ihm ganz präsent zu sein. Weil der Mensch ein endliches Wesen ist, ein Wesen ohne letzte Orientierung, das mit der radikalen „Unentscheidbarkeit“ der Sinnfragen und der Wahrheitsfragen seines Lebens zurechtkommen muss, erfindet (oder wie Kessler lieber sagen möchte: „komponiert“) er Religion, „greift … auf Skripte, Zeichen und Symbole aller Art zurück, die ihn trotz seiner Orientierungslosigkeit einigermaßen leben lassen“. Er „produziert, übernimmt und adaptiert Narrationen (im weitesten Sinn von einfachen Klischees bis zur hochkomplexen Liturgie) und sucht sich in ihnen, mit ihnen und durch sie seinen Platz in der Welt“; anders gesagt: „Der Mensch ist ein narrativer Körper, ein sich selbst erzählender Organismus.“[4] Narrativ interpretiert er seine Existenz, politisch, moralisch, wissenschaftlich, ökonomisch, künstlerisch und eben „nicht zuletzt“ religiös. Die Narrationen der Religionen waren und sind oft Versuche des Entwurfs „großer Erzählungen“, die dem Menschen helfen sollten, seine Endlichkeit zu tranzzendieren, die „Sinngrenze“ der conditio humana auf einen transzendenten „Sinngrund“ hin zu überschreiten. Doch Kessler bestreitet, dass ein solches Überschreiten der menschlichen „Sinngrenze“ überhaupt möglich oder auch nur wünschenswert ist. Stattdessen plädiert er dafür, religiös heute „kleine“, aber „lebbare“ Narrationen zu „konstruieren und komponieren … (am besten) ohne große Prätention“[5] Narrationen von Sinn innerhalb der Endlichkeiten und Begrenztheiten unseres Daseins, weil wir wissen, dass uns „ein erstes und ein letztes Wort … versagt“ bleibt (Weidenfels)[6], dass wir Anfang und Ende unseres Lebens, dass wir das große Ganze nicht ergreifen können. Wenn wir uns in unserer Endlichkeit bescheiden, uns (wie es Albert Schweizer formuliert hat) als Leben verstehen „inmitten von Leben, das leben will“, dann öffnet uns diese Bescheidung einen poetischen und zugleich erotischen „Möglichkeitsraum“, wird Bedingung der Möglichkeit „eines Eros, welcher der natürlichen Evolution die Stirn bietet“ und damit für unser endliches Leben „humanisierend“ und schützend wirkt.[7] „Transzendenz“ ist dabei für Kessler jedoch ein höchst problematisches Wort, weil es die „Verheißung einer Über- oder Unterschreitung des Menschlichen“ suggeriert, die für eine postmetaphysische Theologie nicht nur unmöglich, sondern auch tendenziell gefährlich, weil dehumanisierend und totalisierend ist. „In der Liebe, im Eros, … aber auch beim Tauchen … machen Menschen heute … Erfahrungen des Überschreitens“; doch was sie dabei für „Berührungen des göttlichen Saums“ halten, ist in Wahrheit nur eine „Erfahrung der Erweiterung des menschenmöglichen Möglichkeitsraumes“; verbleibt in der Immanenz und bedeutet kein „Überschreiten der humanen Kondition“.[8] D. h., auch „sogenannte Transzendenzerfahrungen sind Überschreitungen und Verweiserfahrungen innerhalb der Immanenz. In ihnen kommt der Mensch näher an seine Grenze, aber er berührt nicht ein Anders, das jenseits dieser Grenze läge.[9] Auch das Wort „Gott“ kann darum nicht auf eine (unmögliche!) Dimension von Transzendenz jenseits der menschlichen Kondition zielen. „Gott steht nicht für das Letztgültige, sondern für die Abwesenheit einer letzten Instanz … Er ist all das nicht, was Essenz, Wesen, Seinsgrund etc. behauptet“, sondern „Gott ist … Grenzsymbol“, „verdichtete Endlichkeit“, „Symbol für das nie ganz mögliche, jedoch fragmentarisch sich ereignende Menschliche in der Welt“. Das Wort „Gott“ ist ein „Spiegel“, den der Mensch sich selber vorhält, in dem er seine Rätselhaftigkeit, seine Fragwürdigkeit erkennt, aber in dem er sie gerade nicht „auflösen“ kann.[10] Mythos und religiöse Narration erzählen darum in Wahrheit nicht von einer Wirklichkeit jenseits des Menschlichen, sondern vom „Gott der humanen Grenze“, von Momenten verdichteter Immanenz, aber nicht von Transzendenz.[11] Auch das Wort „Liebe“ ist „ein äußerst schillernder Begriff“[12]; es steht wie kein anderes für die Transzendenzsehnsüchte des Menschen und wird darum gerne mit Gott assoziiert. Aber auch alle Liebe, die wir erfahren oder geben können, überschreitet nicht unsere menschliche Kondition; „es ist“ darum auch „mit keiner metaphysischen Umarmung von einem himmlischen Vater zu rechnen“.[13] Als nächstes unterzieht Kessler diesen nichtmetaphysischen Gottesbegriff einigen „Abgrenzungen“, die ihn weiter klären: Der immanente „Gott der Grenze“ ist nicht die Entleerung des Göttlichen in politisches Engagement wie in der „Gott-ist-tot-Theologie“, das ist immer noch ein metaphysischer Gedanke. Er ist auch nicht der „letzte(r) Grund“ in meiner eigenen Tiefe, wie es die Mystik behauptet. Er ist nicht das uns immer entzogene „ganz Andere(n)“ der negativen Theologie.[14] Er ist nicht „das unverhofft Kommende, das à venir“ der Derrida’schen Dekonstruktion, denn die „religiöse Sehnsucht“ nach dem Kommen des Unmöglichen ist, so Kessler, immer noch essentialistisch. Er ist nicht der teleologische „Fluchtpunkt“ der menschlichen Geschichte, auf die die Kenosis Gottes in die Säkularität nach Vattimo zielt. Er ist nicht das „absolut Menschliche“, das der westliche Humanismus postuliert. Er kann nicht „funktional für alle möglichen Herrlichkeiten und Scheußlichkeiten instrumentalisiert werden wie im Relativismus“.[15] Er ist nicht der „unabgegolten(e), unbedingt(e), unverfügbar(e) … Überschuss“[16] des Sinns im menschlichen Leben. „Sicher gibt es da im Leben ein gespürtes und erdachtes Mehr, einen Überhang, ein surplus, etwas, das einem (sic!) im Moment unbedingt angeht“; doch darin wird das menschliche Bedingtsein eben nicht in Richtung auf ein Unbedingtes überschritten. „Im Bedingten ist Gott zu sichten“, denn „(w)o das Bedingtsein radikal angenommen wird“, nur da „eröffnet sich der Horizont der Möglichkeiten“, da „offenbart“ sich „der Moment der Annahme, der Gabe“.[17] Was heißt nun „Immanenz“ bzw. „immanieren“ als neue Form der Religion nach dem Ende der Metaphysik für Kessler genauer? „Immanenz“ definiert er als „diese äußerst belebte und belebende breite Fläche (Landschaft, Feld), die ausmessbar ist und die es auszumessen gilt bis hin zum Horizont. … Dabei kann der Horizont immer wieder erweitert werden, aber er wird nie überstiegen“. „Immanieren“ heißt dann: Ich arbeite in die immanente, aber „schier unendlich“ vielfältige „Textur unterschiedlichster Fäden … meinen eigenen Faden ein, ich komponiere mit ihm mein Leben als narrativer Körper“; ich suche „in der Immanenz den roten Faden“[18], obwohl ich weiß, dass es ihn eigentlich außerhalb meines „Komponieren(s) und Dichten(s)“ gar nicht gibt bzw. geben kann. „Immanieren heißt leben ohne zu flüchten“, weder in „große Erzählungen“ noch in „verzweifelte Postulate“. „Immanieren heißt affirmativ leben, Ja sagen zum Leben, … im Status des Undurchdringlichen … vagabundieren“; und „es heißt auch, die unangenehmen, öden, flachen Zeiten anzunehmen, sie ironisch zu umarmen“[19]. „Immanieren“ heißt auch, sich, soweit es geht, „innerhalb der Immanenz (zu) erweitern“, in Erfahrungen des Überschwangs, des „Exzess(es)“, des „Überwältigtsein(s)“[20], die meine Immanenz intensivieren, aber doch „nicht auf ein substantiell oder ontologisch Anderes“ verweisen, also gesteigerte Immanenzerfahrungen, aber keine Transzendenzerfahrungen sind. „Wer hier meint transzendieren zu müssen, der raubt den Immanenzwiderfahrnissen ihre eigene, flüchtige Gegenwart“ und „dehumanisiert“ sie damit.[21] „Gott“ ist nicht jenseits der Grenze, er ist unser Wort für die Grenze, sein Präsentwerden (das aber, so Kessler, keine „Metaphysik der Präsenz“ impliziert) in unserer Immanenz bedeutet „gesteigerte Immanenz“, nicht ihre Über- oder Unterschreitung.[22] Erzählungen, „Narrationen“ von „Gott“ sind darum zwar keine „großen Erzählungen“ aber „großartige Erzählungen“[23], die uns in unserer Immanenz „narrative, verdichtete Selbsterschließungsmöglichkeiten“ bieten, ohne die menschliche Kondition zu sprengen und uns damit zu „dehumanisieren“.[24] Was bedeutet das religiöse „immanieren“ nach Kessler für die Christologie und den Umgang mit biblischen Texten? Jesus ist in „immanierender“ Perspektive kein metaphysischer Gott auf Erden, auch christologisch kann die Immanenz nicht überschritten werden. „Von den Evangelisten als Theisten und Metaphysikern, wie auch von allen in der Tradition des Paulus stehenden Gottesdenkern gilt es sich dort in aller Höflichkeit zu verabschieden …, wo ihr Hang zur großen Erzählung, zum christologischen Mystizismus, zum euphorischen Bestätigungsdiskurs humane Kondition und somit humane Narration verfehlt“; sie können aber weiter rezipiert werden als „die Negativfolie immanierender Theologie“, soweit sie die „Palette von großartigen Geschichten“, die die ersten Christen bei Jesus „erlebte(n), hörte(n) und erzählt bekam(en)“ für uns lebendig erhalten, uns dazu helfen, uns als „Christinnen, Jesuanerinnen“ weiter an diesen Geschichten „immanierend ab(zu)mühen“ und in ihnen Erweiterungsmöglichkeiten unserer Immanenz zu erspüren.[25] Den grundsätzlichen Umgang mit biblischen Texten und Symbolen, den Kessler dabei vorschlägt, nennt er „Kompostieren“: Alte „triumphalistische“ Deutungen der Bibel müssen revidiert werden so wie altes, nicht mehr genießbares Obst beim Kompostieren durch den „Prozess der Vergärung“ in neues „nährreiches Substrat“ verwandelt wird. Biblische Narrationen und Symbole „kompostieren“ heißt, dass sie durch einen Reinterpretationsprozess „immanierend verdichtet“ werden, d.h. „immanierend“ in unsere „kontingente Lebenslandschaft“ ausgetragen. Am Beispiel des Symbols des „Kreuzes“ verdeutlicht sieht dieses „Kompostieren“ so aus: Die alten absolutistischen Kreuzesinterpretationen einer göttlichen Satisfaktion am Kreuz müssen aufgegeben werden, aber das Kreuz als Symbol wird dabei nicht abgewertet oder abgeschafft, sondern durch seine „Kompostierung“ gerade in seiner „vitalisierenden Energie“ neu zur Geltung gebracht und „wiederentdeckt“. „Es ist irritierend, wenn sogenannte Freidenker und Humanisten Kreuze auf Berggipfeln verbieten wollen, denn gerade das Kreuz ist ein Symbol menschlicher Erfahrung par excellence. Im Namen aller möglichen Kulturen ohne Grenze wurde und wird unterdrückt, Leid angetan, gefoltert und getötet: gekreuzigt. Das Kreuz zeigt diese zerstörerische Grenzenlosigkeit, die Enthumanisierung an, es ist symbolischer Anwalt körperlicher Souveränität, Anwalt des narrativen Körpers (d.h., des Menschen), seiner biopoetischen Sammlung, eine Demonstration gegen unkultiviertes, schlecht komponiertes Immanieren.“[26] Die „dekompostierende“ Reinterpretation biblischer Texte und Symbole begrenzt, schützt, provoziert, lädt ein und schafft Vertrauen, hilft Menschen von heute, „nicht mit dem Fragen aufzuhören, das immanenterweise in seiner Breite nicht Auszulotende der Kontingenzverstrickung in seinen Grenzen auszuloten, auf Beziehung zu bauen, einander (großartige) Geschichten, ein Seufzen, ein Stöhnen, ein Nichtloslassen zu entlocken“.[27] Religion kann in dieser Perspektive „(in Anlehnung an Gerd Theißen)“ verstanden werden als „ein kulturelles (vom Menschen gemachtes, veränderbares) Zeichensystem (mit den religionstypischen Zeichen Mythos, Ritus, Ethos), das Lebensgewinn verheißt (individuell und sozial) durch Entsprechung zur menschlichen Kondition als immanenter Grenzexistenz (und nicht als Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit), deren fluktuierende Grenze symbolisch als ‚Gott‘ zu verstehen und zu komponieren ist“.[28] An diesem letzten Punkt, der Frage des Gegenstandes der religiösen „Entsprechung“, an dem sich Kessler partiell von Theißen (und von mir) unterscheidet, kann der Sinn des Kesslerschen Religionskonzeptes des „Immanierens“ m. E. nochmals besonders deutlich gemacht werden. Kessler selbst tut dies am Ende seines Buches mit den Worten: „Wo in den konventionellen Religionen eine Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit als Metaphysisches, Übernatürliches geglaubt und in Szene gesetzt wird, bezieht sich eine Religion der Immanenz Gottes in jesuanischer Tradition auf eine kollektiv auszuhandelnde Form Gottes als Grenze innerhalb der menschenmöglichen Möglichkeitslandschaft. Dieser Gott wird konstruiert und induziert aus der Fragwürdigkeit des Lebens und sekundiert und inspiriert durch das Immanieren in endlicherweise nicht auslotbaren Narrativen, insbesondere in jenen jesuanischen Charakters.“[29] Kesslers Buch schließt mit einer abschließenden Gedankenskizze zu einer möglichen „Religionspädagogik der Immanenz Gottes“, die seiner Rekonstruktion religiösen Lebens als „Immanieren in jesuanischer Perspektive“ entspricht.[30] Wie ist nun Kesslers Buch und Ansatz im Rahmen meiner Suche nach einem „für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben“ zu bewerten? Auch aus der Perspektive eines „nachtheistischen“ religiösen Ansatzes, wie ich ihn in meinen „Paradigmen theologischen Denkens“ rezipiert und ausgewertet habe, ist Kessler zunächst unbedingt darin zuzustimmen, dass alle unsere religiöse „Narrationen“ (in dieser Perspektive genauso wie unsere politischen, moralischen, wissenschaftlichen, ökonomischen oder künstlerischen Weltinterpretationen) auf der ganzen Linie kulturelle menschliche Konstruktionen (oder „Kompositionen“) sind „nicht anders als eine Dichtung“, wie Immanuel Kant es formuliert hat[31], „human language, based on man's encounter with reality, changing through the millenia“ nach Paul Tillich[32], oder in den Worten Gordon Kaufmans eine „through-and-through … constructive activity of the imagination“[33], von Menschen menschlich hervorgebrachte und eben nicht übernatürlich „offenbarte“ Produkte. „Offenbarung“ kann für eine heute plausible religiöse Wirklichkeitsperspektive nicht mehr die „übernatürliche“ Mitteilung zeitloser, übermenschlicher Wahrheiten sein, sondern muss als „Selbsterschließung von Wirklichkeit“ rekonstruiert werden, als „natürliche“ Vertiefung und Verdichtung unserer Immanenz, oder als „the experience in which an ultimate concern grasps the human mind“, wie Paul Tillich es formuliert hat[34]. Aber es bleibt für mich bei der konkreten Durchführung dieses religionskonstruktivistischen Ansatzes bei Kessler doch die Frage: Besteht, wenn man dabei jeden „Transzendenzhorizont“ aus der Religion vollständig herausnimmt, die „Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit“ nach Theißens Definition von Religion, wie immer man diese „letzte Wirklichkeit“ auch näher bestimmt, ganz entfernt, nicht die Gefahr, dass der menschliche Glaube damit doch auch an Tiefe und Dynamik (Tillich), an Kraft und Viabilität verliert, weil der Glaube auch aus „anatheistischer“ Perspektive doch immerhin die Antwort auf ein „Geheimnis“ ist, sich „in Face of Mystery“ (Gordon Kaufman[35]) entfaltet, auf einen zwar niemals fassbaren, aber doch stets vorauszusetzenden abgründigen Grund der Wirklichkeit bezieht, der alle Versuche menschlicher Bemächtigung der Welt, ihrer „Entzauberung“ und restlosen „Vermessung“ relativierend und heilsam entgegensteht? Verliert Religion nicht doch am Ende ihre transformative Kraft, wenn man das „Mehr als alles“, das es auch nach Dorothee Sölles a-theistischer Religion und Mystik geben muss, gänzlich bestreitet?[36] Macht es nicht epistemologisch und religiös vielmehr Sinn, mit Kant daran festzuhalten, dass unsere immanierenden Weltkonstruktionen, die „Erscheinungswelt“, die sie konstituieren, doch nicht Alles, nicht das Ganze, sondern lediglich eine „Insel“ sind, „umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane“[37], über den wir zwar kein „Wissen“ erwerben können, es sei um den Preis des „dialektischen Scheins“, den wir aber als „das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten … verlangt“[38] dennoch voraussetzen müssen, um unsere immanente Welt überhaupt konsistent denken zu können? Anders gefragt: Ist die Wirklichkeit wirklich vollständig „ausmessbar“[39], wie Kessler behauptet? Ist es nicht möglich, auch innerhalb eines „postmetaphysischen Weltbildes“, nach dem „Ende der großen Erzählungen“ dennoch an der tastenden und ahnenden Beschreibung eines „Transzendenzhorizontes“ der Wirklichkeit festzuhalten eines Horizontes einer begrenzenden Alterität, der nicht mehr im Sinne einer „starken Transzendenz“ als etwas „Metaphysisches, Übernatürliches“[40] figuriert ist, wie im klassischen Theismus, sondern „anatheistisch“ (Richard Kearney[41]) im Sinne einer „weak transcendence“ (John Caputo[42]), eines tastenden und suchenden, aber dennoch wagenden „sense of the infinite in the finite“ (Schleiermacher[43]), der Intuition eines „elswhere … that is impossible to think but without which thinking is impossible“ (Mark Taylor[44]), einer „immanenten Transzendenz“, die die Immanenz unseres Lebens nicht mehr dualistisch in ein Jenseits transzendiert, aber auch nicht monistisch einfach mit ihr verschmilzt, sondern als ein Berührtwerden durch ihre „Tiefe“ (Paul Tillich[45]), ihr „bottomless deep“ (Catherine Keller[46]) bestimmt werden kann als religiöser „Sinn“ (Schleiermacher) für das unergründliche Geheimnis in, mit und unter unserer physischen Wirklichkeit provisorisch bestimmt etwa als „serendipitous creativity“ (Gordon Kaufman[47]) oder als das „arising and passing that does not itself arise and pass away“ (Mark Taylor[48]) oder als „the letting be at the heart of the universe“ (Catherine Keller[49]), oder als „something ‚more’ in the stranger than the human … that in part, at least exceeds the finite presence of the person before me“ (Richard Kearney[50]) oder eben einfach als der „Horizont des unbedingt Menschlichen“ (Fritz Schaller[51]), den Immanuel Kant im „Streit der Fakultäten“ sehr poetisch so beschrieben hat: „Es ist etwas in uns, was zu bewundern wir niemals aufhören können, wenn wir es einmal ins Auge gefasst haben, und dieses ist zugleich dasjenige, was die Menschheit in der Idee zu einer Würde erhebt, die man am Menschen als Gegenstand der Erfahrung nicht vermuten sollte. …“[52] Wir Menschen sind immanente Wesen und können die Signaturen unserer Immanenz nicht überschreiten. In diesem Sinne ist auch alle religiöse Lebensvertiefung tatsächlich, wie Kessler sagt, nur innerhalb der Grenzen der menschlichen Kondition möglich, eröffnet uns keinen Zugang zu einer nicht kontingenten Überwelt oder Hinterwelt. Dennoch kann mit Gordon Kaufman, meine ich, auch über Kessler hinaus daran festgehalten werden, dass all unser „immanieren“ immer auch „In Face of Mystery“[53] geschieht. Auch durch diese Perspektive überschreiten wir die Grenzen unserer menschlichen Kondition nicht, bleiben ontologisch und epistemologisch im Raum der „Immanenz“, aber sie wird an den „Brüchen und Rissen“ (Derrida) unseres In-der-Welt-Seins, von ihren Grenzen her, an die wir stoßen, ohne sie überschreiten zu können, doch gleichsam „transparent“ für die Ahnung eines Anderen[54]), das unsere menschliche Kondition gründig-abgründig umfängt (nach Karl Jaspers „das ‚Umgreifende‘ hinter allem, das alles umgreift“[55], und das in unseren „Chiffern“ für Transzendenz gleichsam „aufleuchtet“[56]). Auch in diesem geahnten und immer undeutlichen „Transparentwerden“ der Grenzen unserer Wirklichkeit für ihr „Anderes“ ist „allenfalls ein Hauch von Gott, ein flüchtig vorübergehender (Ex 33, 18-23), ein widersprüchlicher“ (Zilleßen)[57], das „unmögliche Ereignis“ eines Anderen, das zu uns kommt, ohne doch je anzukommen, weder absent bleiben noch präsent werden kann (Derrida), bleibt „elusive“, undeutlich und trügerisch: „Wir sehen hier wie durch einen Spiegel ein dunkles Bild“ (1 Kor 13, 12). Es ist aber vielleicht gerade die „Gebrochenheit“ und „Undeutlichkeit“ unserer immanierenden Weltorientierung, sind eben die „Risse“ und „Brüche“ unserer Wirklichkeitserfahrung, die der Wirklichkeit für uns doch wenigstens in unseren Sehnsüchten und Träumen eine gewisse flüchtige „Transparenz“ verleihen, oder wie es Leonard Cohen in seinem „Anthem“ so poetisch formuliert und besungen hat: „There is a crack in everything. That’s how the light comes in.“[58] Es gibt m. E. bei allen Differenzen eine gewisse Nähe von Kesslers restloser Reduktion der Wirklichkeit auf reine „Immanenz“ zu Don Cupitts „non-realistischer“ Theologie und ihrem Verständnis von religiöser Existenz als „ekstatischer Immanenz“[59]. Darum kann man an ihn auch eine vergleichbare Rückfrage stellen, wie ich sie in meinem „‘Gott‘, ‚Mensch‘ und ‚Welt’ im 21. Jahrhundert“ an Cupitt gestellt habe: Liegt hier nicht doch eine unzulässige „closure“ einer ihrem Wesen nach eigentlich unabschließbaren Frage vor, und ist darum nicht auch gegen Kessler Christensons Warnung geltend zu machen, dass in der Gottesfrage „even the pretense of closure is a symptom of lack of understanding”[60]? Kesslers Rede von den „großartigen Erzählungen“ der Bibel erscheint mir sehr hilfreich, aber noch weiterführender bleibt für mich hier Theißens Formulierung von den „kleinen Metaerzählungen“ der Bibel, die nach dem Ende der „großen Erzählungen“ die „Leerstelle des Sinns“ ausfüllen, die die neue Erzählung der Evolution (die Theißen als „letzte große Erzählung“ der Postmoderne deutet) hinterlässt. Diese „kleinen Meta-Erzählungen“ haben, so Theißen, nicht den Anspruch, das Ganze jetzt schon überschauen und zuverlässig deuten zu können, wie ihn die alten „großen Meta-Erzählungen“ hatten. Aber sie sind doch vielleicht tastende „Prolepsen“ der Zukunft und wichtige adaptive „Durchbrüche“ in der kulturellen Evolution der Menschheit. „Was sich nämlich in ihr als adaptiv herausgestellt hat, ist ein Netzwerk von vielen Axiomen und Grundmotiven, die in kleinen Geschichten konkretisiert werden … Für den antiselektiven Imperativ reichen Erzählungen wie die vom Überleben der Sintflut, von der Fürbitte Abrahams für Sodom, vom Verzeihen Josephs, vom Exodus der vom Kindermord bedrohten Israeliten bis hin zur Geschichte vom barmherzigen Samariter. Wir brauchen diese kleinen Geschichten, denn die ‚großen Erzählungen‘ drohen immer wieder, intolerant zu werden.“[61] Auch Kesslers Bild vom „Kompostieren“ biblischer Texte und Symbole ist sicher sehr originell und hilfreich, ich selbst würde aber auch hier lieber dabei bleiben, mit Gordon Kaufman von der Aufgabe ihrer „Rekonstruktion“[62] oder mit Keith Ward[63] und Peter Hodgson[64] von der Aufgabe ihrer „Revision“[65] zu reden, mit dem Ziel, dass das „potential for redemptive transformation” dieser biblischen Bilder und Texte durch ihre rekonstruktive theologische Revision bzw. Refiguration „will be released anew”[66] Theologische Rekonstruktions- oder Revisionsarbeit antwortet dabei nach Hodgson auf die “challenges” unseres “deconstructive age”, ohne sich ihnen zu entziehen, aber auch ohne sich einem postmodernen “anything goes” einfach unkritisch anzpassen.[67] Sie stellt biblische Bilder und Geschichten nicht mehr in den Rahmen eines großen allumfassenden Systems, ordnet sie nicht mehr in den Kontext einer “großen theologischen Erzählung” ein. “Rather what is called for is a variety of constructive proposals and experiments, each limited and partial, each contributing to an unattainable and inexpressible whole from a particular angle of vision or insight.“[68] Trotz dieser wichtigen Einschränkungen und Caveats möche ich abschließend aber nochmals die aus meiner Sicht großen Stärken von Kesslers innovativer Rekonstruktion einer heute plausibilisierbaren religiösen Weltpespektive betonen, ihre bei allen Differenzen dennoch bestehende große Nähe zur religiösen Denkfolie, die ich in meinen „Paradigmen theologischen Denkens“ zusammengestellt und entwickelt habe. Auch in einer nahmetaphysischen Zeit „intimations of transcendence“ (McFague[69]) in der Welt zu suchen und zu benennen, darf auch aus meiner Sicht nie mehr zu einer dualistischen Verdoppelung der Wirklichkeit führen, zu einer Flucht aus der Kontingenz und Endlichkeit der menschlichen Kondition in eine Überwelt und Übernatur, zu totalisierenden und absolutistischen Glaubensformen, oder zu einem dehumanisierenden Überspielen unserer menschlichen Grenzen. Hierin stimme ich Kessler uneingeschränkt zu. Auch „anatheistisch“ verstanden heißt Glauben, wie Kessler es so schön formuliert, trotz unserer menschlichen Grenzen „affirmativ leben“, dabei „auch, die unangenehmen, öden, flachen Zeiten anzunehmen, sie ironisch zu umarmen“[70], oder mit anderen Worten: auch angesichts der unüberschreitbaren Grenzen unserer immanenten Existenz, und selbst angesichts der schlimmsten Exzesse von Unrecht und Gewalt „trotzdem Ja zum Leben (zu) sagen“ (Viktor Emanuel Frankl[71]). Einen weiteren wirklich hilfreichen und anregenden Beitrag zu einer „heute sag- und tragfähige“ Neubestimmung der Gestalt und der Rahmenbedingungen eines solchen nicht absoluten, aber auch nicht dissoluten, sondern „resoluten“ Glaubens (Catherine Keller[72]) beigesteuert zu haben, ist für mich die größte Stärke und der wichtigste Ertrag von Kesslers kleinem, aber gehaltvollen Buch. Literaturverzeichnis
Anmerkungen
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/86/sts09.htm
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