Resonanzen & Kompetenzen


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Rätselwelten

Vorstellungen ausgewählter Videoclips XLI

Andreas Mertin

Die 41. Videoclipkolumne des Magazins umfasst dieses Mal einige Werke verschiedener Künstlerinnen und Künstler aus den Jahren 2012 und 2013, die man unter dem Stichwort der Rätselwelten bzw. der Rätselhaftigkeit miteinander verbinden könnte.


Gesaffelstein – Pursuit – 2013 – 3:29

Gesaffelstein ist ein 1985 geborener französischer DJ, Musiker und Musikproduzent, der vor allem auch für andere Musiker wie Lana del Rey, Kanye West oder Justice gearbeitet hat. 2013 erschien sein erstes Album Aleph. Pursuit, seine erste Single, erschien ebenfalls 2013. Unter der Regie von Fleur & Manu wurde dazu der Videoclip produziert. Reduktionen auf elementare Situationen und binäre Codierungen spielen eine wesentliche Rolle in diesem Clip: Mann/Frau – Schwarz/Weiß – Gut/Böse. Dabei gehen verschiedene Situationen, die man meint, intuitiv erfassen zu können, nahezu bruchlos ineinander über.

Zwei kleine Kinder in einem weißen Raum mit schwarzem Quadrat. Schnitt. Ein Mädchen und ein Junge mit einer Handprothese in einen Saal eines Schlosses (in dem auch das schwarze Quadrat steht). Schnitt. Eine Szene mit einem Ritterschlag des jungen Mannes mit der Handprothese (der dabei die Position von Rodins Denker einnimmt), der Gang durch eine Serverfarm. Schnitt. Eine Gruppe schwarz und weiß gekleideter Menschen in einer Fabrikhalle, im Vordergrund ein (Hochzeits?)Paar, wobei der junge Mann wieder die Handprothese hat. Schnitt. Ein Raum mit einer Flugzeugturbine. Schnitt. Eine Gruppe identischer auszubildender Soldaten in der Fabrikhalle mit Maschinengewehren in der Hand und einem Ausbilder mit Prothese. Schnitt. Eine goldene Statue eines Kriegers mit Handprothese (freilich dieses Mal der linken Hand). Schnitt. Der Foto-Shooting einer nackten jungen Frau mit einer goldenen Handprothese. An dieser Stelle kommt es zum Bruch der Darstellung, denn nun wird der Betrachter direkt von den Protagonisten einbezogen: als die Kamera sich zurückzieht, durchschreitet sie ein Auto indem eine Frau sitzt, die den Betrachter direkt anblickt, direkt danach taucht eine zweite Frau auf, die den Betrachter anschreit und anspuckt. Die Kamera lässt nun ein Flugzeug in den Blick treten, das von Wissenschaftlern und Ingenieuren umgeben ist. Es ist eine Szene wie in einen James-Bond-Film in der Q-Abteilung.

Nach dem nächsten Schnitt sehen wir junge Menschen in einer Disko tanzen, was sich dann beim Zurückfahren der Kamera als Video-Szene auf einem Bildschirm im Labor entpuppt. Als freilich die Kamera weiter zurückfährt tauchen zahlreiche Maschinengewehre wie in einem Ego-Shooter auf (mit leichten Matrix-Assoziationen). Schnitt. Eine liegende Figur unter einem Tuch. Schnitt. Der Thronsaal des Schlosses mit dem jungen Mann mit der Prothese und einen leeren Rahmen. Schnitt. Eine Gruppe identischer Männer, die gegenseitig auf sich verweisen, wobei einer der Männer eine Armprothese hat und dieser zeigt auf den Betrachter. Schnitt. Eine Skelett mit Herrscherattributen und Prothese an der linken Hand in einem Glas- bzw. Ausstellungskäfig. Ende des Clips.

Offenkundig gibt es mehrere nicht nur durch die verschiedenen Drehorte bedingte Inszenierungsebenen, die über das Symbol der Prothese miteinander verknüpft werden. Dominant ist die Ebene der Industriehalle, in der nicht nur die Hochzeit, die Soldatenausbildung und der militärisch-industrielle Komplex entfaltet wird, sondern auch die Statuen des Helden und das Skelett verortet werden. Dazu tritt die Ebene des Schlosses mit Ritterschlag und Rückbesinnung. Aus diesem Rahmen fallen die blendendweiße Eingangsszene und die Frau unter dem Tuch im schwarzen Raum.

Man könnte den Videoclip in seiner ganzen Länge als eine Art visuellen Entwicklungsroman mit symbolischen Zwischenstufen verstehen, die die Geburt, den Eintritt in die Erwachsenenwelt und den Tod bezeichnen. Zu diesen symbolischen Zwischenstufen gehören auch einige, die auf die christliche Ikonographie Bezug nehmen, etwa die mit einem Tuch verhüllte Figur, die an Antonio Corradinis „Christus im Leichentuch“ (1744) aus dem Bode-Museum Berlin erinnert. Trotzdem bleibt das Ganze bewusst rätselhaft.


Beyonce – Mine – 2013 – 4:59

Auf der Klaviatur des Pathetischen spielt Beyonce mit diesem Clip zu „Mine“, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir aus ihm nicht mehr über den Regisseur als über die Sängerin und ihr Stück erfahren. Es wirkt so, als habe Beyonce so, wie man sich ein Kleid von Dior anzieht, nun einen Videoclip von Pierre Debusschere ihrem Inszenierungsrepertoire hinzugefügt. Ein Blick auf dessen Portfolio zeigt jedenfalls eine Menge verwandter Videos.

Im Clip stürzt – ausgehend von einer Pieta-Darstellung im Stil von Annibale Carracci – eine Welle kunsthistorischer Assoziationen auf den Betrachter ein, jeweils so eingebracht, dass man sich der Identifizierung (und damit des Verstehens) nicht sicher sein kann. So kann man die Geste, die Beyonce von ihrem Gesangspartner trennt, durchaus mit dem Schöpfungsakt Adams in der Darstellung Michelangelos verbinden. Auch das Auftauchen der Beyonce-Figur am Strand erinnert sehr an Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“. Und unverkennbar ist die Verbindung der entsprechenden Inszenierung mit Magrittes „Die Liebenden“.

Andere Verknüpfungen sind dagegen vermutlich eher von den subjektiven Verknüpfungen des Betrachters abhängig, etwa die Assoziation an die Venus von Botticelli oder das Selbstporträt von Albrecht Dürer.

Einige der interessantesten Szenen hat Pierre Debusschere leider im tachistoskopisch anmutenden Blitzlichtgewitter der Einzelbilder untergehen lassen und man kann nur hoffen, dass sie wenigstens subliminal wirken. Am Ende ist man hin und hergerissen zwischen der faszinierenden Ästhetik und dem, was man noch hätte aus diesem Material herausholen können.


Lorde – Team – 2013 – 3:21

Die 1996 geborene neuseeländische Musikerin mit dem Künstlernamen Lorde soll zu den einflussreichsten Newcomern der Szene gehören. Zumindest ist sie für ihr Alter überraschend erfolgreich und hat Lady Gaga in der Hitliste gleich verdrängt.

Der Videoclip zu ihrem Stück Team wurde unter der Regie von Young Replicant erstellt, der eine Reihe interessantere weiterer Clips verantwortet. In der Sache geht es um einen Initiationsritus, um Anerkennungsrituale oder auch die rites de passage. Die Sängerin schreibt zum thematischen Hintergrund ihres Videos:

"Dieses Video entstand aus einem Traum, den ich vor einigen Monaten hatte. Es geht um Teenager in ihrer eigenen Welt. Eine Welt geprägt von Hierarchien und Mutproben, in denen der Stellvertreter und die Queen unter Akne leiden. Die Welt in meinem Traum war anders als alles, was man bisher gesehen hat - eine dunkle Welt voller tropischer Pflanzen, Ruinen und Schweiß. In dieser Welt war es nicht nötig, sich zu beweisen, um dazuzugehören: Manchmal ist die Person, die verliert, die stärkere."

Der Clip spielt in einem alten und verkommenen Werftgelände mit vor sich hin gammelnden Schiffen und Containern, auf dem eine Gruppe von Jugendlichen haust. Nicht jeder hat Zugang zu dieser Gruppe, man muss erst bestimmte Aufnahmerituale bestehen. Schon der Zugang ist komplex – mit dem Boot und verbundenen Augen. Und dann muss man in eine Art jugendliches Ritterturnier auf Motorrädern. Dazwischen eingeschossen sind die Bilder der Gang-Leaderin in ihrer „dunklen Welt voller tropischer Pflanzen und Ruinen“. Wir begleiten einen jungen Mann bei seinem Aufnahmeritual, der das Turnier nicht besteht, aber in der Niederlage triumphiert.


Purity Ring – Fineshrine – 2012 – 3:36

Welche Videos würde wohl Arnold Böcklin machen, wenn er im 21. Jahrhundert leben würde und nicht schon 1901 verstorben wäre?

Diese Frage kam mir unwillkürlich in den Sinn, als ich das unter der Regie von Young Replicant entstandene Video zu Fineshrine von Purity Ring sah. Die allererste Assoziation war freilich „Der englische Patient“. Aber der Reihe nach: Der Clip eröffnet mit eine Reihe von assoziativen Momenten: ein hoch im Himmel schwebendes und dann abstürzendes Flugzeug, eine Person im Bett liegend, die Szenerie eines antiken Templels, das Lid eines schlafenden bzw. träumenden Auges, eine Statue. Eine junge Frau wacht auf, blickt auf die Zimmerdecke, öffnet einen Fenstervorhang und erleuchtet so einem Raum, in dem ein Mann mit zahlreichen Mullbinden in einem Bett liegt. Ein Auge ist verbunden und das Kinn gesichert. Die Frau blickt den Kranken an und in einem nicht näher identifizierbaren Stoff entsteht ein Riss. Die Frau wechselt den Raum und kommt mit einem Messer in der Hand wieder. Sie zerschneidet die Mullbinde über seinem Bauch und legt eine vollständig verbrannte und versteinerte Hautfläche frei. Durch das Fenster erblickt sie das abstürzende Flugzeug. Als sie sich wieder umdreht ist der Mann durch die Laken gesunken und aus dem Bett verschwunden. Sie legt sich auf sein Bett und taucht in eine Traumwelt unter bzw. in einer Traumwelt auf. Sie erblickt den eingangs erwähnten Tempel mit der Statue, aus deren Brust freilich aus einem Riss ebenso wie aus seinen Augen Wasser schießt. Als sie in das Loch in der Brust der Statue blickt, sieht sie sich selbst als Kranke auf dem Bett liegen. Sie blickt nach oben und sieht das Flugzeug auf sich herabstürzen. Wenn sich jetzt auf der Realitätsebene das Auge öffnet, ist es das eines jungen Mannes, der auf die im Bett liegende schwer verletzte Frau in Mullbinden blickt. Cut.

Der Liedtext ist enigmatisch und anspielungsreich: “Get a little closer let it fold / Cut open my sternum and pull / My little ribs around you / Through arms that may be crowns over you”. Darauf muss man erst mal kommen, ebenso wie auch auf die folgenden Verse: “Listen closely, closely to the floor / Emitting all its graces through the pores / You’d make a fine shrine in me / You’ll build a fine shrine in me / But I must see with my chest and sink / To the edges round you / Into the lakes and quarries that brink / On all the edges round you, round you”.

Sicher eine erzählte Geschichte, aber ganz sicher keine, deren Sinn sich sofort ergibt. Eine frühromantisch-verrätselte Traumwelt, in der sich Thanatos und Eros begegnen.


Lana del Rey – Tropico – 2013 – 27:08

Und Gott schuf die Welt in Fehlfarben. Wenn er sich seine Charaktere tatsächlich individuell ausdenkt, muss er angesichts der realen Verfasstheit der Menschheit schon einiges an Humor besitzen. Noch mehr Humor haben muss er aber angesichts der Bilderwelt von Lana del Rey, die das Paradies und die Welt von John Wayne als Gottvater erschaffen lässt („And John saw that it was good“), der uns dann in God‘s own Country schickt, während im Hintergrund  Elvis Presleys „Always on my mind“ singt und Marilyn Monroe meint, sie sei eins mit der Natur: “Sex is part of nature. I go along with nature.” Dazwischen tanzt noch ein schwuler Hippie-Jesus rum. Lana del Rey als Eva (zwischendurch auch als Maria, so ganz kann sie sich nicht entscheiden) irrt mit dem Albino-Model Shaun Moss als Adam durch den Garten Eden, beide tragen aber dezent bereits vor dem Sündenfall florale Feigenblätter. Irgendwann züngelt die Schlange, Lana del Rey beißt in den knallroten Apfel, ein Blitz schlägt ein (das erinnert mich an eine uralte Zahnpasta-Reklame) und Eva fällt in Ohnmacht (da wurde wohl dem ersten Buch der Bibel ein Kapitel aus Grimms Märchenwelt, Abteilung Aschenputtel, hinzugefügt).

Zur Strafe wacht Eva dann als Stripperin im Amerika der Gegenwart auf und Adam als Verkäufer im heruntergekommenen Kiosk. [Ich kann nicht dafür, dass die amerikanischen Lebensverhältnisse so beschissen sind, aber muss ich mir das auch noch in Musikvideos anschauen?] Während sich also zahlreiche Halbnackte an den Stangen räkeln, singt die Sadcore-Retro-Musikerin Lana del Rey ihre Lieder, die sie mit diesem Video unter die Leute bringen will. Das Intermezzo mit dem Raubüberfall angesichts strippender Mädchen lasse ich mal weg und springe zum nächsten Blitz, der uns in Teil drei des unerträgliche 24 (mit Abspann 27) Minuten dauernden Videoclips führt.

In diesem Teil müssen wir nun die von John Wayne vorgetragene, 1973 von Robert Mitchum geschriebene, bekannte Suade „Why I Love America“ ertragen, die noch schrecklicher ist als „America the Beautiful“:

From Alaska's cold to the Everglades,
From the Rio Grande to Maine,
My heart cries out, my pulse runs fast
At the might of her domain!
You ask me why I love her?
I've a million reasons why ---
My Beautiful America,
Beneath God's wide, wide sky.

Gott sei Dank verschwinden Adam und Eva (bzw. Lana del Rey und Shaun Moss) danach als engumschlungene UFOs im Himmel, sozusagen die 21. Jahrhundert-Retro-Version der biblischen Entrückungsszene. Aber auch das hat man bei Bill Viola schon tausendmal besser, freilich ebenso kitschig gesehen.

Und Gott schuf die Welt in Fehlfarben. Das also ist die post-post-post-moderne Variante der popkulturellen amerikanischen Theologie von Schöpfung, Fall und Erlösung. Da bekommt man unmittelbar Verständnis für jeden Atheisten dieser Welt. So hat er sich vermutlich die christliche Religion und ihre Anhänger schon immer vorgestellt.

Rätselhaft, um darauf zurückzukommen, ist an diesem Monster-Clip nur, dass er ein Publikum findet. America! America! God mend thine ev’ry flaw ...

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/87/am463.htm
© Andreas Mertin, 2014