Resonanzen & Kompetenzen


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Notizen IV

Es ist schon ganz interessant, wenn der Chef der vatikanischen Glaubenskongregation die öffentliche Kritik an seinem Bischofskollegen aus Limburg als „eine der schmutzigsten und menschenverachtenden Kampagnen“ bezeichnet. Da sind ihm wohl noch nicht so viele Kampagnen begegnet. Etwa solche, die den Tod eines homosexuellen Comedy-Künstlers mit der Überschrift "Jetzt schmort er in der Hölle" begrüßen. Oder solche, die einer früheren First Lady eine Rotlichtkarriere andichten. Oder solche, die Homosexualität grundsätzlich mit Pädophilie, Kannibalismus und Verbrechen verknüpfen. Man braucht nur einen Tag in der tradi-katholischen Blog-Szene zu schnuppern um zu erfahren, was wirklich "schmutzige und menschenverachtende Kampagnen" sind. Die Menschenrechte von Homosexuellen, ganz allgemein von Andersdenkenden werden hier Tag für Tag mit Füssen getreten. Sobald einer anders tickt, ist hier schon der Teufel am Werk und das gilt es natürlich zu vernichten. Noch kürzlich meinte ein österreichischer Bischof, er hätte, wenn er es vorher gewusst hätte, verhindert, dass ein kirchlicher Mitarbeiter einen Leserbrief (sic!) in einer kirchlichen Zeitschrift hätte publizieren dürfen, denn der habe ja nur seine Meinung (und nicht die katholische Wahrheit) geäußert. Soweit zum grundgesetzlich verbürgten Menschenrecht der Meinungsfreiheit.

Die öffentliche Kritik am Bischof von Limburg war dagegen keine Menschenrechtsverletzung – jedenfalls weitgehend nicht. Sie war hämisch und der Ohnmacht gegenüber einer Instanz geschuldet, die meinte, die Wirklichkeit nach eigenem Gusto manipulieren zu dürfen. Man muss sich ja nur einmal vorstellen, worum es in der Sache unter anderem ging: Da versuchte ein vom Staat alimentierter Bischof eine gerichtliche Entscheidung in Hamburg zu manipulieren, indem er eine falsche eidesstattliche Versicherung abgab. Er versuchte, Journalisten mit einer derartigen Versicherung schlicht zu verbieten, die Wahrheit zu sagen, ja er versuchte, sie als Lügner darzustellen. Und hätten diese nicht zufällig eine Aufzeichnung des Geschehens gehabt, wäre er mit dieser Kampagne vermutlich auch noch durchgekommen. Ist das nun nicht schmutzig und menschenverachtend, sondern sauber gehandelt? Zu Recht verwies der Spiegel in seiner Stellungnahme zum Themenkomplex auf das 8. Gebot: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten."

Der Chef der Glaubenskongregation meint aber nun, auch seine Kollegen und Mitchristen tadeln zu müssen: Es sei nicht christlich, «wenn man sich bei einer der schmutzigsten und menschenverachtenden Kampagnen gegen einen Menschen, Mitchristen, Seelsorger und Bischof wegduckt». Dieser Satz ist deshalb interessant, weil er eine Reihung vornimmt, bei der man nicht weiß, ob sie nicht doch als Steigerung gedacht ist. Es hätte ja gereicht, wenn man gesagt hätte: Es sei nicht christlich, wenn man sich bei einer Kampagne gegen einen Menschen wegduckt. Mehr ist ja nicht zu sagen, das ist die ganz normale Christenpflicht, für andere einzustehen, wenn sie zu Unrecht angegriffen werden. Aber was sagt er stattdessen? Es sei nicht christlich, wenn man sich bei einer Kampagne gegen einen Menschen, Mitchristen, Seelsorger und Bischof wegduckt. Mensch ginge ja noch, Mitchrist schon weniger, Seelsorger aber kaum und Bischof schon gar nicht. Ich vermute, das ist auch so gemeint. Interessanterweise sieht es das deutsche Gesetz genau andersherum. Es meint, je mehr einer in der Öffentlichkeit stehe, desto mehr öffentliche und auch unverhältnismäßige Kritik müsse er ertragen. Es dreht die Reihenfolge also um: Es ist nicht in Ordnung, wenn eine Kampagne gegen einen Bischof oder sogar einen Seelsorger oder sogar einen Christen oder am schlimmsten gegen einen (einfachen) Menschen stattfinde. Und nur in dieser Steigerung macht die Aussage Sinn - juristisch und christlich. Alles andere ist eine Ständelehre, die – Gott sei Dank – mit der französischen Revolution abgeschafft wurde.


Amazon-Slapstick / 14.12.2013

Man kann ja für und wider das Phänomen Amazon viel schreiben und sagen, aber zumindest bekommt man an bestimmten Punkten Einblick in die Denk- und Rezeptionsgewohnheiten der Bevölkerung. Ich lese gerade aus der Anderen Bibliothek mit viel Gewinn das Buch „Ein Reporter und nichts als das“ von Albert Londres, das eigentlich aus drei Büchern besteht, von denen eines seine ‚Reise zu den Juden‘ im Jahr 1929/30 beschreibt. Seine Beschreibung ist hellsichtig, mitreißend und auch lustig. Jedenfalls kommt er gleich zu Anfang nach einer kurzen Stippvisite in London auch auf Theodor Herzl und sein Buch „Der Judenstaat“ zu sprechen. Als im Zuge der Dreyfus-Affäre in Paris der Ruf „Tod den Juden“ ertönt, so schreibt Londres, ...

... „fühlte Herzl seine Mission auf sich einstürzen. Er brach mit seinem Leben, seinen Erfolgen. Ihn packte ein Fieber. Der erste Schritt seiner neuen Inkarnation bestand darin, daß er sich an seinen Berufsstand wandte: Er schrieb ein Buch. Ein Buch? Eher ein Gesetzestext. Den fünf Büchern Muse fügte er das seine hinzu. Er öffnete seinem Volk die Augen und sagte zu ihm: »Sieh dir an, wo du nach neunzehn Jahrhunderten des Wanderlebens hingekommen bist.« Und nachdem er ihm seinen Zustand vor Augen geführt hatte, warf er wie auf einer großen, der ganzen Welt sichtbaren schwarzen Tafel das Problem der Rückkehr nach Palästina gegenüber den vierzehn Millionen verstreut lebenden Juden auf und zog daraus den Schluß. Das Buch trug den Titel: Der Judenstaat.

So weit Londres. Ich wollte nun wissen, welche aktuellen Ausgaben des Textes von Herzl greifbar sind und schlug auf die Schnelle bei Amazon nach. Natürlich gibt es die inzwischen unvermeidlichen Ausgaben, die mehr schlecht als recht von irgendwelchen alten Ausgaben eingescannt wurden und dann als Print-on-Demand verkauft werden, aber es gibt auch aktuelle Ausgaben. In der so genannten Kindle-Edition gibt es das Buch sogar kostenlos zum Herunterladen. Und unvermeidlich landet man natürlich auch bei den „Kunden-Rezensionen“ derer, die sich das Buch schnell mal runtergeladen haben. Beim Bewertungssystem gibt es immerhin 4,3 von 5 Punkten bzw. Sternchen, wobei Amazon unsinniger Weise die verschiedenen Ausgaben alle in einer Rezensionsspalte zusammenfasst. Aber es gibt auch Leser, die sich kritisch zum Text äußern, zwei davon will ich kurz (aber wortwörtlich) zitieren:

  • Das Buch ist von der ersten bis zur letzten Seite sehr sehr langatmich und umständlich formuliert, dadurch fand ich es nicht die geignetste Lektüre zu diesem Thema.

Noch besser fand ich aber die zweite ‚Rezension‘:

  • „Ich finde das Buch weitgehend todlangweilig, habe es nicht weitergelesen. Vielleicht war es in der Vergangenheit interessanter für die Leser, aber jetzt, wo der Judenstaat schon längst existiert, interessiert mich das Buch nicht mehr-“

Zumindest der Letztere braucht dann Darwins „Über die Entstehung der Arten“ ebenfalls nicht zu lesen, denn die existieren ja nun auch schon längst. Wie langweilig. Beide Rezensenten sind, wie ihre anderen auf Amazon publizierten Rezensionen zeigen, eifrige Krimileser. Vielleicht hätten sie besser Altneuland von Herzl gelesen, was als utopischer Roman ja ein bisschen mehr Spannung verspricht. Aber wer weiß, wann ihnen im konkreten Fall die Lektüre langweilig wurde? Vielleicht an der folgenden Stelle?

„In Russland werden Judendörfer gebrandschatzt, in Rumänien erschlägt man ein paar Menschen, in Deutschland prügelt man sie gelegentlich durch, in Österreich terrorisieren die Antisemiten das ganze öffentliche Leben, in Algerien treten Wanderhetzprediger auf, in Paris knöpft sich die sogenannte bessere Gesellschaft zu, die Cercles schließen sich gegen die Juden ab.“

Ja, das ist wirklich nichts Neues, könnte aus der Gegenwart stammen. Wie todlangweilig.


Geschichtsklitterung /17.12.2013

Auf evangelisch.de gibt es im Dezember 2013 ein Interview mit Frank Schmidt, dem Leiter des Kunstdienstes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Befragt wird er von Friederike Lübke, Absolventin der Evangelischen Journalistenschule, im Blick auf das Verhältnis der Evangelischen Kirche zur Entarteten Kunst. Das Interview beginnt folgendermaßen:

Lübke: „Herr Schmidt, die Gurlitt-Kunstsammlung in München macht Furore. Was hatte die Evangelische Kirche während der Nazizeit mit der sogenannten entarteten Kunst zu tun?“ - Schmidt: „Vereinzelt sind bestimmte Werke aus Kirchen entfernt worden. Zum Beispiel das Kriegerdenkmal des Expressionisten Ernst Barlach aus dem Dom in Magdeburg. In der St. Annenkirche in Annaberg hatte Ernst Müller-Gräfe 1924 große Leiwandbilder für die Gefallenengedächtniskapelle gemalt und die wurden 1937 explizit mit dem Hinweis auf entartete Kunst entfernt.“ Lübke: „War das Programm?“ - Schmidt: „Nein, eine Aktion ‚Entartete Kunst‘ hat im Raum der Kirche nicht systematisch stattgefunden. Weder hat die Kirche die staatliche Aktion in ihrem Raum kopiert und durchgeführt, noch hat der Staat in die Kirche eingegriffen.“

Vielleicht liest man zunächst das ganze Interview und beantwortet dann folgende Fragen:

  • Welcher Theologe arbeitete für den Evangelischen Kunst im Zusammenhang mit der Aktion Entartete Kunst und konnte sich nach dem Krieg durch den Verkauf eines angeeigneten Feininger-Bildes ein Haus in Deutschland kaufen?
  • Welche Mitarbeiterin des Kunstdienstes, die extra für die Aktion Entartete Kunst eingestellt wurde, begleitete den Kunsthändler Hildebrandt Gurlitt auf seiner Reise zur Versteigerungsaktion der Werke „Entarteter Kunst“ nach Zürich?
  • Welche Mitarbeiter des Kunstdienstes hatten während der Nazi-Zeit so vieler Kunstwerke „ergattert“, dass sie nach 1945 davon leben konnten?
  • Welcher Mitarbeiter des Kunstdienstes war ein früher Nationalsozialist und Propagandist der Nazi-Kunst und war bis 1976 Leiter eines Evangelischen Kunstdienstes?

Sie wissen die Antwort auf diese Fragen nicht, weil es nicht im Interview erwähnt wird? Und genau deshalb kann man das Interview nur als Geschichtsklitterung beschreiben. Liest man den Text, käme man nicht auf den Gedanken, die Evangelische Kirche könnte in Gestalt des Evangelischen Kunstdienstes Berlin an der Aktion „Entartete Kunst“ beteiligt gewesen sein. Und man könnte meinen, die Kirchen hätten schon gar nicht die Kunstanschauungen der Nationalsozialisten geteilt. Nichts ist weniger wahr. Hans Prolingheuer schreibt in seinem inzwischen zum Klassiker gewordenen Buch „Hitlers frommer Bilderstürmer“:

„In Fragen der bildenden Kunst herrscht 1933 Übereinstimmung zwischen den deutschen Kirchen und der von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels geführten Kunstpolitik. Vorbereitet durch ihren Kampf wider die ‚gottlose Moderne’, ‚gegen den entarteten Zeitgeist in der Kunst’, rüsten sich Kirchen und Christen zum Bildersturm gegen alles ‚Undeutsche’ und Jüdische in kirchlicher Kunst und Symbolik. Kirchliche Kunstwarte zeigen den Weg zu den ‚Zielsetzungen, die der Führer der deutschen Kunst gewiesen hat’. Die deutschen Kirchen regieren in Goebbels’ Reichskunstkammer mit. ‚Neue deutsche Kirchenkunst’ versteht sich im ‚Dritten Reich’ als Avantgarde der Nazi-Kunst, auf Ausstellungen im Ausland als Botschafterin Hitler-Deutschlands. Träger ’Christlicher Kunst’ harmonieren mit Hitlers Kunstideologie dermaßen, dass sie dann auch beim staatlichen Raub der ‚entarteten Kunst’ mitwirken.“

Und auch was das Verhältnis der Kirche und ihrer avancierten Vertreter zur Kunst angeht, stimmt die Rede von der Neutralität ganz und gar nicht. Von wem stammt wohl Folgendes?

„Die deutsche Kunst verrät bezüglich Arbeitsstoff und Technik nationale Eigenheiten ... Kennzeichnend für deutsche Kunst ist die Arbeit in Holz. Holzarbeit ist unlöslich an germanisches und deutsches Kunstschaffen gebunden .., Wie stellt der deutsche Christ seine Heiligen und sich selbst als leibliches und seelisches Wesen dar? … Die Stifterfiguren in Naumburg sind kraftgeboren, edle Fürsten aus deutschem Blut auf deutschem Boden genährt. Und weiter, sind die Veit-Stoß-Apostel am Krakauer Altar, ist Adam Krafts Selbstbildnis, sind Dürers Rittergestalten nicht einem Geschlecht erwachsen, das auch an den Werten von Blut und Boden, Sippe und Gemeinschaft gemessen werden kann?“

Nein, es stammt nicht aus nationalsozialistischen Quellen, sondern aus der „Jungen Kirche“, der Programmzeitschrift der Bekennenden Kirche. Man kann davon ausgehen, dass der Begriff der „Entarteten Kunst“, erstmalig vorkommend in der katholisierenden Romantik bei Friedrich Schlegel, durch die Kirchen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts überhaupt erst salonfähig gemacht wurde. Das war lange, bevor die Nationalsozialisten ihr Haupt erhoben.

Und selbstverständlich war Winfried Wendland, einer der führenden Kunst-Propagandisten des Nationalsozialismus, der schon 1930 in der Reihe der NS-Briefe über „Nationalsozialismus und Kunst“ schrieb, im Evangelischen Kunstdienst tätig. Er schrieb 1934 das Werk „Kunst im Zeichen des Kreuzes. Die künstlerische Welt des Protestantismus unserer Zeit“, 1940 das Buch „Die Kunst der Kirche“, das er 1953 unter Kürzung der „problematischen Stellen“ einfach wieder auflegte. Weggefallen waren nun so interessante Sätze wie:

Die evangelische Kirche ... war von jeher ihrem Volke eng verbunden, und besonders im Grenzkampf im Osten hat sich in den letzten Jahrhunderten jedes evangelische Kirchenhaus als eine Burg des deutschen Volkstums erwiesen.

Und was war Winfried Wendland nach dem Krieg, als die Kirche angeblich erfolgreich mit der Vergangenheit gebrochen hatte? Von 1949 bis 1953 war er im Bauamt des ev. Konsistoriums Berlin-Brandenburg tätig; von 1953 bis 19966 Kirchenbaurat in Potsdam; und von 1962 bis 1976 Leiter des Kunstdienstes der evangelischen Kirche! Das nennt man einen konsequenten Bruch mit der Ideologie vor 1945. Auch ein heutiger Leiter eines Ev. Kunstdienstes kennt all diese Tatbestände. Die mit der Zusammenstellung der „Entarteten Kunst“ für den Verkauf beauftragte Mitarbeiterin des Kunstdienstes Gertrud Werneburg fährt eigens mit dem Kunsthändler Gurlitt zur Versteigerung der geraubten Werke nach Zürich. Die Mitarbeiter des Kunstdienstes eignen sich auch selber Werke an, so dass sie nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ nach eigenen Auskünften gut davon leben können! Und dann sagt das ein heutiger Vertreter eines Kunstdienstes der Evangelischen Kirche nicht, wenn er nach dem Zusammenhang von Kirche, Kunst und Nationalsozialismus gefragt wird. Ich finde das höchst irritierend.

Aber auch die Journalistin muss sich fragen lassen, wie sie sich zum Thema Hildebrandt Gurlitt und Evangelische Kirche vorbereitet hat. Man braucht doch nur „Evangelische Kirche“ und „Entartete Kunst“ in eine Suchmaschine eingeben und träfe sofort auf den Wikipedia Artikel zum Evangelischen Kunstdienst, der einen besonderen Abschnitt zur skandalösen Zusammenarbeit des Kunstdienstes mit der Aktion „Entartete Kunst“ hat. Von Hans Prolingheuer gibt es eine eigene Adresse im Netz (http://www.kirchengeschichten-im-ns.de/ ), auf der man alles en Detail nachlesen kann (u.a. in dem Hörbild „Vom ‚entarteten Christus‘ zur ‚entarteten Kunst‘“; http://www.kirchengeschichten-im-ns.de/Kirchenkunst.pdf) Ist die Kollegin nicht auf die Idee gekommen, dass es einschlägige Fachliteratur gibt wie das schon erwähnte Buch von Hans Prolingheuer: Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz, Berlin 2001.

Ich wäre nicht so ungehalten, wenn ich das nicht für symptomatisch halten würde. Unsere Evangelische Kirche ist groß darin, runde Jubiläen zu feiern, aber ebenso so groß darin, eigene Verstrickungen ins Unrecht zu verschweigen oder zu nivellieren. Während der ganzen Diskussion um den Fall Gurlitt in der Presse hat es die Kirche nicht für nötig befunden, ihre eigene Rolle in diesem Vorgang zu reflektieren. Wie wäre es denn, wenn man das Verhalten von Hildebrandt Gurlitt mit dem der kirchlichen Mitarbeiter vergliche?

 Die Empfänger der ... Kunstwerke des staatlichen Raubgutes - darunter auch »Kunstdienst«-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, Mitglieder der Kirchenkunstvereine oder deren Angehörige -, ... betrachteten sich keineswegs ... als Treuhänderinnen oder Treuhänder des vor der Vernichtung geretteten staatlichen Raubgutes. Werneburg: »Wir haben alle doch davon gelebt!« Die unverheiratete und kinderlose G. Werneburg konnte es sich deshalb sogar leisten, weder kranken- noch rentenversichert zu sein. Und weil einmal die ergatterten Bilder ihre Rente sein sollten, beklagte sie sich noch nach einem halben Jahrhundert bitterböse darüber, daß Hugo Kükelhaus sie um ihr wertvolles Munch-Blatt »Alpha und Omega« gebracht habe. Vorsorglich hatte sie ihren Anteil an der »Entarteten Kunst« schon 1939 in ihre »thüringische Heimat am Kyffhäuser in Sicherheit gebracht«. Zielstrebig suchte sie den Handel mit Bildern. (Prolingheuer, S. 365)

Hildebrandt Gurlitt stellte ihr für letzteres übrigens ein Zeugnis aus. Das alles sind inzwischen bekannte Fakten. Es wäre für eine Absolventin der Evangelischen Journalistenschule mehr als angemessen gewesen, genau derartige Parallelitäten im Verhalten der Profiteure der nationalsozialistischen Kunstvernichtung zu benennen anstatt Hofberichterstattung samt Geschichtsfälschung für die Evangelische Kirche zu betreiben.


Geschichtsklitterung II / 17.12.2013

Ich habe meine Bedenken natürlich auch vor Ort auf evangelisch.de in einem Kommentar niedergelegt. Daraufhin antwortete Frank Schmidt an gleicher Stelle:

„Herr Mertin, der lange Mitarbeiter der Zeitschrift "Kunst und Kirche" war, hat wohl die Zielrichtung des Interviews nicht verstanden. Es geht darum, der irrigen Meinung entgegenzutreten, die staatliche Aktion "Entartete Kunst" habe genauso wie aus staatlichen Museen und öffentlichen Sammlungen und Gebäuden Kunstwerke aus Kirchräumen systematisch herausgeholt oder ähnlich jüdischen Eigentümern gar geraubt. Der Berliner Kunstdienst wurde, übrigens im Schloss Niederschönhausen arbeitend, zur Durchführung der staatlichen Aktion "Entartete Kunst" herangezogen. Danach war aber im Interview überhaupt nicht gefragt. Das Buch von Hans Prolingheuer, mit dem ich bereits persönlich Kontakt hatte, ist mir wohl bekannt. Vielleicht sollte man einfach keine Interviews geben, wenn man zwischen zwei Ausstellungsaufbauten von Journalisten "überfallen" wird. Das Interview ist hinsichtlich der Fragestellung, ob im Zuge der Aktion "Entartete Kunst" im Deutschen Reich die Kirchenräume durchkämmt worden seien, richtig.“

Was meine kurze Tätigkeit als Redakteur für „Kunst und Kirche“ mit der vorliegenden Sache zu tun hat, erschließt sich mir nicht so recht, zumal ich seit sehr viel längerer Zeit dieses Fachmagazin herausgebe und darin auch zum Thema Kunst, Kirche und Nationalsozialismus publiziert habe. Aber das mit dem Lesen und Verstehen ist ja wirklich so eine Sache. Wenn ein Interview mit der Frage eröffnet wird: Herr Schmidt, die Gurlitt-Kunstsammlung in München macht Furore. Was hatte die Evangelische Kirche während der Nazizeit mit der sogenannten entarteten Kunst zu tun?“ und man dann antwortet, es wurden aber nur wenige Kunstwerke aus Kirchen entfernt und manche gerettet, dann führt man die Menschen in die Irre. Da kann man nur wenig missverstehen. Es ist so, als ob, nachdem jemandem das Herz herausgeschnitten wurde, auf entsprechende Nachfrage geantwortet wird: Aber die Leber wurde intakt gelassen.

Die zutreffende Antwort auf die eingangs gestellte Frage Was hatte die Evangelische Kirche während der Nazizeit mit der sogenannten entarteten Kunst zu tun? lautet doch: Die Evangelische Kirche hat dem nationalsozialistischen Staat beim Verscherbeln der geraubten Werke geholfen. Und sie wurde nicht verurteilt oder zwangsweise herangezogen, das zu tun. Sie stimmte freudig ein ob dieser Auszeichnung durch den nationalsozialistischen Staat. Bei Hans Prolingheuer, den Schmidt ja kennt und gelesen hat, lautet die entsprechende Passage so: „Nur zu gern hat Gotthold Schneider Goebbels‘ Angebot, die Werke ‚entarteter Kunst‘ den Devisenbringern im Schloß vorzustellen, angenommen.“ (123)

Aber selbst wenn man meint, Schmidt gäbe die Intention des Interviews (und nicht nur die Richtung, in die er es gelenkt hat) korrekt wieder – woran man Zweifel haben kann, denn redaktionell verschlagwortet wird es mit Kunst | Holocaust | Gurlitt | entartete Kunst | Kirche –, dann wird die Sache nicht besser. Dass der Staat kaum Kunstwerke aus den Kirchen hat entfernen lassen können, dürfte doch nicht daran gelegen haben, dass diese mutig Widerstand geleistet hätten, sondern daran – wenn man Prolingheuer gelesen hat –, dass sie erst gar keine derartigen Kunstwerke in ihre Kirchenräume eingebracht haben. Zutreffend müsste man also sagen, man brauchte kaum „entartete Kunst“ zu entfernen, weil man sich ihr erst gar nicht ausgesetzt hatte und das, weil man schon immer dagegen war. Wie schrieb 1936 jemand in der Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst: „Die Kirchen haben sich den Auswüchsen unechter und entarteter Kunst gegenüber zweifellos wesentlich widerstandsfähiger gezeigt als der frühere Staat, die Museen und die damalige Kunstwissenschaft“ (Prolingheuer, 108).

Also, nicht weil sie die expressive Kunst gegen den Staat verteidigten, sondern weil sie mit ihm sachlich übereinstimmten, gab es für die Kirchen nichts zu tun. Die Ausstellung „Neue evangelische Kunst“ von 1936 gibt darüber ja beredt Auskunft. Nolde und Barlach, die einmal zum Ehrenrat des Kunst-Dienstes gehörten, auch wenn dieser es ihnen nicht gedankt hat, waren zu dieser Zeit schon längst ausgeschaltet (Vgl. Verstrickung oder Komplizenschaft? Die Evangelische Kirche und die Kunstpolitik der Nationalsozialisten“, www.theomag.de/74/am374.htm). Auf den prominenten Fall der Christusdarstellung von Ludwig Gies, die dann ja auch die Ausstellung „Entartete Kunst“ in München eröffnete, will ich hier gar nicht eingehen, das hatte man ja im Vorfeld des Nazismus erledigt und ihm 1922 während der probeweisen Aufstellung im Lübecker Dom den Kopf abgeschlagen.

Nein, wenn unter Nennung des Falles Gurlitt nach dem Verhältnis von Kirche und „Entarteter Kunst“ gefragt wird und man die Dinge nicht beim Namen nennt, dann bezeichnet man das als Geschichtsklitterung. Das mag dann, wie es der Wortsinn von Geschichtsklitterung meint, eine unabsichtliche Geschichtsfälschung sein, aber es bleibt „eine unkritische Geschichtsdarstellung, die den Sinn entstellt oder welche unvollständig respektive einseitig anmutet.“ [Wikipedia]


Femen – Oder: ein Lobpreis auf Kardinal Meisner / 25.12.2013

Was lernt man eigentlich am Fachbereich für Philosophie der Universität Hamburg an philosophischen Grundkenntnissen und -einstellungen? Zum Beispiel über den kategorischen Imperativ Immanuel Kants?

  • „[...] handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“
  • „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“

Und was hat sich wohl Josephine Witt, Femen-Aktivistin und Philosophie-Studentin in Hamburg, gedacht, als sie am 25.12. in der Weihnachtsmesse des Kölner Doms nackt auf den Altar sprang, um gegen Kardinal Meisner zu protestieren? Dass Femen-Aktionen von Philosophie sauber zu trennen sind, dass Philosophie etwas ist, dass man nicht lebt, sondern an und abschaltet wie einen Lichtschalter? Ich glaube jedenfalls nicht, dass man so Philosophie betreiben kann. Aber einmal angenommen, wir würden ihre Aktion als verallgemeinerbare philosophische Handlung akzeptieren, was würde für unser Alltagsleben daraus folgen? Die zweitausend Gläubigen, die im Kölner Dom vermutlich der Messe beiwohnten, waren der Philosophie-Studentin nur Kulisse zum Zweck der Denunziation eines 80-jährigen Kardinals. Hätte Kardinal Meisner nicht souverän reagiert und den Altar neu geweiht, wäre ein direkter religiöser Schaden für alle anwesenden Gläubigen entstanden. Denn diese waren nicht im Dom, um Kardinal Meisner zu huldigen – wie dies in negativer Form Josephine Witt tat -, sondern um die Geburt des Stifters ihres Glaubens im Gottesdienst zu begehen. Das ist ihr religiöses Recht. Frau Witt interessiert das vermutlich nicht. Sollte es aber. Politische Aktionen sind nicht kontextlos. Und der Kontext dieser Aktion war eben nicht eine Veranstaltung von Meisner, sondern eine aus guten Gründen auch vom Staat geschützte religiöse Kulthandlung. Femen, so schrieb ich 2012 in diesem Magazin, ist eine kulturhistorische Variante der Bekehrungsemphase des Bonifatius. Die Menschen in Germanien glauben an Thor und seine Eiche? Schlagt sie entzwei! Das ist die „Philosophie“ der religiös Intoleranten – ob sie nun christlich, muslimisch oder feministisch sind. Wer den Glauben anderer zerstört, nur weil es nicht der eigene Glaube ist, ist ein(e) Barbar(in).

Femen sind aber nicht nur barbarisch, sie sind auch ignorant. Ich würde ihre Aktionen unter die Kategorie des „geborgten Leids“ einordnen. Femen-Aktivistinnen suchen sich einen Anlass, um ihn mit einer mehr oder weniger spektakulären Aktion zu garnieren. Hauptsache Fotos, Hauptsache Medien, Hauptsache Presse. Was daraus wird, ist ihnen scheißegal. Bemerkenswert ist, dass sie sich über die Konsequenzen, die sich aus ihren Sperenzchen ergeben, überhaupt keine Gedanken machen. Aus Anlass von Pussy-Riot ein antistalinistisches Kreuz zerstören? Machen wir doch! Die Gefährdungssituatuion einer Muslimin in Tunis dramatisch verschärfen, indem man ihre Aktion zu einem westlichen Aufstand gegen den Islam umcodiert? Klar, machen wir! Während man Pussy-Riot gut in die Kategorie des Anarchismus einordnen kann, der in Russland eine lange Tradition hat, würde ich Femen als rein besinnungslosen Aktionismus bezeichnen, der sich nur ein radikalfeministisches Logo zugelegt hat.

Josephine Witt hatte sich, das sei noch angemerkt, bei ihrer Aktion die Worte „I am God“ über ihre Brüste und auf den Bauch gepinselt. Das könnte man mit einigem Wohlwollen als Christusidentifikation bezeichnen, die sowohl in der Kirchengeschichte als auch in der Kunstgeschichte nicht ohne Vorbild ist. Wenn sie damit provozieren wollte, dann ist es danebengegangen. Für Christen ist die Christusidentifikation nichts Besonderes. Sie nennen das normalerweise Nachfolge. Nur dass zu dieser Nachfolge mehr gehört, als eine billige ostentative Geste (Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's erhalten.) Und auch die Entkleidung als Zeichenhandlung hat eine sehr viel ältere religiöse Tradition, als Frau Witt es vermutlich wahrhaben wollen wird. In Jesaja 20 erfahren wir, dass Gott diesem auftrug, drei Jahre lang nackt und barfuß durch Jerusalem zu laufen zum Zeichen dafür, dass der König von Assyrien Agypten nackt und barfuß vor sich hertreiben werde. Und da Jesaja ein frommer Jude war, wird er in dieser Zeit wohl auch den Tempel besucht haben. Was ist dagegen schon eine dumme Performance von einer Minute im Kölner Dom. Ein Tabubruch ist es jedenfalls nicht.

Lothar Schröder macht nun in der Rheinischen Post auf die Nähe zur Ikonographie des Gemäldes "Die Freiheit führt das Volk" von Eugéne Delacroix und Goyas Darstellung der „Erschießung der Aufständischen“ aufmerksam. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Femen darauf rekurriert. Falls aber doch, dann ist das Ganze noch skandalöser. Denn diese Ikonographie steht in beiden Fällen für die letzte Konsequenz, den Einsatz des Lebens. Es geht weder bei Delacroix noch bei Goya um Zeichenhandlungen, sondern um die um den Preis des eigenen Lebens erkämpfte Freiheit. Es wäre eine weitere Ungeheuerlichkeit, wenn man davon ausgehen müsste, dass Femen dies mit ihren Aktionen in Verbindung setzt.

Die Reaktion von Kardinal Meisner war dagegen, ich sagte es schon, souverän. 2012 schrieb ich nach der Aktion von Pussy Riot: „Sollte man aber derartige Aktionen erdulden bzw. tolerieren? Ja, wenn Toleranz meint, einen Schaden zu erleiden und im Interesse eines übergeordneten Gesichtspunkts auf die legitime Durchsetzung des eigenen Rechts zu verzichten. Pussy Riot hat ja die Verletzung des Hausrechts der Kirche bewusst begangen, denn ohne diese Verletzung hätte ihre Aktion gar keinen öffentlichen Schliff gehabt. Sie können also nicht von sich aus verlangen, für ihre Aktion nicht sanktioniert zu werden, denn dann entwerten sie diese. Aber die Kirche (ganz gleich ob orthodoxe, katholische oder evangelische) könnte und sollte meines Erachtens auf das Verlangen nach Sanktion verzichten, nicht zuletzt, weil die Durchsetzung des Rechts noch mehr Unrecht bewirkt. Entsprechend hat die griechisch-katholische Kirche der Ukraine, die das Kreuz in Kiew errichtet hatte, das Femen aus angeblichem Protest fällte, auf eine Anzeige verzichtet und auf den grundsätzlich friedensstiftenden Charakter des Kreuzes Jesu Christi verwiesen. Und so empfiehlt es sich wohl auch in allen anderen ähnlich gelagerten Fällen.“ Genau das hat Kardinal Meisner am 25.12.2013 im Hohen Dom zu Köln getan. Und dafür sei er an dieser Stelle ausdrücklich gelobt. Es geschieht ja sonst eher selten in diesem Magazin.


Historisch-Kritisches / 06.01.2014

Im Theosalon von Peter Otten und Norbert Bauer werde ich heute durch einen Kommentar aufmerksam gemacht auf ein Interview, das der katholische Parawissenschaftler (ist das nicht eine contradictio in adiecto?) Michael Hesemann auf Merkur online gegeben hat. Das Ganze trägt die Überschrift „Historiker erklärt die Evangelien“ und verfährt nach dem altbewährten Motto „Und die Bibel hat doch recht“. Und in diesem Artikel/Interview erfährt man einiges, nicht nur über Jesus und seine Zeit. Sondern zum Beispiel auch über Wunder in der Gegenwart. Da heißt es nämlich im Text: „Für erstaunlich viele Theologen sind die Evangelien reine Glaubenszeugnisse und keine historischen Biografien. So sieht es zumindest die von dem protestantischen Theologen Rudolf Bultmann (1884-1976) begründete Schule der ‚historisch-kritischen Exegese‘.“ Das würde mich freilich wundern. Die historisch-kritische Methode in der Exegese wurde im 18. Jahrhundert entwickelt und im 19. Jahrhundert ausgearbeitet. Da wäre ihre Begründung durch Rudolf Bultmann (1884-1976) wirklich ein Wunder. Wunder sind dagegen im Rahmen der von ihm betriebenen Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung tatsächlich ein Thema Bultmanns gewesen: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muss sich klar machen, dass er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ Und wegen dieser Sätze sah er sich dann den Angriffen der evangelischen Rechten und der Evangelikalen ausgesetzt. Die historisch-kritische Methode ist ihm aber eindeutig vorgängig. Was soll man nun von einem Text halten, der über dieses Basiswissen nicht verfügt, uns aber trotzdem historisch-kritische Aufklärung über die Weihnachtsgeschichte verspricht? Die Ausführungen, die Hesemann im Interview dann macht, wären ein Paradebeispiel dafür, wie man eben keine historischen Schlüsse ziehen darf. Er schließt ex silentio auf historische Fakten (war damals immer so), zieht ernsthaft Texte aus der Zeit um 150 nach Christus zum Nachweis von dessen bzw. Mariens Genealogie heran. Das ist ziemlich grauenhaft, ja stümperhaft. Es ist, als ob Erich von Däniken sich in neutestamentlichen Texten suhlen würde. Ach stimmt ja – Michael Hesemann hat auch das praktische Handbuch „Ufos über Deutschland“ geschrieben. Vielleicht hat er von denen sein Wissen, dass Josef von Marias reichem Vater adoptiert wurde und Gott sich schlicht vertan hat, als er auf die demnach bloß scheinbare Niedrigkeit der Maria schaute: Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Dass sich im Magnificat aber die dezidierte Ästhetik Gottes offenbart, hat Martin Luther in seiner Auslegung sehr präzise reflektiert: „Das erfahren wir täglich, wie jedermann nur über sich, zur Ehre, zur Gewalt, zum Reichtum, zur Kunst, zu gutem Leben und allem, was groß und hoch ist, sich bemüht. Und wo solche Leute sind, denen hängt jedermann an, da läuft man hinzu, da dient man gern, da will jedermann sein und der Höhe teilhaftig werden ... Wiederum in die Tiefe will niemand sehen. Wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, da wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, da läuft jedermann davon, da flieht, da scheut, da lässt man sie und denkt niemand, ihnen zu helfen, beizustehen und zu machen, dass sie auch etwas sind.“ Die Verklärung des Gewöhnlichen, die die ästhetische Moderne auszeichnet, teilt sie mit dem Blickwinkel Gottes. Wer aber, um die Verbalinspiration der Bibel zu retten, Maria zur gehobenen Bauerntochter macht (Mariens Vater sei ein gewisser Joachim, ein wohlhabender Viehzüchter aus dem Hause Davids), muss Abstriche an Gottes Blickwinkel in Kauf nehmen. Da bleibe ich doch lieber bei der historisch-kritischen Methode. Amen.


Gott als Libertin / 08.01.2014

Man soll sich ja über die geistig Armen, die sich des Öfteren im Forum auf kath.net artikulieren, nicht lustig machen. Aber manchmal sind sie doch zu komisch. Wenn sie bestimmte Reizwörter hören wie etwa „Gender“ oder „Homosexualität“, dann drehen sie durch und geifern vor sich hin, ohne überhaupt noch zu reflektieren, was sie da eigentlich von sich geben. Und da kommen dann Stilblüten wie die folgenden heraus:

„Sodom und Gomorrha. Auch Katholiken, von Bischöfen angefangen, sind offenbar Teile der allgemeinen Blindheit, eigentlich des Hochmuts. Gender ist nichts als der offenkundige Versuch, sich selbst wegen aller Arten von Begierden und Fleischessünden den Ablaß zu geben. Denn die das propagieren sind Sünder, lassen die Gebote Gottes und Weisungen der Kirche nicht gelten und wollen leben "wie Gott"- die Worte vom Bösen an Adam und Eva. Steht auf, wenn ihr Christen seid!“

Ist das nicht toll? Auf den Gedanken muss man erst mal kommen. Schwule und Gendervertreter wollen leben wie Gott. Wer aber leben will wie Gott, der gibt (wie dieser?) allen Arten von Begierden und Fleischessünden nach. Das darf man natürlich als frommer Christ nicht, denn derlei ist allein Gott vorbehalten. Das kommt Michelangelos Gottesbild mit den jungen Frauen im Arm schon verdammt nahe. Oder William Blakes Darstellung Gottes mit gespaltenem Huf in seiner Hiob-Illustration. Ich vermute aber, wer offen auf kath.net behaupten würde, Gott sei ein Libertin, würde sofort als Ketzer verbrannt.

Nicht nur Logik, sondern auch Mathematik gehört eher zu den Problemfeldern der kath.net-Foristen, etwa wenn jemand dort behauptet, bei den derzeitigen Verlusten der katholischen Kirche blieben hochgerechnet im Jahr 2080 noch 1000 Katholiken übrig. Das stimmt selbst dann nicht, wenn man die Verlustzahlen der Evangelischen Kirche hinzurechnen würde. Da hat sich jemand mindestens um den Faktor 7000 verrechnet. Abgesehen davon, dass bei kleiner werdenden demographischen Gruppen die Verlustzahlen in der Regel ebenfalls geringer werden. [In der Sache hat der Betreffende vermutlich gedacht: die katholische Kirche verliert pro Jahr etwa 1,49% an Mitgliedern. 1,49 mal 67 macht 99,83% Verlust. Das lernt man schon in der Sekundarstufe I, dass das nicht funktioniert.] Die mathematischen Regeln scheinen daher eher aus der Volksfrömmigkeit als aus dem schulischen Mathematik-Unterricht gewonnen zu sein:

„um ehrlich zu sein, all dies scheint mir so das die deutschen sich selbst aussterben (sic! – mit der deutschen Sprache haben sie es eben auch nicht so), und wenn ich daran denke das noch mehr Zuwanderer kommen wegen des mangels der Pflegekräfte, scheint es sich zu bestätigen - wenn man die 10 gebote ignoriert, wird man bald ausradiert“.

Das freilich ist eine interessante These. Demnach ist die Bevölkerungsentwicklung also zugleich eine Art Frömmigkeitsindex? Was soll ich dann aus dem Umstand schließen, dass die Menschheit seit Moses Zeit, zu der weltweit vielleicht 10 Millionen Menschen lebten, über die Zeit der Reformation mit 500 Millionen Menschen bis in die Gegenwart auf die ungeheuerliche Zahl von über 7 Milliarden Menschen gestiegen ist? Ist die Welt also seit damals, vor allem aber seit der Aufklärung und insbesondere im 20. Jahrhundert (Vervierfachung der Weltbevölkerung) frömmer geworden? Und gibt das nicht zu den schönsten Hoffnungen Anlass? Wenn das mal keine Gute Nachricht ist.


Metapherngestöber / 08.01.2014

Die der Pius-Sekte nahestehende Webseite katholisches.info brilliert in einem Beitrag mit der souveränen Beherrschung von Sprachbildern und der intuitiv-religiösen Auslegung antiker Mythen. Eigentlich möchten sie aus durchsichtigen Motiven dem gegenwärtigen Papst eins auswischen, aber dann geraten sie unrettbar in das selbstproduzierte Metapherngestöber und gehen unter. Aufhänger ist eine Bemerkung von Papst Franziskus aus seiner Homilie am 6. Januar, in der er über die biblischen Magier aus dem Morgenland spricht. Und dabei sagt er:

„In dieser Zeit ist das ganz wichtig: den Glauben zu bewahren. Man muss weiter gehen, jenseits des Dunkels, jenseits der Faszination der Sirenen, jenseits der Weltlichkeit, die heute so viele Ausdrucksformen hat, man muss weiter gehen nach Bethlehem“.

Nun ist das schon kein glückliches Sprachbild, denn die biblischen Magier waren ja keineswegs von irgendwelchen Sinnenreizen abgelenkt, sondern von Sinnenreizen (dem Stern) geleitet und wollten unbedingt an ihr Ziel kommen. Aber die katholische Kirche hat seit jeher ein Problem mit der Weltlichkeit, die sie gerne auch mit Verführung und Sinnlichkeit konnotiert.

Der Autor auf katholisches.info möchte aber nun deutlich machen, dass – anders als zu Zeiten des Odysseus – die Situation noch viel dramatischer geworden ist. Die Sirenen befinden sich demnach längst nicht mehr nur auf einer Klippe, sondern mitten auf dem Schiff! Er schreibt:

„Wenn die Sirenen außerhalb der Kirche geblieben wären, auf ihren Klippen, könnten wir sie erkennen, unterscheiden, jede einzelne mit Namen, als Ausdruck von Ideologien samt ihren Strömungen. Sie befinden sich inzwischen aber auf dem Schiff, an Bord, und versuchen unseren festen Blick auf den Mastbaum des Kirchenschiffes, das Kreuz, wegzulenken. Sobald wir aber den sicheren Blick auf das Kreuz abwenden, lässt unsere zerbrechliche Natur uns den Gesang der Sirenen hören und von ihren Verlockungen verführen zu lassen.“

Nun ist es die Aufgabe der Sirenen, Schiffe an einer Klippe zerschellen zu lassen – weshalb sie sich übrigens auch umgebracht haben sollen, als ihnen dies bei Odysseus nicht gelang. Wenig logisch ist es daher, sich selbst ins Schiff zu begeben und mit ihm unterzugehen. Das macht keinen Sinn. Zumal der Autor auf katholisches.info davon ausgeht, dass das beschriebene Schiff gar nicht untergehen kann:

„Das Schiff des Petrus segelt weiter, es ist das Schiff des Herrn. Es wird auch nach uns weitersegeln.“

Offenkundig hat er da gerade verschiedene Sprachbilder bunt gemischt und darüber die Orientierung verloren. Er kombiniert die antike Mythologie der Sirenen (Homer) mit dem Sprachbild der Kirche als Schiff (Tertullian) und dieses wiederum mit der Erzählung von der ehernen Schlange (AT), die bei Johannes als Vor-Bild des Kreuzes (NT) gedeutet wurde. Zusammengefügt bzw. vermischt erzeugen diese Bilder aber nur Unsinn.

Es ist in einer christlichen Auslegung schon schwierig genug, damit fertig zu werden, dass sich Odysseus in der Homer-Variante der Sirenen-Erzählung, worauf Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung hingewiesen haben, gefahrlos dem Gesang der Sirenen aussetzen kann (anders als Orpheus, der sie übertönen musste). Wie soll man das auf die Kirche übertragen? Dass die Kirchenführer sich gefahrlos der Weltlichkeit = den Sirenen aussetzen können, solange sie dies den anderen Gläubigen untersagen (Odysseus als Bild der Kleriker, seine Ruderer als das der Gemeindeglieder)? Zwar beschreibt es durchaus das reale Verhalten vieler Kleriker in der Kirchengeschichte, die Wasser predigten und Wein tranken, aber das kann ja nicht der anagogische Sinn der Erzählung sein.

Wenn das Schiff aber die Kirche ist, die nicht untergehen kann, was wollen die Sirenen dann an Bord? Sie leben doch davon, dass sich die Menschen in ihrer sinnlichen Angerührtheit von Bord des Schiffes stürzen, um den Sirenen zu folgen. Befänden sich die Sirenen aber an Bord, gäbe es dafür keinen Anlass mehr, ja mehr noch: das Schiff und seine Insassen wären gar nicht mehr in Gefahr, außer dass sie den falschen sinnlichen Reizen folgten.

Und schließlich: Wenn der Mast des Schiffes das Kreuz Jesu ist, auf das man blicken(!) muss, um gerettet zu werden, wie schützt einen das vor dem unentrinnbaren Gesang(!) der Sirenen? Wörtlich heißt es ja: „Sobald wir aber den sicheren Blick auf das Kreuz abwenden, lässt unsere zerbrechliche Natur uns den Gesang der Sirenen hören.“ Da müsste man schon im Wettstreit der Künste dem Auge eine höhere sinnliche Kraft zuweisen als dem Ohr.

Nichts passt hier zueinander. Klar ist, was gemeint war – aber nicht treffend gesagt wurde: dass die Kirche inzwischen die Weltlichkeit in sich aufgenommen hat und dass dies eine Gefahr für sie darstellt. Derartiges verkündet die Kirche seit Beginn der Moderne und hat dies unter Benedikt XVI. noch verschärft (ohne dass es dadurch zutreffender würde). Aber wenn man das sagen will, darf man nicht mit dem Bild der Sirenen operieren und titeln: „Papst Franziskus und der Gesang der Sirenen – Sirenen bereits an Bord des Kirchenschiffes“. Wenn das Bild einen Sinn machen soll, müsste man sagen: Sirenen in Hörweite, Schiffsführer schon von Bord. Verschließt Eure Ohren! Das passt dann freilich nicht mehr zur Homilie von Franziskus.

Nun ist diese verunglückte Metaphorik nichts Neues. Schon beim Kirchenvater Tertullian geht in der Mahnrede an die Heiden (Protreptikos), die sich ja durch betonte Gelehrsamkeit auszeichnen will, das sprachliche Bild etwas daneben, aber er trifft wenigstens ungefähr den Sinn, wenn er ihn auch ziemlich unglücklich und misogyn auf die Putzsucht und die Verführung durch die Frauen fokussiert. So heißt es im 12. Kapitel:

Lasst uns also vor der Gewohnheit fliehen, lasst uns vor ihr fliehen wie vor einer gefährlichen Klippe oder dem Drohen der Charybdis oder den Sirenen, von denen die Sage erzählt! Sie würgt den Menschen, sie lenkt ihn von der Wahrheit ab, sie führt ihn von dem Leben fort; eine Schlinge, ein Abgrund, eine Grube, ein verschlingendes Unheil ist die Gewohnheit. „Weit entfernt von dem Rauch und der Woge musst du dein Meerschiff halten.“ Lasst uns, ihr Fahrtgenossen, fliehen, lasst uns fliehen vor dieser Woge! Sie speit Feuer; sie ist eine Unheilsinsel, gehäuft voll von Knochen und Toten; und auf ihr singt eine hübsche Dirne, die Lust, und ergötzt sich an Allerweltsmusik: „Hierher komm, ruhmreicher Odysseus, du Stolz der Achäer; Lenke das Schiff an das Land, dass du göttliche Stimme vernehmest!“ Sie lobt dich, Schiffer, und nennt dich vielgepriesen, und den Stolz der Achäer will sich die Dirne zu eigen machen. Lass sie sich an den Toten weiden! Ein Wind vom Himmel kommt dir zur Hilfe; fahre an der Lust vorüber, sie ist eine gefährliche Betrügerin! „Nicht soll ein Weib dir berücken den Sinn, des Freude der Putz ist, Wenn sie heuchlerisch schwätzt und dabei dein Nest dir durchstöbert." Fahre an dem Gesange vorbei; er bewirkt den Tod! Wenn du nur willst, so bist du Sieger über die Macht der Zerstörung, und angebunden an das Holz wirst du von allem Verderben frei sein. Dein Steuermann wird der Logos Gottes sein, und in den Hafen des Himmels wird dich der Heilige Geist einlaufen lassen.

Bei Tertullian ist man noch ans Kreuz / den Mast gebunden, wodurch das Bild wie bei Homer seinen Sinn behält. Es gibt eine von außen kommende Gefahr, der man durch Bindung entgehen kann. Nach katholisches.info soll man aber auf das Kreuz / den Mast blicken, was dann keinen Sinn mehr macht. Die Kirchenväter wendeten sich freilich in ihren Reden über Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern, was man bei der Binnenadressierung von katholisches.info nicht voraussetzen kann. Von Sprache und sprachlichen Konventionen verstehen sie nichts. Man tut nur noch so, als sei man gebildet:

„Was aber haben die Sirenen mit dem dramatischen Ringen um den christlichen Glauben und mit der Freiheit zu tun? ... Im kollektiven Bewusstsein, zumindest dem mit einer soliden Schulbildung, rufen sie sofort die Odyssee in Erinnerung.“

Nein, das tun sie nicht, allenfalls wenn man im Satzkontext bereits Odysseus als Anspielung voraussetzt. Ansonsten denken wir bei Achtung eine Sirene an Feuerwehr und Blaulicht, an Alarm und Polizei-Sirenen, aber ganz sicher nicht an die antike Mythologie. Unter den signifikanten Kookkurrenzen für Sirene taucht die mythologische Erzählung überhaupt nicht mehr auf, sie ist vollständig vom neuzeitlichen Warnsystem überlagert. Denn inzwischen werden wir durch und nicht vor Sirenen gewarnt. Franziskus‘ Plädoyer für das Wahrnehmen der Armen und Unterdrückten könnte man so betrachtet als Sirene im Blick auf die Gefahren einer aus den Fugen geratenen Weltgesellschaft bezeichnen. Aber wir wollen nicht noch mehr Verwirrung ins Metapherngestöber bringen.


Objektiv Beschämend / 10.01.2014

Die beiden großen Konfessionen in Baden-Württemberg haben auf das im Bildungsplan 2015 vorgesehene Leitbild reagiert, den Schülerinnen und Schülern fächerübergreifend die Akzeptanz sexueller Vielfalt zu vermitteln. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, ihnen sexuelle Vielfalt nahezubringen, sondern nur um die gesellschaftliche wie kulturelle Selbstverständlichkeit, sexuelle Vielfalt der Menschen zu akzeptieren und sie nicht auf ein Modell des Zusammenlebens zu reduzieren. Die Kirchen sehen offenbar schon in der Zumutung der Akzeptanz einen Akt der Indoktrinierung. Und sie wissen, wovon sie sprechen, sie sind schließlich Experten in Indoktrination. Und sie möchten sich nicht durch den Staat ihre Indoktrinierung der Schülerinnen und Schüler verderben lassen. Es wäre ja auch komisch, wenn ein Unterrichtender des Faches Religion seinen Schülerinnen und Schülern dem Katholischen Katechismus folgend mitteilt

Eine nicht geringe Anzahl von Männern und Frauen haben tiefsitzende homosexuelle Tendenzen. Diese Neigung, die objektiv ungeordnet ist, stellt für die meisten von ihnen eine Prüfung dar. Ihnen ist mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen ...

um dann im  nächsten Schritt gemäß des staatlichen Leitplans die Akzeptanz dieser Ausdrucksform sexueller Vielfalt einzufordern. Das geht ‚natürlich‘ nicht. Das Sittengesetz sagt uns schließlich, dass Homosexualität „auf ein sittlich betrachtet schlechtes Verhalten ausgerichtet ist“, dem man allenfalls mit „Mitleid“! begegnen kann. Dass man „ungeordnetes Verhalten“ nur als schlecht akzeptieren kann, muss der Staat doch verstehen – oder? Ähnliche Herabsetzungen wie im Katholischen Katechismus finden sich auch zuhauf im evangelikalen Spektrum. Die erschreckenden Bilder, die Madonna zu „Nobody knows me“ 2012 auf ihrer MDNA-Tour im Hintergrund ablaufen ließ, auf denen Evangelikale in Amerika „Gott hasst Schwule“- bzw. „Gott hasst Dich“-Plakate tragen, zeigen, wie verbreitet im religiösen Spektrum dieses ausgrenzende Denken ist und wie notwendig die Erziehung zur Toleranz ist. Madonnas Video endet mit einer Sequenz junger Menschen, die sich wegen der Reaktionen der Umwelt auf ihre Form der sexuellen Identität umgebracht haben. Darum geht es nicht zuletzt in der Kontroverse um die Leitlinien in Baden-Württemberg.

Mit den elementaren Menschenrechten haben sich die Kirchen seit jeher schwer getan. Egal ob Rassismus oder Sklaverei, Antisemitismus oder Homophobie – es gehört zu den erschreckenden Beobachtungen der Geschichte, dass die Kirchen in aller Regel erst sehr spät – und oft zu spät – die richtigen Konsequenzen gezogen haben. Den Gruppierungen und Minderheiten, die bis dahin verfolgt, ausgegrenzt oder vernichtet wurden, war dies nicht hilfreich. Dass im Jahr 2014 evangelische wie katholische Kirchen in Baden-Württemberg so viel kriecherische Angst vor ihrem rechten Flügel haben, dass sie die Selbstverständlichkeit des Rechts auf sexuelle Identität nicht expressis verbis zu fördern vermögen, ja dass sie diese Erziehung zur Akzeptanz als Indoktrinierung begreifen, ist mehr als erschreckend. Es ist „objektiv beschämend“.


Sinn und Geschmack fürs Musikgenre / 17.01.2014

Google veröffentlicht heute eine Visualisierung seines Musikdatenbestandes, die zeigt, wie sich weltweit die Genrevorlieben jener zusammensetzen, die Google Play Music benutzen. Die Datenbank reicht bis 1950 zurück. Dabei ist einiges auf den ersten Blick missverständlich. Natürlich weiß Google Play Music nichts über den Musikgeschmack der 50er Jahre, denn damals gab es die Datenbank noch nicht. Was es aber weiß, ist, aus welchen Zeiten die Stücke stammen, die Leute heute etwa aus dem Bereich Rock in ihrer Cloud speichern. Es ist also ein Blick auf die Attraktivität eines Stils im Jetzt und die historische Zusammensetzung dieses Stils.

Auf den ersten Blick wird deutlich: wer Jazz speichert, sichert vor allem Stücke aus der Zeit bis 1960, danach – also im Blick auf aktuelle Jazzstücke – verliert das Genre an Relevanz. Wer Rock abspeichert, sichert vor allem Stücke zwischen 1960 und 1980, danach wird es etwas ruhiger mit den neuen Rock-Stücken. Die Indie-Szene ist ein lebensweltliches Phänomen, bei dem heutige Nutzer natürlich nicht auf das bereits Konventionalisierte, sondern auf Aktualität stehen, deshalb geht die Sicherung kaum vor 1975 zurück. Die bedeutenden und immer wieder gesicherten Stücke des Pop – das hat mich überrascht – stammen aus der Zeit zwischen 1960 und 1970, aber der Pop-Bereich ist dennoch einigermaßen konstant in der Verbreitung.

Im Blick auf den einzelnen Künstler sagt uns die Visualisierung dieser Datenbank also nicht, wie populär er insgesamt oder im Vergleich zu anderen Künstlern ist, sondern nur, welche Stücke bzw. Alben von ihm die Nutzer des Musikdienstes von Google für den Eigengebrauch abspeichern. Das verzerrt das Bild, weil man nichts über die Bedeutung des Künstlers selbst erfährt. Aber dennoch ist die Music Timeline interessant, weil man untersuchen kann, was im Blick auf das Oeuvre eines Künstlers so etwas wie einen Kultstatus bekommt.

Von Madonna zum Beispiel werden nicht etwa die aktuellen Stücke gespeichert, sondern vor allem die ganz frühe Phase und die Phase vor 1990, also die Zeit von „Like a prayer“ und dem Album „The Immaculate Collection“. Ich hätte erwartet, dass etwa Frozen oder Hung up eine größere Rolle spielen würden. Das ist aber nicht der Fall.

Man kann nun einzelne Genres, die auf den ersten Blick im Mainstream nicht so augenfällig sind, durch anklicken vergrößern. Wenn also weltweit Menschen christliche Lieder, Gospel oder dergleichen abspeichern, woraus beziehen sie ihre Auswahl? Google gliedert diese Visualisierung in vier Sparten auf: die so genannte christian contemporary music (CCM), sonstige zeitgenössische christliche Musik, dann „Praise and Worship“ und schließlich vor allem Christian Gospel. Ich vermute für die frühe Zeit steht auch Johnny Cash, während die neueren Speicherungen dem Wiedererstarken der christlichen Musik als Stil seit Mitte der 90er-Jahre entspricht. Aus der Zeit zwischen 1960 und 1980 gibt es offenbar kein memorables Angebot.

Da sich die Datenbank nicht regionalisieren lässt, bedeutet dies, dass nationale Besonderheiten wie der deutsche Schlager nicht sinnvoll erfasst werden. Er mag zwar im deutschsprachigen Raum eine Rolle spielen, weltweit aber nicht. Das ist beim amerikanischen Folk anders, der auch weltweit rezipiert wird. Also kann man nur sehen, was die Nutzer etwa von Andrea Berg oder Helene Fischer abspeichern. Hier zeigt sich eine Vorliebe für das jeweils neueste Album.

Die klassische Musik ist, wie Google schreibt, aus nachvollziehbaren Gründen ausgeblendet, weil sich hier eine Differenz zwischen Komposition und Aufführung ergibt. Soll man zeigen, aus welcher Zeit die Komposition stammt oder welche Aufführungen die Menschen bevorzugen? Beides wäre interessant und wichtig. Hier muss man auf eine Spezial-Datenbank hoffen.

Dennoch ist dieser Dienst, sofern er erst einmal stabil läuft (heute stockt er noch aufgrund der zahlreichen Zugriffe sehr häufig und lässt sich nicht aufrufen), ganz interessant. Dass er vor allem kommerziellen Interessen dient – er verlinkt unmittelbar auf Googles Musikverkaufsdienst – hätte man bei Google auch nicht anders erwartet. Unmittelbaren Dienst am Kunden gibt es bei Google nur noch selten, es muss sich schon rechnen.


Die kapitalisierte Religion / 17.01.2014

Kategoriensysteme sind immer auch etwas problematisch, weil irgendjemand ja Zuordnungen vornehmen muss. Manchmal machen das Menschen, oft aber auch Maschinen. Welche grundsätzlichen Schwierigkeiten Google bei der Zuordnung von Kategorien hat, erfährt man, wenn man bei Google Play in der Kategorie Musik auf das Genre „Geistliche Lieder“ klickt. Schließen Sie kurz die Augen und überlegen Sie, welche Lieder Sie dort erwarten würden.

Und nun zu den Ergebnissen – als Top-Alben dieses Genres werden mir folgende vorgestellt:

Platz 1: Lebensart: Money (Den Geldfluss aktivieren) / Platz 2: WOW Hits 2014 (Deluxe Edition) / Platz 3: Abnehmen mit Hilfe von Hypnose / Platz 4: Switchfoot: Fading West / Platz 5: Decades of Worship.

Deutlich wird, dass Religion vor allem als Lebenshilfe begriffen wird – und was hilft einem mehr als Geld, Spaß und verlorene Pfunde? 

Etwas näher am Thema sind die Top Einzeltitel:

Platz 1: Over the rainbow / Platz 2: Enya: May it be / Platz 3: Yiruma: Healing Piano / Platz 4: We wish you a merry Christmas / Platz 5: Marcela Gandara Live.

Freilich bietet Google noch Untergenres an, die dann präziser zu sein scheinen, wenn auch die Einordnung von „Entspannungsmusik“ bzw. „Tiefenentspannung“ unter „Zeitgenössische christliche Musik“ weiter von einer gewissen Unsicherheit zeugt. Der Untertitel dieser CD zeigt dann deutlich, was bei Google unter Religion verstanden wird: Schlaf Gut, Ruhe, Gesunder Schlaf, Entspannungsmusik für Wellness, Spa, Massage, Erholung, Meditation, Entspannung, Regeneration.


Love is all you need oder: Alles ist so wunderbar / 23.01.2014

Als wir auf der Schlagertagung zum Gottesdienst gingen, hatte ich mein Textblatt vergessen und fragte meinen Nachbarn, was wir wohl singen würden. Er meinte:  Im Zweifelsfall nananananana. Und so war es dann auch: Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben - nananananana.

Heute nun verkündet Evangelisch in Westfalen seine Sicht der Tagung Kirche und Schlager – wie passt das zusammen? und irgendwie verwundert es mich nicht, dass diese so gar nicht mit meiner Erinnerung an die Tagung übereinstimmt. Es ist eben durchweg eine kirchenoffiziöse Darstellung. Aber selbst diese bleibt – was den theologischen Gehalt betrifft – problematisch in sich.

„Eine Verbindungslinie zwischen Gottesdienst und Schlager zog Pfarrer Carsten Haeske, Leiter der Arbeitsstelle Gottesdienst im Institut für Aus-, Fort- und Weiterbildung der EKvW: Schlager würden das Altbekannte, das schon oft Gesagte immer wieder neu sagen, ‚und zwar so, dass es wiedererkannt wird und dabei auch noch Freude auslöst bei denen, die es hören‘. Genau das sei auch Aufgabe eines jeden Gottesdienstes.“

Das glaube ich nun kaum. Zwar bin ich auch der Überzeugung, dass der Schlager das wiedererkennbare Altbekannte in einer Endlosschleife präsentiert, aber sicher verbindet ihn das nicht mit dem Gottesdienst, der immer noch an die Verkündigung der Kreuzesbotschaft gebunden ist. Das Scandalum Crucis hat mit der Schlagerbotschaft wenig gemein.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in dem der Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug gewidmetem Kapitel der Dialektik der Aufklärung die Funktionsweise dieser Form der Kultur vorausschauend beschrieben:

»Neu aber ist, daß die unversöhnlichen Elemente der Kultur, Kunst und Zerstreuung durch ihre Unterstellung unter den Zweck auf eine einzige falsche Formel gebracht werden: die Totalität der Kulturindustrie. Sie besteht in Wiederholung« ... »Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen: das Produkt zeichnet jede Reaktion vor: nicht durch seinen sachlichen Zusammenhang – dieser zerfällt, soweit er Denken beansprucht –, sondern durch Signale. Jede logische Verbindung, die geistigen Atem voraussetzt, wird peinlich vermieden« ... »Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zu Grunde. Es ist in der Tat Flucht, aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übrig gelassen hat«.

Und Max Horkheimer hat in dem späten Text Kunst und Massenkultur auf die Differenz von Wahrheit und Massenkompatibilität hingewiesen:

»Popularität hat mit dem spezifischen Inhalt oder der Wahrheit künstlerischer Produktionen nichts mehr zu tun. [...] Popularität besteht in der vorbehaltlosen Übereinstimmung der Menschen mit allem, von dem die Vergnügungsindustrie glaubt, es gefalle ihnen.«

Ich komme aus der Generation von Theologen, die sich in ihrem Studium an der Theologie nach Auschwitz und an der Theologie nach dem Tode Gottes abarbeiten musste. Wie konnte man in den 80er- und 90er-Jahren Theologie betreiben, wenn alles, was positiv an und in der Theologie auszulegen war, einem im 20. Jahrhundert unter den Fingern zerbröselt war? Um mit Milan Machovec zu sprechen: „Wie kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben?“ Oder mit dem Rabbiner und Philosophen Emil L. Fackenheim: „Man soll nicht denken, daß nach Auschwitz die Idee Mensch und der Glaube an Gott bleiben können, wie sie gewesen sind.“

Diese Fragestellungen scheinen einer jüngeren Generation von Theologen nur noch wie ein fernes Rauschen zu klingen. Die Zeiten, in denen man sich fragte, ob nach der Shoah überhaupt noch Kultur, ja ein bloßes Gedicht möglich sei, scheinen heute mit dem Verweis auf die fröhliche Unkultur des Schlagers überwunden zu sein.

Schließlich ist das Christentum doch eine Liebesreligion und raunzt es im deutschen Schlager nicht allenthalben von Liebesleid und Liebesglück? Evangelisch in Westfalen fährt dementsprechend in seiner Zusammenfassung der Tagung so fort:

„Am Beispiel des Schlagers ‚Heute fängt ein neues Leben an‘ von Jürgen Marcus zeigte der Theologe Haeske, dass sich das starke Gefühl der hier besungenen Liebe auch auf die Liebe Gottes zu den Menschen übertragen lasse. In diesem Sinne könne der Schlagertext ‚Alles ist so wunderbar, dass man es kaum verstehen kann‘ auch die biblische Botschaft deutlich machen: „Gott geht es uns gegenüber um Leidenschaft und nicht zuerst um Tradition, Bekenntnissätze und ein paar Grundwerte.“

Nun ist es nicht so, als ob das eine neue Erkenntnis wäre. Dass die neue Religion im 20. Jahrhundert die Liebesreligion sei, hatten schon Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim in ihrem Buch „Das ganz normale Chaos der Liebe“ vertreten. Sie hatten diese Form der Liebesreligion so beschrieben:

Diese „Liebe ist Subjektivitätsreligion, ein Glaube, in dem alles: Bibel, Priester, Gott, Heilige und Teufel, in die Hände und Körper, die Phantasie und Ignoranz der sich liebenden und mit ihrer Liebe marternden Individuen gelegt ist."

Diese „Liebe ist die Religion nach der Religion“. Aber machen wir uns nichts vor:

“Bei allen Parallelen sind die Unterschiede zwischen Liebe und Religion groß: hier ein privater, dort ein die Herrschafts- und Weltordnung umgreifender Kosmos. Die Liebenden sind ihre eigene Kirche, ihre eigenen Priester, ihre eigene Bibel“.

Die Evangelische Kirche scheint sich aber damit abzufinden, dass die biblische Religion kaum noch zu vermitteln ist und hat damit begonnen, die Liebesreligion des 20. Jahrhunderts zu ihrer eigenen zu erklären. Wenn sie da mal nicht falsch liegt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/87/am465.htm
© Andreas Mertin, 2014