Resonanzen & Kompetenzen |
Träume, Wünsche, SehnsüchteSchlagertexte im analytischen Blick[1]Harald Schroeter-Wittke Als ich für diese Tagung ein Referat zusagte, war mir noch nicht klar, worauf ich mich damit einlassen würde. Als Praktischer Theologe sehe ich meine Aufgabe mit Paulus zunächst darin, den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche und den Schlagerhörenden ein Schlagerhörer zu werden (vgl. 1. Kor. 9,19-23). In der Praktischen Theologie geht es immer darum, die jeweilige Lebenswelt der Menschen wahrzunehmen, zu würdigen, wert zu schätzen und sie dann mit dem Evangelium heilsam zu konfrontieren. In einer Welt mit sehr differenzierten Lebenswelten gehe ich davon aus, dass es keine Lebenswelt gibt, die dem Evangelium ferner wäre als andere. Dabei gilt für jede Lebenswelt: Selig sind die Armen im Geiste. Und: Die Reichen haben es verdammt schwer, ins Himmelreich zu kommen. Mit dieser Voreinstellung habe ich mich an die Aufgabe gemacht, die Lebenswelt der Schlager praktisch-theologisch zu erkunden. Das ist keine einfache Aufgabe, denn schon vor 10 Jahren gab es etwa 6.000 Tonträger, die dem Genre Schlager zugerechnet werden können. Da in meiner umfangreichen CD-Sammlung bis dato keine Tonträger mit Schlagern zu finden waren, habe ich mich also in Unkosten gestürzt und mir seit Wochen folgende CDs intensiv zu Gemüte geführt:
Zwei Bemerkungen zu den beiden letztgenannten Schlagersängerinnen:
Zu den von mir gekauften Schlagern kommen natürlich noch jede Menge Déjà-vu-Erlebnisse, denn niemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, konnte sich während seiner Sozialisation dem Schlager entziehen. Wie immer, wenn ich mich als Praktischer Theologe an eine mir neue oder fremde Lebenswelt heranwage, so erging es mir auch diesmal: Ich bin bereichert aus dieser Beschäftigung hervor gegangen. Ich habe den Schlager und seine Welt schätzen gelernt. Der Schlager hat begonnen, mich zu faszinieren. Aber auch dies ist bestehen geblieben: Ich habe den Schlager nicht lieb gewonnen. Das ist schlicht und ergreifend nicht meine Welt. Aber ich bin Wissenschaftler und da gehört es zum Professionsbild dazu, sich ordentlich mit Welten zu beschäftigen, die einem persönlich nicht zusagen. Nun gibt es beim Schlager die Schwierigkeit, dass sich bislang kaum jemand theologisch an diese Welt herangetraut hat, denn sie gilt theologisch und auch sonst wissenschaftlich irgendwie als babapfui. Wer sich als Schlagerfan outet, könnte durchaus riskieren, kulturell von der Wissenschaftscommunity nicht mehr für voll genommen zu werden. Vielleicht liegt es an diesem Umstand, dass einer meiner geschätztesten Kollegen sich bislang weigert, seine umfassende Schlagerkenntnis und begeisterung auch in seine wissenschaftlichen Betätigungsfelder mit zu integrieren. Es könnte aber auch schlicht sein, dass er nicht alles zur Wissenschaft machen will, was ihm unter die Finger kommt. Wie auch immer: Mit mir spricht heute morgen einen weitgehend schlagerunkundiger Wissenschaftler über Schlager. Das ist auch der Grund, warum das Thema, das ich angekündigt habe, grundfalsch ist. Denn das, worum es beim Schlager geht, hat nur zu einem sehr geringen Teil mit seinen Texten zu tun. Es ist durchaus richtig, dass es beim Schlager um Träume, Wünsche und Sehnsüchte geht. Aber dies an den Texten analysieren und festmachen zu wollen, würde am Schlager vorbei gehen. Ich werde daher heute morgen zu einem anderen Thema sprechen, das da lautet: "...denn der Himmel war besetzt".Materialien zu einer Praktischen Theologie des SchlagersDer Schlager wird von einer großen Anzahl von Menschen gehört und in Gebrauch genommen. Diese Tatsache bildet den Ausgangspunkt meiner Praktischen Theologie. Ich bedenke daher die theologieaffinen Stationen meiner Schlager-Biographie. 1. Station: Tod eines Truckers hinter BlankenheimDas erste Mal, dass ich theologisch auf den Schlager aufmerksam wurde, war in den 1990er Jahren auf einer Brummi-Raststätte hinter der A 1 hinter Blankenheim, irgendwo zwischen Daun und Prüm in der Eifel, dort wo die Kyll entspringt. Während ich meine Manta-Platte aß, hörte ich im Hintergrund Schlager. Plötzlich nahm ich wahr, dass dort eine Frau die Trauer zum Klingen brachte, die sie angesichts des Todes ihres Geliebten, eines Brummi-Fahrers erlebte. Sie besang die Situation, als sich beide zum letzten Mal sahen und verabschiedeten, bevor er bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Ich hatte pötzlich Gänsehaut. Für diesen Vortrag suchte ich nach diesem Schlager, fand ihn aber nicht mehr. Stattdessen stieß ich bei der Google-Suche mit den Stichworten Tod, Trucker, Brummifahrer, Trauer etc. auf ein Internetforum von 2006, in dem eine Frau schreibt: Lieder zum Thema Tod, Trauer, Unfall etc gesucht. Weil meine beste Freundin vor kurzem von hirnlosen Rasern getötet wurde, suche ich nun Musik, die mit Tod usw. zu tun hat. Egal aus welcher Musikrichtung, gerne unbekanntere Titel, eigentlich bin ich aber für jede Anregung dankbar. Sie erhält folgende Antwort: "Oh, das tut einem in der Seele weh; mein aufrichtiges Beileid! Hanne Haller hatte vor ihrem Tode verschiedene Songs geschrieben, zu finden auf ihrer CD "Mitten im Licht". Ihr "Vater unser" finde ich persönlich sehr gut. Berührt hat mich damals aber auch sehr stark Juliane Werding's "Am Tag, als Conny Kramer starb". Dies handelt allerdings von 'nem Drogenabhängigen. Richtig traurig macht mich allerdings noch heute Nicole's "Johnny".... Eine andere Antwort mit den entsprechenden Internet-Links lautet:
Eine komplette Trauerapotheke als Alltagsseelsorge wird hier unaufdringlich und breit gefächert angeboten, aus der sich die Musik-Suchende je nach ihren Bedürfnissen bedienen kann. Ich bin beeindruckt und gehe dem Hinweis mit den Schürzenjägern nach und bin noch beeindruckter: Die Zillertaler Schürzenjäger, ab 1996 nur noch Schürzenjäger, gehörten zu den erfolgreichsten Musikgruppen Österreichs. 1994 bestritten sie in Finkenberg im Zillertal das bis dato größte Konzert in Österreich mit 70.000 Besucherinnen und Besuchern. Gegründet wurden sie 1973, u.a. von Peter Steinlechner und bestanden bis 2007. Als 1992 die Frau des Bandleaders Peter Steinlechner mit knapp 40 Jahren an den Folgen eines Herzinfarktes stirbt, bringt er 1993 folgendes Lied auf den Markt:
1995 folgt "Sollt' halt net so bleib'n"[2].
10 Jahre nach dem Tod seiner Frau singt er zusammen mit seiner Tochter "Manches geht niemals vorüber":
Was Carmen Berger-Zell in ihrer Paderborner Dissertation über Trauerleibsorge deutlich gemacht hat,[3] wird hier musikalisch vollzogen: Trauern ist kein Prozess, der irgendwann abgeschlossen sein muss, damit wir wieder ins Leben zurückkehren können. Trauern ist vielmehr ein lebenslanger Prozess mit unterschiedlichen Facetten. Die Schürzenjäger leisten hier kompetente Lebenshilfe. 2. Station: Denn der Himmel ist besetztDer Schlager als Trauerhilfe das habe ich auch in Oberhausen erlebt, wo wir vor 10 Jahren im Haus des Ev. Kirchenkreises gewohnt haben, das auch Wohnungen und Appartments an bedürftige Menschen vermietet hat. Mit unserem direkten Nachbarn, der vor 5 Jahren starb, haben wir uns gut verstanden. Wir waren eine verrückte Kombination: Der mit einem Bein in der Obachlosigkeit Stehende und der angehende Professor, wobei vom äußeren Erscheinungsbild her nicht immer klar war, wer wer war. Es kam vor, dass unser Nachbar nach einer durchzechten Nacht mit milieuüblichem Unfall sich mit seinen blutigen Händen das Treppenhaus entlang zu seinem Appartement hangelte, so dass der Flur am nächsten Tag blutverschmiert war. Zu seiner Frau und Tochter war der Kontakt völlig abgerissen. Ungefähr einmal pro Monat wurden wir mitten in der Nacht Zeugen einer zu Herzen gehenden Performance, die uns nicht mehr schlafen ließ: Unser Nachbar hatte seine Anlage auf Endlosschleife gestellt, so dass in vollster Lautstärke manchmal eine Stunde lang der Smashhit aus Andrea Bergs CD "Wo liegt das Paradies" aus dem Jahr 2002 erklang:
Trauern ist sehr individuell und nicht immer sozial verträglich. Herr Durst hat mir mit seiner Trauer-Performance Türen in die Welt des neuen Schlagers eröffnet. Wenn ich ihn hätte beerdigen müssen, wäre dies der Kern meiner Traueransprache gewesen: ...doch der Himmel war besetzt. 3. Station: Gute Nacht, MutterAuf der Suche nach weiteren Beispielen für das Thema Tod, Trauer und Schlager stoße ich auf einen Aufsatz von Fred Ritzel, Professor für Musik in den Medien an der Universität Oldenburg: Tod ein Thema des Schlagers?[4] Der Aufsatz befasst sich ausschließlich mit dem Schlager "Gute Nacht, Mutter" (1938, Text: Erwin Lehnow, Musik: Werner Bochmann):
Ritzel zeigt, wie dieser Song 1940 durch sein Erklingen im "Wunschkonzert der Wehrmacht" so populär wurde, dass er auch nach dem Krieg wieder sehr häufig gespielt wurde. Das Wunschkonzert wurde erstmals am 1.10.1939 gesendet, 1941 aber wieder eingestellt.[5] In dem 1940 veröffentlichten Film "Wunschkonzert" begegnet Bochmanns Lied, nachdem der Moderator folgende Ansage gemacht hat:
Darauf erklingt das Lied mit dem Edelbariton der Unterhaltungsmusikszene, Wilhelm Strienz. Das Lied wird in gewisser Weise umgedreht. Wird im Text besungen, wie der Sohn den nahen Tod der Mutter ahnt, so fungiert das Lied hier nun als Trostlied für die Mutter, die ihren Sohn noch einmal hört: "Dein Sohn ist da, singt dir ein Lied, schlafe nun ein bis morgen." Angesichts der massenhaften Trennungen und der damit verbundenen Ängste, die der Kriegsbeginn mit sich brachte, fungiert Bochmanns Lied "hier als therapeutisches Mittel, als massenmediale Tröstung für das Problem 'Tod'"[7]. Das Wunschkonzert-Buch, bis 1942 in einer Auflage von 350.000 Exemplaren erschienen, bemerkt dazu: "Alles war still im Sendesaal und überall in der Welt, wohin die Erzählung des Sprechers reicht. Und jetzt wußte die Mutter: Walter ist nicht allein für dich, sondern für alle gefallen!"[8] Der Nationalsozialismus hat Menschen, Massen, Medien und Musik missbraucht. Aber: "Man darf die Masse nicht ihren Feinden überlassen." Mit diesem Argument hat Reinold von Thadden-Trieglaff nach 1945 den Deutschen Ev. Kirchentag als Massenversammlung gegründet.[9] Dasselbe gilt m.E. für die Unterhaltungsmusik, auch für den Schlager. 4. Station: KZ-Musik[10]Meine 4. Station führt ins KZ. Bei meiner Beschäftigung mit Musik, die im KZ komponiert und gespielt wurde, stieß ich auf eine große Menge von Unterhaltungsmusik, u.a. auf den Schlagerkomponisten Willy Rosen (1894-1944), der in der Weimarer Republik zu den bekanntesten Unterhaltungskünstlern gehörte. Er wurde 1894 in Magdeburg als Wilhelm Julius Rosenbaum geboren und 1944 in Auschwitz-Birkenau vergast. In der Weimarer Republik gewann er zweimal die goldene Geige im Deutschen Schlagerwettbewerb. Nach seinem Auftrittsverbot durch die Nazis emigrierte er 1937 in die Niederlande. Nach der deutschen Besetzung kam er ins KZ Westerbork, wo er an den von Max Ehrlich organisierten Theaterabenden mitwirkte. In diesem Zusammenhang entstanden auch seine Programme Bunter Abend sowie Humor und Melodie, aus denen ich hier vier Schlager vorstelle, die 1943 im KZ Westerbork zum Besten gegeben wurden. In ihnen erklingt Unterhaltung als Überlebensmittel: 1. Die Mädel von der Hachscharah (aus: Bunter Abend I)
2. Tatata (aus: Humor und Melodie)
3. Wenn ein Paketchen kommt (aus: Humor und Melodie)
4. Opium Skizze (aus: Humor und Melodie)
Ich wohne in der Stadt Büren, in der das kleinste selbstständige KZ beheimatet war, das KZ Niederhagen, welches für den Umbau der Wewelsburg zum SS-Kultzentrum eingerichtet wurde.[13] Otto Preuss (1914-2003), ein Überlebender dieses KZs, singt in einem Interview das Wewelsburg-Lied, welches dem Schlager zugeordnet werden kann. Vorher sagt er, dass es im KZ darauf ankam, optimistisch zu sein. Nur so war Überleben möglich. 5. Station: Kurze Theologie der Unterhaltung[14]Unterhaltung ist das wichtigste Medium der Popkultur, zu der auch der Schlager gehört. Der Popkulturforscher Hans-Otto Hügel versteht Popkultur als unterhaltende Kultur. Dies erlaubt, Popkultur als eigenständiges System zu begreifen, das zugleich mit der Gesamtkultur in einem Zusammenhang steht. Dabei meint Unterhaltung keinesfalls jede Form von Amusement, sondern wird "als Teilhabe an sowohl ästhetisch zweideutig produzierten als auch zweideutig rezipierten, medial vermittelten [...] Ereignissen und Artefakten aufgefasst"[15] Unterhaltung stellt mit Georg Seeßlen ein eigenes "Sinnsystem" dar, das als jüngster Diskurs zu den großen Sinnsystemen Religion, Wissenschaft, Kunst und Pädagogik dazu gekommen ist und als "das komplizierteste Sinnsystem unserer Gesellschaft"[16] gilt. Popkultur als Unterhaltung lebt von der ästhetischen Zweideutigkeit. "Das beständige Sowohl-als-Auch von Ernst und Unernst im Angebot, das das Artefakt macht und die Rezeption realisiert, befreit die Teilnehmer an der Populären Kultur vom Odium, minderwertig zu sein."[17] Diese ästhetische Zweideutigkeit stellt nicht in die Entscheidung, sondern eröffnet Freiräume für die rezipierenden Subjekte, die gleichwohl immer dem Rezeptionsstoff unterliegen (sub-iectum). Mit solcher ästhetischen Zweideutigkeit tut sich insbesondere die protestantische Kirche mit ihrem prophetischen Gestus schwer. Unterhaltung hat bis heute keinen guten Ruf bei den Gebildeten unter ihren Verächtern. Immer noch wirken die mentale Trennung von E- und U-Kultur bei der gebildeten Elite sowie die übliche intellektuelle Schelte massenmedialer Produktionen nach. Dazu kommt eine spezifisch deutsche Schwierigkeit, die in der Tatsache begründet liegt, dass Unterhaltung von den Diktaturen und Unrechtregimes im Deutschland des 20. Jahrhunderts missbraucht worden ist. Schließlich gilt Unterhaltung auch theologisch als fragwürdig. Bis heute hält sich das Vorurteil des Johannes Chrysostomos, Jesus habe nicht gelacht, das erst im 19. Jh. endgültig widerlegt wurde, als es an prominenter Stelle in der gebotenen popkulturellen Massenwirksamkeit hieß: "Stille Nacht, heilige Nacht, Gottes Sohn, o wie lacht." Dabei hat Unterhaltung eine lange positive theologische Karriere hinter sich. Denn gute Unterhaltung führt ihre drei Dimensionen zusammen: ihre ernährende (nutritive), ihre gesellige (kommunikative) und ihre genießende (delektarische) Dimension.
Unterhaltung gewährt Unterhalt. Dieser Aspekt ist insbesondere in der protestantischen Orthodoxie als Lehre von der conservatio bedacht worden. Paul Gerhardt z.B. kann davon ein Lied singen: "Was sorgst du für dein armes Leben, wie du's halten wollst und nähren? Der dir das Leben hat gegeben, wird auch Unterhalt bescheren. Er hat ein Hand, voll aller Gaben, davon sich See und Land muß laben. Gib dich zufrieden!" Gott unterhält die Welt. He's got the whole world in his hands. Indem Gott aber die Welt unterhält, unterhält er auch sich mit der Welt. D.h., "Gott liebt diese Welt." Er hat Wohlgefallen an ihr. Sie bereitet ihm Lust. Und: Gott redet mit der Welt, wenn er sich mit ihr unterhält. Nach protestantischem Verständnis geschieht dies vor allem im Gottesdienst, wo nach Luthers berühmter Definition Gott mit uns redet und wir ihm antworten durch Gebet und Lobgesang. Gute Unterhaltung gewährt uns Unterhalt. Schlechte Unterhaltung hingegen ist nutritiver Betrug. Gottesdienst als gute Unterhaltung bedeutet daher, den Menschen in ihren Geschichten mit göttlichen Geschichten so Unterhalt zu gewähren, dass sie vorübergehend Halt gewinnen. Gute Unterhaltung heißt theologisch daher aber auch: Halt gibt es immer nur vorübergehend, en passant, im Übergang. Der Halt, den ein unterhaltsamer Gottesdienst gewährt, vergeht auch wieder, ist vergänglich. Dies wird besonders deutlich im Modus der Musik, des Singens und Hörens, denn Klänge sind die ästhetische Ausdrucksgestalt, die verklingen, am schnellsten vergehen, verschwinden.
Zwei oder mehr Menschen unterhalten sich miteinander, oft frei assoziierend. Gute Unterhaltungen sind meist lose, oft eignet ihnen eine lockere Atmosphäre. Gute Unterhaltung sucht das partnerschaftliche Gespräch unter Gleichberechtigten. Als erster hat der Pietismus die aufkommende bürgerliche Gesprächskultur als Konversation auch zu einer kirchlichen Kultur gemacht. Jedoch verfolgte er dabei von Anfang an das Interesse einer Verkirchlichung und damit einer Hierarchisierung der Gespräche vom Predigtamt bzw. von der Bibel her. Erst Schleiermacher hat mit seiner Theorie der freien Geselligkeit, die in der liberalen Salonkultur Berlins um 1800 wurzelt, der kommunikativen Dimension von Unterhaltung auch in der Kirche den gebührenden Raum bereitgestellt. Unterhaltsame "Theologie als Gespräch" (David Tracy) schafft eine Atmosphäre der Partnerschaft unter Gleichberechtigten, was auch für den Gottesdienst gilt.[18]
Sie macht Spaß. Sie amusiert uns. Sie berührt uns. Sie ist rührend. Sie erheitert und erleichtert. Das delectare (das Unterhalten) spielt in der antiken Rhetorik eine große Rolle. Delectare gehört neben dem docere, dem Lehren, und dem movere, dem Bewegen, zu den drei Grundaufgaben einer jeden Rede in der Antike. Jede Rede hat zu lehren, zu unterhalten und zu bewegen: docere delectare movere. Während das docere als Lehre auf die intellektuelle Einsicht zielt, sprechen das delectare als Unterhaltung und das movere als Pathos die Affekte an. Dabei bedient das delectare die sanften Affektstufen, denn es soll der Übermüdung durch Lehre und Pathos vorbeugen. Das delectare berührt die Menschen und erleichtert sie so. Manchmal beschwingt sie sogar oder rührt zu Tränen. Das wäre im Übrigen nicht das schlechteste Qualitätskriterium für liturgische Wirkungen, insbesondere bei den Kasualien. 6. Station: Ein Indiojunge aus PeruAls Julio Mendívil aus Peru 1998 zum ersten Mal mit Katja Ebsteins Schlager "Ein Indiojunge aus Peru" in Berührung kam, war die Idee für seine musikethnologische Doktorarbeit geboren: "Ein musikalisches Stück Heimat. Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager." Mendívil beschreibt brilliant und amüsant, wie er mit diesem Thema bei linken Intellektuellen und in der Musikwissenschaft ebenso aneckte wie in der Schlagerbranche. Als Ergebnis seiner Studien bestreitet Mendívil einige Allgemeinplätze zum Schlager:
Was aber sind Schlager dann? Mendívil paraphrasiert diesbezüglich "Nietzsches Urteil über Wagners Musik": "Sie sind von vorgestern und von übermorgen sie haben noch kein heute."[20] Gegenüber den üblichen produktorientierten Analysen des Schlagers,[21] die mehr über die Analysten als über die Schlager verraten, legt Mendívil eine konsequent diskurstheoretische Analyse des Schlagers vor: "Die einzige Voraussetzung, die erfüllt werden muss, damit ein Musikstück als Schlager gilt, [ist] eben die, dass es als solcher von der Schlagergemeinde anerkannt wird."[22] Ein Schlager wird also durch seine Rezeption und durch den damit verbundenen Diskurs zum Schlager. Daher ist die entscheidende Frage die, wie die Menschen, die Schlager hören, sich mithilfe der Schlager ihre Welt konstruieren. Diese Fragestellung ist praktisch-theologisch sehr gut anschlussfähig, weil sie im doppelten Sinne subjektorientiert arbeitet. Sie nimmt die Subjekte von Schlagermachern und hörern ernst, indem sie diese danach befragt, was sie mit dem Schlager tun. Sie nimmt die Subjekte aber auch insofern ernst, als sie ihren Diskurs aufzeigt, dem sie als sub-iectum unterworfen sind. Das beginnt bei der Schreibung seiner Geschichte.[23] Ein besonders wichtiger Bruch im Schlagerdiskurs ist hier nach 1945 zu verzeichnen. Während der Begriff Schlager bis dahin relativ undifferenziert jede Art von Popularmusik bezeichnet, wird er in der Nachkriegszeit zu einem Begriff für eine bestimmte Musik, die in Opposition zur englischsprachigen Musik steht und dadurch zunehmend einen nationalen Charakter erhält. Wenn sich also Adorno zum Schlager äußert, dann meint er nicht eine bestimmte Musikrichtung, sondern die Popularmusik insgesamt. Nach Mendívil werden mit dem Begriff Schlager gegenwärtig drei unterschiedliche Musikszenen in Deutschland bezeichnet, bei denen es durchaus Querverbindungen gibt. Da ist 1. der deutsche Schlager. Da ist 2. der volkstümliche Schlager. Und da ist 3. der Après-Ski- bzw. Ballermann-Schlager, auch Partyschlager[24] genannt. Nach Mendívils Arbeit ist noch der Pop-Schlager (z.B. Helene Fischer) dazu gekommen. Ein zentrales Thema des deutschen Schlagers ist Heimat, wobei auch der Heimatdiskurs differenziert werden muss. Entscheidend für den Heimatdiskurs im deutschen Schlager ist, dass er "eine vergangenheitsbeschönigende, fortschrittsfeindliche Utopie verkörpert, die wie in der Biedermeierzeit, einen Rückzug ins Private als Verweigerung gegenüber den Zwängen der Außenwelt impliziert"[25]. Mendívil bringt damit die Widerstandskraft des deutschen Schlagers gegenüber der Reflexivität der Moderne zur Geltung, die auch einen Widerstand gegenüber der Alleinherrschaft des ökonomischen Diskurses impliziert. Die Königin der Volksmusik, Stefanie Hertel, bringt 2003 in einem Interview mit Mendívil den politischen Anspruch ihrer Musik zur Sprache:
Mendívil nennt dies "eine Rebellion der Konservativen", "eine gewaltlose oppositionelle Haltung gegenüber" der "ständige[n] Veränderung der eigenen Prämissen". Nach Mendívil "geht diese Rebellion den gewaltlosen Weg der Um-Schreibung. Damit das Neue akzeptiert werden kann, muss es zuerst an die alten Werte und Vorstellungen angepasst werden."[27] So ist es dann z.B. auch kein Problem, wenn Patrick Lindner als Homosexueller geoutet wird: Wichtig ist, dass er mit seinem Partner als Familie lebt, die eben auch ein Kind adoptiert. Die von Mendívil sog. "'Rebellion der Konservativen' verfolgt [...] nicht die Befreiung von Orten, sondern vielmehr das Ermöglichen des Erlebnisses einer der liberalen Moderne entgegengesetzten Welt, die in aller Ruhe zu Hause genossen werden kann."[28] Vermittelt wird dies durch entsprechende Fernsehsendungen, die zur Prime Time ausgestrahlt werden. Erstaunlich ist, dass das Live-Publikum dieser Sendungen selbstverständlich mitspielt und sich z.B. gegen das Playback überhaupt nicht wehrt, sondern vielmehr mitspielt, wenn es darum geht, den TV-Zuschauenden ein Live-Erlebnis zu senden. Allen ist klar, dass das Entscheidende zu Hause passiert als "Gemütlichkeit[29]" die widerständig ist gegen die alles umfassende Reflexivität der Moderne. Für Schlagerhörende ist daher "die Konstruktion eines Zuhauses viel wichtiger als die reale Besetzung eines öffentlichen Raumes"[30]. Genau aus diesem Grund ist der Schlager vor allem bei den Kasualien ein nicht zu unterschätzendes liturgisches und homiletisches Material, insofern hier das Private, das Zuhause, welches sich die Menschen konstruieren, öffentlich begangen wird. Träume, Wünsche, Sehnsüchte "so a Stückerl heile Welt" oder anders gesagt: "In meiner Badewanne bin ich Kapitän!"[31] Mendívil verweist in diesem Zusammenhang auf Italo Calvino, für den "das Wünschenswerte einer Zukunft, die noch zu erreichen ist, durch die Erinnerung an eine verlorene Vergangenheit garantiert wird"[32]. Milieutheoretisch ist der Schlager Ausdruck des Harmoniemilieus, welches die heile Welt zu hause genießt, was unter dem sozialethischen Gesichtspunkt des ökologischen Fußabdrucks kirchlicherseits nur begrüßt und gefördert werden kann. Die Milieutheorie ist eine soziologische Theorie und kann daher theologisch nicht normgebend sein. Bislang hat sie das positive Verständnis für Menschen in bestimmten Milieus theologisch gefördert. Das ist gut und richtig so. Es wäre aber theologisch auch noch eine milieutheoretische Todsündenlehre zu erarbeiten, die zeigt, worin die Schwächen und Anfälligkeiten der einzelnen Milieus liegen, wo und wie das zu umschreiben ist, woran die Welt zugrunde gehen würde, wenn es nur dieses eine Milieu geben würde. Mein Eindruck ist hier, dass die Lebenswelt des Schlagers die Schärfe mancher Probleme verharmlost, indem sie sie unter der Hand integriert, vereinnahmt. Doch ich bin hier vorsichtig, weil auch mein Milieu, meine Lebenswelt nicht ohne Vereinnahmungen auskommt. Theologisch muss beides eine Rolle spielen: Das Exodusgeschehen, welches im Schlager deutlich unterrepräsentiert ist, ebenso wie eine Landnahme, eine Beheimatung in einer Welt, von der die Schlagersängerin Hanne Haller singt: Wir sind nur Gast auf dieser Welt. So stellt der Schlager die Frage nach dem theologischen Umgang mit der Heimatbedürftigkeit von Menschen angesichts rasanter Veränderungen allerorten.
Anmerkungen[1] Referat bei der Tagung "Schlager und Kirche" in Villigst am 13.01.2014. Der Vortragsstil wurde beibehalten. [2] Zur hier verwandten alpinen Kunstsprache vgl. Roman Horak: "Dahoam is Dahoam". Über die Effektivität der 'Volkstümlichen Musik'; in: Udo Göttlich / Rainer Winter (Hg): Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies, Köln 2000, 233-250. [3] Carmen Berger-Zell: Abwesend und doch präsent. Wandlungen der Trauerkultur in Deutschland, Neukirchen-Vluyn 2013. [4] Fred Ritzel: Tod ein Themna des Schlagers? In: Mechthild von Schoenebeck / Jürgen Brandhorst / H. Joachim Gerke (Hg): Politik und gesellschaftlicher Wertewandel im Spiegel populärer Musik, Essen 1992, 87-101. [5] Zwar erweckte das Wunschkonzert den Eindruck einer spontanen Rundfunksendung, stand aber unter strenger Kontrolle des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und war deshalb voll durchinszeniert. 1939 erklang das Wunschkonzert zweimal in der Woche, 1940 nur noch einmal in der Woche, nach Beginn des Russlandfeldzugs 1941 wurde es eingestellt, nach Stalingrad wurden Sendetitel und Sendeformat verboten. "Ganz offenkundig hatte der Krieg ein Ausmaß angenommen, das seinen 'Unterhaltungswert' drastisch reduzierte." (Ritzel, 91) [6] Ritzel, 93. [7] Ritzel, 93. [8] Ritzel, 95. [9] Vgl. dazu Harald Schroeter: Kirchentag als vor-läufige Kirche. Der Kirchentag als eine besondere Gestalt des Christseins zwischen Kirche und Welt, Stuttgart 1993. [10] Francesco Lotoro (Hg.): KZ Musik Encyclopedia of Music Composed in Concentration Camps (24 CDs, www.musikstrasse.it); vgl. dazu Harald Schroeter-Wittke: KZ-Musik; in: Praktische Theologie 49 (2014), 63-65. [11] Die Hachscharah ist geprägt von der jüdischen Jugendbewegung und bezeichnet Kurse zur Vorbereitung auf die Besiedlung Palästinas im Rahmen der zionistischen Bewegung. [12] "Text und die Musik von mir" dieser Satz war das Markenzeichen Rosens in seinen Konzerten in der Weimarer Republik. Er wurde zum geflügelten Wort [13] Vgl. dazu Oliver Arnhold / Harald Schroeter-Wittke: Wewelsburg Religionssensibilität an einem Ort des Schreckens; in: Gudrun Guttenberger / Harald Schroeter-Wittke (Hg.): Religionssensible Schulkultur, Jena 2011, 89-96. [14] Vgl. dazu Harald Schroeter-Wittke: Art. Unterhaltung; in: Theologische Realenzyklopädie 34 (2002), 397-403. [15] Hans-Otto Hügel: Einführung; in: Ders. (Hg.): Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart/Weimar 2003, 17. [16] Georg Seeßlen: Sinnsystem Unterhaltung. Zur Struktur und gesellschaftlichen Funktion des Unterhaltungsfilms; in: medien praktisch 17 (1993), Heft 1, 49. [17] Hügel, 17. [18] Vgl. dazu exemplarisch Harald Schroeter-Wittke: Liturgische Moderation. Praktisch-theologische Erwägungen zu einem exemplarischen Modus zeitgenössischer Verkündigung, in: PTh 99 (2010), 449-463. [19] Julio Mendívil: Ein musikalisches Stück Heimat. Ethnologische Beobachtungen zum deutschen Schlager, Bielefeld 2008, 352. [20] Mendívil, 352f. [21] Theologisch ist hier z.B. die von Siegfried Vierzig betreute Dissertation von Rita Weisweiler zu nennen, die inhaltlich vieles fleißig zusammenträgt und ordnet, ihre ideologiekritischen Beobachtungen und Urteil aber allein an den Texten festmacht: Heil vom Plattenteller. Untersuchungen zur religiösen Symbolik des neueren deutschen Schlagers. Ein kritischer Versuch. Dissertation Universität Oldenburg 1985. [22] Mendívil, 346. [23] Vgl. dazu die Skizze bei Mendívil, 231f. Zur Geschichte des deutschen Schlager vgl. auch das instruktive Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Mai bis Oktober 2008, im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, November 2008 bis März 2009: Melodien für Millionen. Das Jahrhundert des Schlagers, Bielefeld/Leipzig 2008. [24] Vgl. dazu auch die Überlegungen und Selbstwahrnehmungen anhand des Bottroper Brezelfestes bei Hans-Martin Gutmann: Popularmusik der Gegenwart. Triviales, Verbindendes, Religiöses. Eine Spurensuche; in: Jochen Arnold / Folkert Fendler / Verena Grüter / Jochen Kaiser (Hg.): Gottesklänge. Musik als Quelle und Ausdruck des christlichen Glaubens, Leipzig 2014, 27-43. [25] Mendívil, 348. [26] Mendívil, 253f. [27] Mendívil, 348. [28] Mendívil, 271. [29] Vgl. dazu Brigitta Schmidt-Lauber: Gemütlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung, Frankfurt/New York 2003. [30] Mendívil, 272. [31] Vgl. dazu Manfred L. Pirner: "In meiner Badewanne bin ich Kapitän" Zum Verhältnis von musikalischer und religiöser Erfahrung; in: Marion Keuchen / Helga Kuhlmann / Martin Leutzsch (Hg.): Musik in Religion Religion in Musik, Jena 2013, 339-345. [32] Mendívil, 347. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/87/hsw16.htm
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