Resonanzen & Kompetenzen


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Resonanzen I

Ein Briefwechsel über Kunst, Kino und Verstehen

Jörg Herrmann / Andreas Mertin / Karin Wendt


Lieber Andreas,

noch ein paar Assoziationen zu Deinem Text: Du schreibst, das Kino sei keine Kunst. Das würde ich, insbesondere für den künstlerisch ambitionierten Film, der im Branchenjagon unter dem Label Arthousekino läuft, entschieden bestreiten. Sollten Godard, Fellini, Tarkowskij und Bergman oder auch Won Kar-Wai keine Kunst sein? Um das Kunstkino auszuschließen, braucht es schon einen recht engen Begriff von Kunst. Damit wären Rudolf Arnheim (Film als Kunst, 1932) und viele andere, für die der Film selbstverständlich als die siebte Kunst gilt, nicht einverstanden - Kant hin oder her. Unterhaltungselemente scheinen mir erlaubt. Wer wollte leugnen, dass sie sich auch in dem Feld finden, das heute als das der Kunst gilt. Ich denke an Jeff Koons und Andy Warhol, aber auch an Marina Abramovic und Tino Sehgal.

Auch die große Distanz des Films zur einladenden Narratio vom Himmelreich kann ich gar nicht sehen. Es gibt viele Filme, die den Vergleich mit den neutestamentlichen Gleichnissen nicht scheuen müssen. Ich denke an Filme wie Wie im Himmel, Le Havre, Der Mann ohne Vergangenheit oder Esmas Geheimnis. Selbstverständlich sind diese Filme menschliche Leistungen – wie die Evangelien auch. Von Menschen für Menschen gemacht.

Die Unterscheidung von Missbrauch und Gebrauch des Kinos kann ich ebenfalls nicht recht nachvollziehen. Der Rezipient ist doch frei, sich das Kino auf seine je eigene Weise anzueignen. Vorschriften für die richtige Rezeption zu machen, scheint mir doch abwegig. Da wären auch die Cultural Studies vehement dagegen. Warum soll eine religiöse Lesart immer eine sekundäre Applikation sein? Mein schönes Beispiel des Schülers, der American Beauty gesehen hat und religiöse Erfahrungen machte, spricht z.B. dagegen.

Dass es eine Sinnschicht gibt, die für religiöse Interpretation offen ist, scheint mir unstrittig. Nicht im Blick auf alle Filme, aber es sind doch nicht wenige.

Na ja, es wieder spät, ein anderes Mal weiter,
herzlich,

Jörg


Lieber Jörg,

dass das Kino bzw. der Film Kunst sei, ist ja zunächst einmal nur ein Etikett, das auf ein Produkt geklebt wird. So wie Bio auf den Joghurt oder Öko auf das Auto. Nur weil ein entsprechendes Etikett draufklebt, ist es nicht schon Kunst. Was ist denn das spezifisch Kunsthafte an einem Film von Godard? Also nicht das, was ein Werk von ihm zu einem guten Werk macht, sondern genau das, was nach der Begriffsentwicklung der modernen Philosophie ein Kunstwerk als Kunstwerk ausmacht? Ich sehe, dass Filme von Godard sich vom Mainstream fernhalten, aber das ist kein Kriterium für Kunst. Moderne Kunst hält sich ganz und gar nicht vom Publikum fern, hält aber am Kunsthaften fest. Mich irritiert dieser Wunsch, im Rahmen einer sich ausdifferenzierenden Moderne unter einen spezifisch an bestimmten kulturellen Bereichen entwickelten Begriff wie Kunst möglichst viel zu subsummieren, statt die Begriffsentwicklung weiter fort zu entwickeln. Wenn wir den Film zur Kunst hinzuzählen, warum nicht auch den abendfüllenden Fernsehfilm? Wenn den Fernsehfilm, warum nicht auch die Fernsehserie? Oder die Soap? Das Musical? Die Kochshow?

Arnheim war seinerzeit daran gelegen, im Rahmen einer damals noch üblichen Abwertung eines Neuen Mediums eine kulturelle Anerkennung herbeizuführen, weshalb man ja auch von Lichttheatern sprach. Derartige Anknüpfungen an etablierte Kulturformen sind heute nicht mehr notwendig, wir können cineastische Erfahrung eigenständig als eine spezifische und sich weiter ausdifferenzierende Erfahrungsform beschreiben – und sollten das auch möglichst präzise tun! Ich will also nicht weniger, sondern mehr für den Film. Aber ich will auch dieses Parasitäre nicht, dass eine Kulturform sich auf Kosten der anderen profiliert.

Mir würde es allerdings schon reichen, wenn man präzise philosophisch die Urteilsform bestimmt, die es berechtigt sein lässt, angesichts des Films (und hier nicht nur von einer Minderheit von Werken) von einer Kunstform zu sprechen. In der Bildenden Kunst sagt man ja auch nicht: aber es gibt doch Gemälde die Kunst sind. Sondern, wenn ein Werk zu wenig Kunstcharakter besitzt, sagt man es sei keine Kunst. Beim Film verweist man darauf, es gäbe aber doch Filme, die Kunstcharakter hätten. Entweder ist der Film Kunst – dann kann sich die Aussage nicht auf wenige Formate des Programmkinos beziehen. Oder einige Filme sind Kunst, dann beträfe das nicht den Film als Kunst. Ich vermute letzteres ist der Fall.

Auch der Alltagsgebrauch unserer Sprache scheint mir da Recht zu geben. Gehen wir einmal ganz simpel nach dem deutschen Sprachgebrauch. Ich gebe in das Wortschatzlexikon der Universität Leipzig das Wort Kunst ein und lasse mir den entsprechenden Graphen anzeigen: Dort finde ich Literatur, bildende Kunst, Musik, Architektur und Überbegriffe wie Kultur oder Wissenschaft, Kontextbegriffe wie Ausstellung und Museum. Aber das Wort Film taucht dort nicht auf. Wenn man Kunst sagt, denkt man nicht an Film. Und wenn man Film sagt, denkt man nicht an Kunst.

Vielleicht habe ich den Graphen aber auch einfach nur zu grob eingestellt. Ich verfeinere ihn noch etwas und er ergänzt Worte wie Theater, Malerei, Fotografie oder angewandte Kunst, aber auch Gegenbegriffe wie Natur. Aber auch hier taucht der Film nicht auf. Schaut man sich die Zuordnungen genauer an, taucht der Film am Rande als „Filmkunst“ auf. Das ist deshalb interessant, weil es sich einordnet in Begriffe wie Lebenskunst, Kochkunst, Predigtkunst usw. Immer handelt es sich um „angewandte Künste“ mit einem hohen Anteil der Könnerschaft, die durch das Wort „Kunst“ angedeutet werden soll. In diesem Sinne ist auch der Film selbstverständlich (Handwerks-)Kunst – gerade auch das Hollywoodkino. Nicht aber im Sinne einer unendlichen Verzögerung der Semiosebildung (Jakobson), nicht im Sinne der ästhetischen Negativität (Adorno), nicht im Sinne des interesselosen Wohlgefallens (Kant). Faktisch ist es wohl so, dass da ein kultureller Nachkömmling unbedingt zur vermeintlichen Adelsfamilie gehören möchte, statt eine eigene zu gründen. Warum reicht das Kino nicht als Kino und die cineastische Erfahrung als Erfahrungsform für sich? Hat da ein ganzer kultureller Bereich Minderwertigkeitskomplexe?

Was nun die Narratio vom Himmelreich betrifft, so glaube ich nicht, dass die Gleichnisse Jesu uns auf einer inhaltlichen Ebene vom Reich Gottes erzählen. Das scheint mir ein Missverständnis zu sein. Die Rahmung „Mit dem Himmelreich verhält es sich wie“ ist späte Gemeindebildung. Ich meine mit Wolfgang Harnisch (Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 2001), dass in der ästhetischen Struktur des Gleichnisses ein Vorgeschmack des Himmels liegt. "Auch die Parabel Jesu gibt sich als ästhetisches Objekt zu erkennen. Sie ist ein poetisches Kunstwerk: die Miniaturausgabe eines in Erzählung gefassten Bühnenstücks mit stilisiertem Handlungsgefüge und eigenwilliger Figurenanordnung." Gerade in ihrem literarischen Charakter liegt das Gleichnis – nicht in der inhaltlichen Gestaltung. Wenn nur Inhalte das Charakteristikum der Botschaft wären, liefe es doch nur auf eine „Gutmenschen-Religion“ hinaus. Wen interessiert das? Müssten dann nicht literarisch Baudelaire oder de Sade aus dem Tableau religiöser Sinndeutungsbemühungen herausfallen?

Du schreibst, der Rezipient sei doch frei was die Aneignung eines Films angeht. Selbstverständlich ist er das, wer wollte es ihm verwehren? Nur soll man nicht behaupten, das habe etwas mit cineastischer Erfahrung zu tun. Man kann das Kino aufsuchen, weil es drinnen so schön warm und draußen kalt ist. Das gehört sicher auch zu den Sinnschichten des Kinos. Aber was hat es mit cineastischer Erfahrung zu tun? Ich versuche einmal, die Argumente der Theorie ästhetischer Erfahrung auf die Theorie cineastischer Erfahrung anzuwenden. Dann müsste man sagen: Wer sich in religiöser Perspektive auf cineastische Erfahrung bezieht, argumentiert gerade nicht aus cineastischer Erfahrung. Christoph Menke hat das in seiner Studie zu Adorno und dessen Abweisung der hermeneutischen Aneignung der Kunst so beschrieben: „Interpretationen ästhetischer Objekte umfassen in der Regel zwei Formen der Rede: zum einen Sätze, die ein Objekt in Perspektive auf ein Geschehen ästhetischer Erfahrung charakterisieren, und zum zweiten Sätze, die ein Objekt aus der Perspektive eines Geschehens ästhetischer Erfahrung charakterisieren. Sätze des ersten Typs antizipieren eine mögliche ästhetische Erfahrung, indem sie eine ästhetische Relevanzvermutung für ihre Feststellungen äußern. Ihre Feststellungen sind jedoch weder in ihrer Geltung noch in ihrer Begrifflichkeit an den aktuellen Vollzug einer ästhetischen Erfahrung gebunden. Ihrer Geltung nach handelt es sich um Aussagen, die sich verschiedenen Wissenschaften zuordnen lassen und nach deren jeweiliger Weise begründbar sind ... In gleichem Sinne weist zwar die Begrifflichkeit, die für Sätze dieses ersten Typs entwickelt wurde, in der Regel auf die Objekte einer ästhetischen Erfahrung hin, sie ist aber nicht logisch an sie gebunden; auch nicht ästhetisch erfahrene Gegenstände lassen sich ikonographisch entschlüsseln und rhetorisch beschreiben. Die interpretativen Sätze des ersten Typs sind also weder in ihrer Genese noch in ihrer Geltung auf den Standpunkt einer aktuellen ästhetischen Erfahrung bezogen. Sie bestimmen lediglich einige Elemente einer möglichen ästhetischen Erfahrung.“ (Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, 1988. S. 121). Genau so könnte man das Verhältnis von cineastischer Erfahrung und theologischer respektive religiöser Deutung beschreiben. Es ist eine Anwendung (Applikation) theologischer / religiöser Zuschreibungsformen auf das, was man als cineastische Erfahrung bezeichnet. In diesem Akt der Applikation liegt aber mehr als nur die religiöse Lesart des Kinogeschehens.

Das ist meines Erachtens auch der Kern von Werners Argumentation: Stop making sense! Der Sinnzuschreibung liegt ein hierarchischer und metaphysischer Akt zugrunde. Sie fasst die Welt als Symbol. Noch einmal Christoph Menke: Es geht um die „These, dass die ästhetische Erfahrung einer negativen Logik folge, hier dadurch, dass sie das symbolische Deuten eines ästhetischen Objekts abbreche oder verweigere und statt dessen seine Buchstäblichkeit erfasse. Damit knüpft er (scil. Adorno, A.M.) an eine Richtung der modernen Ästhetik an, die — am deutlichsten seit Nietzsche - die ästhetische Erfahrung zur Instanz einer Umwertung der alten, metaphysisch bestimmten Hierarchien zwischen Geist und Buchstabe erhebt. Diese Hierarchien bilden das Zentrum der traditionellen Hermeneutik“. Und noch präziser: „Dies Verhältnis von Geist und Buchstabe in der traditionellen Hermeneutik verpflichtet sie auf eine geistige Deutung, die vermittels etablierter Auslegungsverfahren den abgestorbenen Text Homers vergegenwärtigt, das buchstäbliche Gesetz des Alten Bundes in den lebendigen Geist des Neuen überführt, den toten Buchstaben durch Vergeistigung zum Leben erweckt. Das Prinzip der Buchstäblichkeit ist demgegenüber die Maxime eines ästhetischen Erfahrens, das bei Adorno mit keinem geringeren Anspruch auftritt, als das - die traditionelle Hermeneutik regierende - metaphysische Verhältnis von Geist und Buchstabe zu verabschieden. An die Stelle der Aufhebung des Buchstabens in den in ihm verkörperten Geist soll in der ästhetischen Erfahrung seine Erhaltung gegenüber dem ihm entgegengesetzten Geist treten.“ (Menke, ebd., S. 34f.)

Es geht m.a.W. darum, die Autonomie der kulturellen Bereich vor der theologischen und religiösen Hegemonie zu bewahren. Als Old School würde ich jenes mittelalterliche Verfahren bezeichnen, das die Welt als Symbol fasst, dessen Sinn durch Interpretation erschlossen werden muss, wobei die Theologen sich als professionelle Sinndeuter (um nicht zu sagen Sterndeuter) an allererster Stelle tummeln. Das ist die alte Lehre vom vierfachen Schriftsinn, wonach es nicht nur einen literalen Sinn der Dinge gibt, sondern eben auch einen theologischen, moralischen und praktischen. Ganz so wie es der Katechismus der Katholischen Kirche beschreibt:

Littera gesta docet, 

Der Buchstabe lehrt die Ereignisse,

quid credas allegoria,

was du zu glauben hast, die Allegorie

moralis quid agas,

die Moral, was du zu tun hast,

quo tendas anagogia.

wohin du streben sollst, die Anagogie (Führung nach oben)

Dementsprechend kann der katholische Katechismus an dieser Stelle den Durchzug durch das Rote Meer als „ein Zeichen des Sieges Christi und damit der Taufe“ bezeichnen. Einen ähnlich gewaltsamen Aneignungsakt werfe ich den theologischen Sinnhermeneutikern im Blick auf das Kino vor. Sicher kann man in den Erzählungen des Alten Testaments Hinweise auf Jesus Christus entdecken und im Kino Sinnentwürfe für das Leben in dieser Welt. Die Frage bleibt aber doch, welche Aussage man da eigentlich trifft.

Modern nenne ich dagegen eine Annäherungsweise an die kulturellen Segmente, die sich dieser theologischen Vereinnahmung verweigert und den ausdifferenzierten Diskursen der Gegenwart ihre Eigensprachlichkeit belässt, die Differenz also wahrt.

Die Tatsache, dass die Cultural Studies zeigen, dass Menschen sich diverse Kulturprodukte für ihre eigene Lebensdeutung aneignen, sagt ja gar nichts über die kulturbereichsspezifische Erfahrung dieser Produkte aus. Sondern nur, was man mit kulturellen Produkten so alles machen kann. Manche Leute hängen sich auch moderne Kunst übers Sofa im Wohnzimmer oder nutzen sie als Wertanlage. Klar geht das, aber hat es etwas mit ästhetischer Erfahrung zu tun?

Dass Menschen in Kinofilmen Sinn, ja sogar religiösen Sinn entdecken, kann ja nicht bestritten werden, ebenso so wie manche jugendliche Massenmörder diversen Computerspielen oder Filmszenen eben auch ihre Handlungsanleitungen entnehmen können. Aber das ist nicht die Eigenlogik des Kinos, das ist nur der gedeutete und angeeignete Inhalt. Kino ist Unterhaltung – auch das Programmkino. Es ist, wie Werner schreibt, eine Affektmaschine. Und man sollte es nicht mit dem Leben verwechseln.

Herzliche Grüße

Andreas


Lieber Andreas,

heute am Nachmittag habe ich einen Blick in das Kant-Kapitel von Brigitte Scheers Einführung geworfen, um noch einmal nachzuvollziehen, wie das bei Kant mit dem interesselosen Wohlgefallen eigentlichgedacht ist. Wenn ich recht sehe, so zeichnet sich ja die Erfahrung des Schönen in der ästhetischen Urteilskraft durch die Lust aus, die das freie Wechselspiel zwischen Einbildungskraft und Verstand erzeugt. Das läuft aber alles begriffslos ab. Es gibt da dann zwar viel zu denken, aber keine bestimmte Erkenntnis. Scheer schreibt: "Vom Standpunkt reiner ästhetischer Betrachtung aus kann der kognitive Gehalt von Kunst nicht in den Blick kommen. Die Werke gefallen bei Kant gänzlich unspezifisch ... Dass Werke der Kunst in spezifischer Weise welteröffnend sind, kann ohne Zusatzannahmen von der Kantischen Ästhetik her nicht begründet werden." (Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, 1997, S. 99). Schönheit und Bedeutung sind bei Kant offenbar zwei paar Stiefel, Ästhetik und Hermeneutik.

Doch sobald Sprache und Symbolisierungen im Spiel sind, geht es auch um Verstehen und Interpretieren. Das ist ja beim Film und im Übrigen bei vielen Kunstwerken der Fall. Insofern scheint es mir nur plausibel, wenn z.B. Andrea Kern (Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Frankfurt/Main 2000) versucht, die Kantsche und die hermeneutische Ästhetik zusammenzudenken. Und dann allerdings scheint mir die steile Autonomiekonzeption von Kant nicht mehr so streng durchführbar, denn Bedeutung/Sinn konstituiert sich ja immer nur in der Rezeption, in der das Subjekt vor dem Hintergrund seiner Voraussetzungen etc. sinnkonstruierend mitwirkt.

Und dann kommt der Theologe ins Spiel, der das Kino m.E. nicht missbraucht, wenn seine Vor-aussetzungen und Interessen in den Akt der Rezeption einfließen. In der interpretierenden, verstehenden Rezeption scheint mir das Objekt nie autonom bleiben zu können. Es wird angeeignet, interpretiert eben. Die Plausibilität von Interpretationen muss sich im Diskurs erweisen.

In einem weiteren Schritt kann man sicher eine Religionsstunde mit dem Film Adams Äpfel und dem Buch Hiob machen. Dafür würde ich den Begriff Applikation dann eher gelten lassen. Fazit: Der Theologe geht ins Kino wie jeder andere Mensch. Wozu? Aus Lust am Film. Aber es gibt eben noch ein mitlaufendes (und nicht immer fündig werdendes) Sonderinteresse: Als Religionsexperte ist ihm das Kino zugleich ein Erfahrungsraum für eine religionssensible Gegenwartshermeneutik.

Na ja, das nur noch als ein Nachklapp. Bei Gelegenheit würde ich über diese Fragen gern noch weiter sprechen.

Herzlich,

Jörg


Lieber Jörg,

wenn Theorien keine Lego-Baukästen sein sollen, aus denen man sich Teile herausklaubt, die man dann zu anderen Konstrukten zusammensetzt, sondern eine innere Konsistenz aufweisen müssen, dann sollte man doch fragen, ob die eine Theorie mit der anderen kompatibel ist. Lässt sich eine Hermeneutik der ästhetischen Erfahrung schreiben, wenn ästhetische Erfahrung auf das Unterlaufen von Bedeutung und Verstehen hinausläuft? Offensichtlich ist das schwierig. Deine Schlussfolgerung ist nun, an dieser Stelle den Ansatz Kants preiszugeben. Keine Autonomie mehr. Denn eines geht sicher nicht: ein bisschen weniger Autonomie gibt es ebenso wenig wie ein bisschen Frieden. Und es geht nicht um Autarkie, also die völlige Unabhängigkeit der Kunst, sondern um die ästhetische Gesetzgebung. Wer stellt die Regeln auf? Wenn jetzt die Hermeneutik sagt, mit Kants Ansatz der ästhetischen Erfahrung funktioniert unser Verstehensmodell nicht (das ist ja der Kern der Konzeptionen von Kant, Adorno, Lyotard), muss sie entweder zeigen, was an Kants Ansatz falsch ist oder ein Modell entwickeln, das die Erfahrung von Kunst – und nicht nur ihren historischen Gehalt! – besser beschreibt.

Du schreibst: „Doch so bald Sprache und Symbolisierungen im Spiel sind, geht es auch um Verstehen und Interpretieren.“ Aber das ist doch genau das Problem. Wie kommen Sprache und Symbolisierung in ein Spiel, in dem es nicht um Sprache und Symbolisierung geht, sondern um die Prozessualität der ästhetischen Erfahrung? Letztlich sagst Du doch nichts anderes als: Wenn ich mal Sinnkategorien anwende, kommt Sinn heraus. Ja sicher, aber die Frage lautet doch: Ist das Anwenden von Sinnkategorien eine adäquate Form der Beschreibung oder ist es ein imperialer metaphysischer Akt, der Geist dort voraussetzt, wo der Buchstabe herrscht? Das ist es doch, worum es im Kern geht.

Applikation findet eben nicht nur dann statt, wenn etwas sozusagen religionspädagogisch angewendet wird, sondern schon dort, wo Du schreibst: „Bedeutung/Sinn konstituiert sich ja immer nur in der Rezeption, in der das Subjekt vor dem Hintergrund seiner Voraussetzungen etc. sinnkonstruierend mitwirkt“. Nichts anderes sagen wir ja auch: wenn von Sinn gesprochen wird, dann hat das rezipierende Subjekt ihn auch selbst eingebracht, ihn konstruiert. Er ist kein Teil der Erfahrungsleistung des Kinofilms, sondern ein vielleicht unausweichlicher (darüber müsste man diskutieren), sicher aber ein möglicher Teil der aneignenden Rezeption.

Wenn ich es recht versteht – und meiner durch Adorno geprägten Kant-Lektüre folge -, dann müssen wir natürlich immer Verstehenskategorien in den Erfahrungsprozess der Kunst einbringen (aber Verstehen heißt hier natürlich: das Objekt verstehen bzw. nachzuvollziehen und nicht, Sinn in es hineinzuprojizieren). Der Witz und das Vergnügen des ästhetischen Erfahrungsprozesses ist aber, dass genau diese Bemühung um ein Verstehen immer wieder subversiv von der Kunst unterlaufen wird und sie scheitert. Und genau diese Bewegung zwischen Scheitern und erneutem Versuch bereitet paradoxerweise Vergnügen. „Das Nachleben der Werke, ihre Rezeption als Aspekt ihrer eigenen Geschichte, findet statt zwischen dem Nicht-sich-verstehen-Lassen und dem Verstanden-werden-Wollen; diese Spannung ist das Klima der Kunst.“ (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie: Gesammelte Schriften, Band 7, S. 448).

Wenn das so ist, dann zerstört aber das Beharren auf dem Verstehen des Films bzw. der Kunst bezüglich ihrer Sinnaussage genau das Moment, um das es in der ästhetischen oder auch cineastischen Erfahrung geht. Man bricht, wie Adorno in der Ästhetischen Theorie schreibt, „den Vertrag mit ihrem Immanenzzusammenhang“ (103). Oder mit Menke: „Sofern ästhetisches Verstehen die ästhetisch immanente Prozessualität als form- oder sinnbildende entwirft, versteht sie sie notwendig im Bezug auf vorgängige nichtästhetische Sinnerfahrungen.“ (105) Das kann man in verschiedener Hinsicht begreifen: indem man den ästhetischen Sinn mit dem außerästhetischen Sinn gleichsetzt oder an einer Differenz der beiden festhält. Ich plädiere zumindest angesichts der Kunst für letzteres.

Ich habe vor 25 Jahren in meinem Aufsatz „Der allgemeine und der besondere Ikonoklasmus“ (wieder publiziert im theomag Heft 9) darauf hingewiesen, dass wir als Theologen gar nicht umhin kommen, die Eigengesetzlichkeiten der Kunst zu brechen, wenn wir sie deutend auslegen wollen. Ikonoklasmus ist der theologischen Aneignung der Kunst konstitutiv eingeschrieben war meine These. Deshalb muss es uns bewusst bleiben, dass es sich um eine Form der Stillstellung ästhetischer oder wie in diesem Fall cineastischer Erfahrung handelt. Um es zu wiederholen: Eben nicht aus der cineastischen Erfahrung ergibt sich der erschlossene Sinn, sondern mit Bezug auf die cineastische Erfahrung.

Herzliche Grüße

Andreas


Lieber Andreas,

wir kommen der Frage näher, worum es im Kern geht. Mir scheint da im Übrigen Andrea Kern weiter zu helfen. Aber zuvor will ich noch einmal auf einen gewissen Widerspruch hinweisen, der mir in Deinen Reaktionen auf meine kurzen Kommentare zu Deinem grundlegenden Text vorzuliegen scheint. Du hältst ja zunächst entschieden daran fest, dass das Kino aus Deiner Sicht keinen Kunststatus beanspruchen kann, dass es eben keine Kunst ist, sondern ein Nachkömmling, der um Anschluss an den Adel ringt.

Im Blick auf die Hermeneutik, Interpretation, das Verstehen des Films argumentierst Du dann aber mit streng kunstbezogenen Argumenten. Das scheint mir dann aber schwierig und nicht wirklich zulässig zu sein. Das Kino zielt eben nicht unbedingt, darauf weist Du ja selbst hin, auf eine unendliche Verzögerung der Semiosebildung. Es kann solche Momente enthalten, etwa, wenn Einzelbilder besonders hervorgehoben werden oder wenn die Visualität im Sinne einer filmästhetischen Erfahrung besonders im Vordergrund steht. Da ist der Film, finde ich, übrigens der bildenden Kunst dann viel näher als z.B. die Literatur, die aber im Leipziger Wortschatzlexikon umstandslos zur Kunst gezählt wird (und die in der Regel auch keine unendliche Verzögerung der Semiose beabsichtigt …).

Aber zumeist erzählen Filme Geschichten, die man wiedergeben kann. Das Kino scheint mir ein Hybrid, eine Bildererzählung, die sich in der Mimesis des wirklichen Lebens übt. Ob man Menke, Adorno und Kant so einfach auf das Kino applizieren kann, ist mir nicht deutlich. Ich würde sagen: nur auf Aspekte der cineastischen Erfahrung. Denn das Kino ist eben mehr als reine Visualität, es ist auch Erzählung, Dialog, Dramaturgie, Handlung, Performance usw. usf. Und das heißt, dass Sinnkategorien immer schon im Film enthalten sind. Der Film vermittelt nicht in erster Linie einen aphonen ästhetischen Rausch, sondern eben auch eine Lebensdeutung. Sicher eine, die mit Recht auch eine Affektmaschine genannt werden kann. „Keine andere Kunstform produziert so intensive und vielfältige Gefühlsreaktionen wie das Kino“, schreiben Margrit Tröhler und Vinzenz Hediger in der Einleitung ihres 2005 erschienen Sammelbands „Kinogefühle. Emotionalität und Film“ und stellen fest: „Gleichwohl ist das Gefühlsleben der Zuschauerinnen und Zuschauer erst seit kurzem ein zentrales Thema in der filmwissenschaftlichen Theoriebildung.“ (Margrit Tröhler/Vinzenz Hediger, Ohne Gefühl ist das Auge der Vernunft blind, in: Matthias Brütsch/Vinzenz Hediger/Ursula von Keitz/Margrit Tröhler (Hg.), Kinogefühle. Emotionalität und Film, Marburg 2005, 7 – 20, 7.) Aber Gefühl ist eben auch beim Film nicht alles.

Und genau darum gibt es Filmanalysen und Filminterpretationen, gibt es unterschiedliche Lesarten. Das ist nicht zuletzt ein Kapitel Medienrezeptionsforschung. Dabei ist für unseren Zusammenhang noch einmal interessant zu sehen: Grundsätzlich ist das gesamte Feld der Medienwirkungs- und Rezeptionsforschung durch eine Verschiebung der Perspektive gekennzeichnet. Waren die Anfänge der Wirkungsforschung durch die Annahme starker Medienwirkungen nach dem Reiz-Reaktions-Schema gekennzeichnet, so konnten Untersuchungen deutlich machen, dass Menschen den Medien nicht ausgeliefert sind, sondern sie im Sinne eigener Interessen und Bedürfnisse nutzen und also Medienangebote auswählen und sinnproduktiv mit ihnen arbeiten. (Vgl. Margot Berghaus, Wie Massenmedien wirken. Ein Modell zur Systematisierung, in: Rundfunk und Fernsehen 47, 2/1999, 181-199, 184; Heinz Bonfadelli unterscheidet in der Medienwirkungsforschung die drei Phasen: Medienallmacht, Medienohnmacht, moderate Effekte; ders., Medienwirkungsforschung I. Grundlagen und theoretische Perspektiven, Konstanz 2/2001, 14ff., bes. auch 31ff.) Zugespitzt: Aus der Frage, was die Medien mit den Menschen machen, wurde die Fragestellung, was die Menschen mit den Medien machen. Die aktuellen Ansätze qualitativer Medienrezeptionsforschung, die, angeregt durch die Medienforschung der Cultural Studies, vor allem im Rahmen der Kognitionswissenschaft und der empirischen Literaturwissenschaft erarbeitet wurden, teilen mit den Cultural Studies ein Verständnis des Rezipienten als aktivem Konstrukteur von Sinn. Sie knüpfen darüber hinaus an die konstruktivistische Medientheorie und die handlungstheoretische Sozialforschung an, vor allem an den symbolischen Interaktionismus. Insbesondere der konstruktivistisch-handlungstheoretisch orientierte Ansatz der „Strukturanalytischen Rezeptionsforschung“, den Michael Charlton und Klaus Neumann-Braun entwickelt haben, scheint mir aufgrund seiner Komplexität (die soziokulturelle Einbettung des Rezeptionsvorganges berücksichtigend), seiner konstruktivistisch-handlungstheoretischen Orientierung (aktiver, konstruierender Rezipient) und seiner Konvergenz mit religionshermeneutischen und kulturtheoretischen Konzepten (Symbol, Subjekt, Sinn, Deutung usw.) für die theologische Medienforschung anschlussfähig und geeignet - auch das Interesse an Lebensbewältigung und Identitätsbildung mit Hilfe von Medien ist kompatibel. (Michael Charlton, Rezeptionsforschung als Aufgabe einer interdisziplinären Medienwissenschaft, in: ders., Silvia Schneider (Hg.), Rezeptionsforschung, 16-39; Stefan Aufenanger, Strukturanalytische Rezeptionsforschung; Michael Charlton, Methoden der Erforschung von Medienaneignungsprozessen, in: Werner Holly u. a. (Hg.), Medienrezeption als Aneignung. Methoden und Perspektiven qualitativer Medienforschung, Opladen 1993, 11-26; Michael Charlton, Klaus Neumann-Braun, Medienkindheit - Medienjugend, bes. 81-100; Michael Charlton, Klaus Neumann-Braun, Medienrezeption und Identitätsbildung. Kulturpsychologische und kultursoziologische Befunde zum Gebrauch von Massenmedien im Vorschulalter, Tübingen 1990.)

Mit den empirisch arbeitenden Literaturwissenschaften und den Medienforschungsansätzen der Cultural Studies teilt die Strukturanalytische Rezeptionsforschung die Einsicht in die Polyvalenz (Polysemie bzw. Vielsinnigkeit) von Medientexten, die ein Feld möglicher Bedeutungen eröffnen und von den Rezipienten je individuell angeeignet werden. In diesem Prozess ergeben sich je individuelle Lesarten. Das Rezeptionsgeschehen selbst wird in der Strukturanalytischen Rezeptionsforschung als mehrschrittiger Prozess aufgefasst, „in welchem sich ein sozial situierter und biographisch vorgeprägter Rezipient in Beziehung zu einem kulturellen Sinnangebot setzt“ Michael Charlton, Rezeptionsforschung als Aufgabe, 23.).

Und ein Film ist eben auch ein solches Sinnangebot und kann zu anderen kulturellen Sinnangeboten, z.B. zu biblischen Erzählungen, in Beziehung gesetzt werden. Das würde ich jetzt nicht als Ikonoklasmus bezeichnen, sondern als schlichte Interpretationsarbeit.

Noch einmal zum Kern. Ja, die Kantische Ästhetik will ich so für den Film nicht übernehmen, sie wird ja auch im Ästhetikdiskurs selbst kritisch diskutiert. So urteilt Andrea Kern z.B., dass die Kantische Ästhetik an der Trennung von Sinnlichkeit und Bedeutung zerbreche (13ff.). Ich hatte es schon erwähnt, Kern versucht, Kantische Ästhetik und hermeneutische Ästhetik zusammen zu denken und beruft sich dabei u.a. auf die Ästhetik der Dekonstruktion (14f.). Ich erlaube mir ein längeres Zitat aus der Einleitung von Kerns Kant-Buch (15f.): „Damit gelangen wir am Ende zu einer Theorie der ästhetischen Erfahrung, die sich einerseits einer genauen Lektüre des Kantischen Textes verdankt und andererseits beansprucht, eine Lösung für ein grundlegendes Problem der Ästhetik – das Verhältnis zwischen dem Verstehen und dem Beurteilen schöner Gegenstände – genau dadurch zu erarbeiten, dass die Kantischen Grundbegriffe zwar inhaltlich neu bestimmt werden, doch nicht in ihrer Rolle, die sie in seinen Augen für die Theorie der ästhetischen Erfahrung haben. Damit meine ich einzulösen, was ich zu Beginn behauptet habe, nämlich zeigen zu können, dass und weshalb der Streit um die ästhetische Differenz ein Streit um zwei falsche Alternativen ist. Dieser Streit ist ein Streit um zwei falsche Alternativen, weil beiden Seiten dieses Streits eine falsche Vorstellung dessen zugrunde liegt, was es heißt, dass die ästhetische Erfahrung eine autonome Erfahrung ist. Dass die ästhetische Erfahrung eine autonome Erfahrung ist, heißt nicht, dass sie neben unserem gewöhnlichen Verstehen steht und nichts mit diesem zu tun hat. Die ästhetische Erfahrung ist vielmehr intern auf unser gewöhnliches Verstehen bezogen. Gegenstände, die wir schön nennen, sind Gegenstände, die sich in der ästhetischen Reflexion verwandeln: von Gegenständen, die wir gewöhnlich verstehen, zu Gegenständen, die für uns nur mehr als Moment eines ästhetischen Spiels verständlich sind.“ In aller Vorläufigkeit: Das klingt plausibel. Die cineastische Erfahrung würde ich vor diesem Hintergrund als eine Erfahrung beschreiben, die Elemente der ästhetischen Erfahrung im engeren Sinne Kants haben kann, aber insgesamt eine hybride Erfahrung ist - ein Medientext von ästhetisch-semantischer Dichte, der im Vorgang seiner Rezeption unwillkürlich interpretiert wird und auch von Religionsexperten interpretiert werden darf, ohne dass dies als Missbrauch gebrandmarkt werden muss.

Herzlich,

Jörg


Lieber Jörg,

zu Deinem ersten Punkt. Wenn ich die Kunstkriterien auf den Film anwende, dann nur deshalb, um deutlich zu machen, welche Probleme auftauchen, wenn man Film als Kunst wirklich einmal ernst nimmt. Aber es wird schnell deutlich, dass in diesem Falle der Film (quasi durch Dich) sagt: ich will zwar Kunst sein, aber doch nach nicht den Regeln der Kunst beurteilt werden. Und da fände ich es besser, es gäbe eine präzise eigenständige Beschreibung, was und wie die Erfahrungsformen und die Urteilsformen bezüglich des spezifischen Kulturbereichs Film sind. Deine Einwände gegen meine Anwendung ästhetischer Kriterien auf den Film zeigen ja, dass er keine Kunstform ist, sondern eine kulturelle Mischform. Zumindest spielt das Angenehme eine zentrale Rolle. Dann sollte man eine „Kritik der cineastischen Urteilskraft“ entwickeln, die genau das präzise und nachvollziehbar für den Film beschreibt.

Was die unendliche Verzögerung der Semiose betrifft, so steht diese Theorie nicht im Widerspruch zur Literatur, sondern kommt gerade aus der Literaturwissenschaft. Denn wenn man auf die Poetik der Literatur reflektiert, vollzieht sich notwendig die unendliche Verzögerung der Verstehensbildung. Natürlich kann man Die Blechtrommel inhaltlich zusammenfassen, aber das hat nichts mit ihrer Poetik zu tun. Grass bekommt keinen Literaturnobelpreis, weil er eine schöne oder beklemmende Geschichte erzählt. Sondern er bekommt ihn dafür, wie er sie erzählt. Nicht für die Bedeutung, sondern für die Form gibt es Auszeichnungen. Wenn Du nun schreibst, dass durch die inhaltliche Gebundenheit des Films immer schon Sinnkategorien im Film enthalten sind, dann würde ich dem entgegen, dass genau dies nur das außercineastische „Material“ ist, mit dem der Film arbeitet, das er filmästhetisch aufgreift, es dramatisiert etc. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob dieses Material ein daherflatternder Plastikbeutel ist oder die Kreuzigung von 6000 römischen Sklaven an der Via Appia. Jedes Mal ist es nur das filmisch zu bearbeitende Rohmaterial. Die Qualität des Films entsteht daraus, wie und nicht dass er dieses Material für den Zuschauer bearbeitet. Sonst würde – alter Einwand aus der Kunsttheorie – die Erhabenheit der Gegenstände über die Qualität der Arbeiten Auskunft geben. Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ ist nicht wegen des Inhalts nobelpreisverdächtig, sondern wegen seiner literarischen Gestaltung. Selbstverständlich enthält sein Inhalt im Blick auf die Lebensdeutung unendlich bedeutsame Momente – aber das hätte er auch, wenn es nur der Bericht irgendeines anderen Lagerhäftlings wäre. Was also führt dazu, dass wir nicht die Berichte von Lagerhäftlingen mit dem Literaturnobelpreis auszeichnen (wohl aber mit dem Friedensnobelpreis), sondern das literarisch und das heißt formal durchgestaltete Werk? Also lange Rede kurzer Sinn: die Sinnelemente im Film sollen gar nicht bestritten werden, nur scheinen sie mir nicht das Spezifische des Films zu sein, sondern sein Rohmaterial.

Dass Filme als Sinndeutungsangebote wahrgenommen werden, heißt nun nicht, dass sie Sinndeutungsangebote sind. Das ist ein logischer Fehlschluss. Platt gesagt: Nur weil Zeitungen häufig als Verpackungsmaterial genutzt werden, werden sie noch nicht dafür hergestellt. Es kann ein sinnvoller Gebrauch von Zeitungen sein, aber es ist bestimmt nicht ihr Zweck.

Medienwirkungsforschung klärt uns über Medienwirkungen auf, nicht aber über die kulturelle Spezifik des Films. Ich vermute, dass 90% aller Werke der Bildenden Kunst Ausstattungsstücke in Wohnzimmern und Büros sind. Aber ist das ihr kunstspezifischer Sinn? Erfahren wir also von Raumgestaltern mehr über Kunst als von Philosophen? Gotthard Graubner für politische Hintergründe, Günter Uecker für Nachdenkliche und Gerhard Richter für Postmoderne? Der Stilberater als Kunstphilosoph? Das kann es nicht sein.

Und ganz ähnlich sehe ich das beim Kino und beim Film. Ja, einige Menschen nutzen den Film als Sinnangebot. Das ist empirisch qualitativ erhebbar. Aber es ist nur eine mögliche Gebrauchsform, die erscheint, wenn ich mit einem spezifischen Interesse danach frage. Wenn ich aber über Filme urteilen soll, dann sage ich eben nicht: dieser Science-Fiction ist besser als jener, weil dieser mir mein Leben erschlossen hat. Stattdessen nutze ich filmspezifische Kriterien. Wenn ich aber religionssoziologisch frage, ob einige Menschen Star Trek als Lebensdeutungsangebot nutzen, dann lautet die Antwort: ja, das tun sie. Andere nutzen Barbiefilme als Lebensdeutungsangebot oder lesen Landserromane oder hören die volkstümliche Hitparade. Religionssoziologisch mag das interessant sein. Aber es sind religionssoziologische Antworten auf religionssoziologische Fragen. Kulturell und theologisch bleibt ein solches Vorgehen unbefriedigend. Ich glaube, dass Kinofilme etwas anderes leisten, etwas Spezifisches und dass man das herausstellen sollte. (Kurt Marti, Christus die Befreiung der Künste zur Profanität, 1958)

Was die Argumentation von Andrea Kern angeht, so finde ich sie bedingt einsichtig und nachvollziehbar. Sie problematisiert zunächst Dinge, die nicht strittig sind und schiebt dann das Verstehen an einer Stelle ein, wo es meines Erachtens verunklarend wirkt. Sie schreibt: „Die ästhetische Erfahrung ist vielmehr intern auf unser gewöhnliches Verstehen bezogen. Gegenstände, die wir schön nennen, sind Gegenstände, die sich in der ästhetischen Reflexion verwandeln: von Gegenständen, die wir gewöhnlich verstehen, zu Gegenständen, die für uns nur mehr als Moment eines ästhetischen Spiels verständlich sind.“ Der erste Satz ist unstrittig. Aber was meint der Satz, dass wir Gegenstände schön nennen, die „für uns nur mehr als Moment eines ästhetischen Spiels verständlich sind“? Es sind dann ja, wie sie selbst schreibt, nicht mehr gewöhnlich verständliche Gegenstände! Ich vermute, hier werden zwei unterschiedliche Formen von Verstehen und verständlich benutzt. Den gleichen Vorgang beschreiben doch Adorno, Menke, aber auch Lyotard als Subversion des Verstehens, weil nämlich das „Moment des ästhetischen Spiels“ nicht stillgestellt werden kann. Es kommt also gerade nicht zu einem Verstehen, aber das was passiert, ist einem nur als ästhetisches Spiel verständlich.

Müsste man nicht, wenn man das auf Deine Argumentation anwendet, sagen, dass auch Sinnelemente sich in der ästhetischen Reflexion verwandeln: „von Gegenständen, die wir gewöhnlich verstehen, zu Gegenständen, die für uns nur mehr als Moment eines ästhetischen Spiels verständlich sind.“ Dann sagt sie aber nichts anders, als was Werner und ich auch sagen: dass die Sinnelemente, die im Film vorkommen (können), nur Momente eines ästhetischen Spiels sind. Wenn man diese aber nun wiederum interpretatorisch als Sinndeutungselemente fixieren würde, hieße das nicht, das ästhetische Spiel aufzukündigen und zum gewöhnlichen Verstehen zurückzukehren? Wenn das die „Leistung“ der theologischen Kinoannäherung ist, dann habe ich nichts dagegen, sie entspricht exakt meinem Modell des legitimen Ikonoklasmus. Aber sie bleibt dennoch, was sie ist: Ikonoklasmus! Sie zerstört das Spiel im Interesse der Deutung.

Noch kurz zwei kleine Ergänzungen: 1. Zur Nicht-Theologie der Plastikbeutel. Nicht anhand des Kinofilms „American Beauty“, sondern anhand einer Deutung des Kunstwerks „Flow“ von Svetlana & Igor Kopystiansky auf der documenta 11 hat Karin Wendt die Differenz der verschiedenen Zugangsformen beschrieben. In beiden Fällen geht es übrigens um das Treiben einer Plastiktüte. Und die documenta legte es seinerzeit als sinnkonstituierendes Element aus: „Die achtlos weggeworfene Plastiktüte bläht sich zu neuem Leben auf und erzählt ein Geschichtchen. Aber was für eins eigentlich?“ Und Karin entgegnete dem: „Die Projektionen erzählen in der Tat keine Geschichten, sie entlarven vielmehr deren Illusion. Es geht in ‚Flow‘ daher, denke ich, gerade nicht um ‚die Achtsamkeit, die den Objekten in ihrer Zweideutigkeit als verunreinigender Müll und als vom Wasser in ungewisse Gebiete getragene Zeichen unbekannter Geschichten entgegengebracht wird, die aus dem Lapidaren eine Erzählung macht‘, wie die documenta schreibt. Eher geht es um die ästhetische Souveränität, die Geschichte depotenziert, indem sie aus jeder Erzählung etwas Lapidares machen kann.“ Präziser kann man es nicht ausdrücken. Man muss das Material zu sich selbst kommen lassen.

2. Zur religiösen Halbwertszeit: Du schreibst in Deiner ersten Annotation, dass viele Filme den Vergleich mit den neutestamentlichen Gleichnissen nicht scheuen müssten und nennst dabei Werke wie Wie im Himmel, Le Havre, den Mann ohne Vergangenheit oder Esmas Geheimnis. An dieser Stelle würde ich gerne einmal wirkungsgeschichtlich argumentieren. Sollen wir eine Pascalsche Wette darauf eingehen, welche dieser Film-Narrationen noch in 2013 Jahren post Cinema natum, ach sagen wir doch lieber in 50 oder 100 Jahren noch als lebensdeutendes Element Verwendung finden werden – so wie für Millionen von Menschen weltweit etwa das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter oder das Gleichnis vom verlorenen Sohn oder das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg 2013 Jahre post Christum natum?

Mit Georg Seesslen kann man doch aus guten Gründen fragen, wie dauerhaft diese ‚Werte‘ eigentlich sind, denn sie werden als Transzendenz-Ersatz nicht lange vorhalten, sie halten in aller Regel nicht einmal ein einziges Leben durch.

Das meine ich auch und würde daher gerne darauf wetten. Herzlich,

Andreas


Lieber Andreas, lieber Jörg,

vielen Dank für Euren interessanten Briefwechsel und die Bitte um Rückmeldung. Ich versuche mal, meine Gedanken während der Lektüre zu sortieren.

Vielleicht könnte man drei Fragestellungen unterscheiden. Zunächst die Frage nach dem Stellenwert des Films in Bezug auf die historisch 'etablierten' Gattungen. Hier würde ich einfach sagen, ja, man kann den Film wie die Fotografie und das Video als neuere Formen dazu zählen. Dann sagt dies aber lediglich aus, dass sich im Zuge der Moderne weitere Genres ausgebildet haben mit allem, was an möglichen Referenzierungen damit einhergeht. Fraglich ist meines Erachtens jedoch, ob der Gattungsbegriff substantiell überhaupt etwas über Kunst aussagt oder nicht nur eine Hilfestellung bei der Ordnung und Unterscheidung von Medien ist/war. Schließlich zählte man ja zunächst nur die Musik zu den freien Künsten, lange bevor Malerei, Skulptur und Architektur als Künste unterschieden wurden und ohne dass dabei der Autonomiebegriff, wie ihn die Moderne präzisiert, eine Rolle spielte. Gleichwohl kann man natürlich diskutieren, ob bestimmte Gattungen wie die Malerei per se ausschließlich Kunstwerke subsumieren, während andere immer schon in den außerkünstlerischen Bereich übergreifen, wie z.B. die Architektur oder eben auch der Film. Aber diese historiographische Frage tangiert denke ich nicht das eigentliche Problem.

Die zweite Frage wäre: Wie erläutert man, dass der Film ein eigenes Medium ist, das anders hergestellt und wahrgenommen wird, für das man andere Techniken und (kulturelle) Voraussetzungen braucht als für andere kulturelle Gebilde, also etwa für ein Bild, eine Skulptur, einen Text oder für ein musikalisches Werk? Genau in dieser Hinsicht – und nur in dieser Hinsicht – würde ich von der cineastischen Form respektive der cineastischen Erfahrung sprechen. Ich nehme einen Film (aisthetisch, wenn man so will) anders wahr als ich ein Buch lese, Musik höre, eine Fotografie oder ein Gemälde sehe, ein Theaterstück schaue oder Architektur begreife. In diesem Sinne gibt es die besondere Erfahrungsform eines Bildes, einer Architektur, eines Theaterstücks usw. Man muss daher die unterschiedliche Machart und Wirkungsweise der Medien kennen und den Umgang damit schulen, um auf der Höhe des jeweiligen Mediums und in Bezug auf intermediale Verweise arbeiten zu können (als Produzent) und wahrzunehmen zu können (als Rezipient).

Eigentlich kontrovers ist aber ja – offenbar tatsächlich bis heute – die genaue Unterscheidung zwischen Ästhetik und Hermeneutik. Hier sehe ich nicht, wie man anders argumentieren kann als Andreas es in der Linie von Kant, Adorno und Menke tut: nämlich die ästhetische Wahrnehmung als Erfahrung des anhaltenden Zögerns zwischen Ding und Zeichen zu erläutern und jede (inhaltliche) Deutung als Unterbrechung bzw. Stillstellung dieser unendlichen Bewegung. Jede Interpretation ist demnach ein „legitimer Ikonoklasmus“ und die Reflexion auf das ästhetische Erfahrene, also die je spezifische kulturelle Aneignung, „sekundäre Applikation“. Auch die theologische Aneignung hat also keine Deutungshoheit, selbst dann nicht, wenn man die theologische Hermeneutik nicht nur als eine von vielen sondern als die explizit gewordene Form aller kulturellen Sinn-Deutungen beschreiben würde. Wobei das letztere ja wohl nicht strittig ist. Ich würde noch anmerken, dass damit auch nicht jede Deutung oder nachträgliche Aneignung generell irrelevant ist, denn die Rede von der Souveränität des Ästhetischen besagt ja, dass sich eine Verzögerung der Bedeutungskonstitution und darin die Entwertung all unserer Diskurse immer erst dann – und auch nur solange – vollzieht, wie ich etwas unter den autonomen Voraussetzungen der Kunst wahrnehme, wie Menke in Abgrenzung zu Derrida erläutert hat.

Ergänzend würde ich sagen, dass man natürlich auch an Filmen ästhetische Erfahrungen machen kann, wie an allem, was es auf der Welt gibt, die Welt eingeschlossen. Vielleicht hat oder muss sogar jeder (gute) Film auch ästhetisch autonome Anteile enthalten, Freiheit also nicht nur thematisieren, sondern auch entfalten? Aber dies hätte faktisch nichts mit dem Film als Gattung, dem Film als Medium oder der Filmart, etwa dem Kinofilm, zu tun. Sonst wären ja Kriterien wie Fiktionalität und Medialität ausreichend zur Definition eines Kunstwerks. Filme sind auch aus meiner Sicht eher Mischformen; autonom ist vielleicht nur der experimentelle Film. Die Arbeiten von Jeff Koons sind deshalb Kunstwerke und gerade keine Hybridformen, weil sie das Triviale und den Kitsch ja nicht irgendwie mit der Kunst verbinden oder einbinden, sondern weil sie das Triviale und den Kitsch unter autonomen Voraussetzungen vorstellen und damit sichtbar machen, sie entfalten ihr Argument also nur in der Differenz.

Die dritte Frage, wo ordnet sich der (Kino-)Film bzw. die cineastische Erfahrung in Bezug auf das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und kultureller Hermeneutik ein, kann ich nicht klar beantworten. Vorläufig würde ich sagen: Cineastische Erfahrungen sind nicht ästhetische Erfahrungen – nur, sobald ich einen Film (ästhetisch) wahrnehme, mache ich zugleich cineastische Erfahrungen (mit der ästhetischen Wahrnehmung von Musik musikalische Erfahrungen usw.), einfach weil ich etwas von der Machart und Wirkungsweise dieses Gegenstands/Mediums lerne oder meinetwegen verstehe – kurz: ein Verständnis entwickle. Anders als kulturelle Deutungen wären medienspezifische Erfahrungen so nicht Unterbrechungen der ästhetischen Wahrnehmung, sondern kontinuierlich damit einhergehend? Oder ist das ein trivialer Begriff von Erfahrung bzw. gar keine Erfahrung sondern eine (Ein-)Übung und in der Folge eine cineastische Kompetenz? Muss ich ästhetische Erfahrungen gemacht haben, um Medienkompetenzen entwickeln zu können oder kann ich das unabhängig davon? Ich bin hier unsicher. Wenn ich Jörgs Intervention richtig verstehe, geht es ihm um eine – aus meiner Sicht allerdings falsch verstandene – Demokratisierung der Kunst? Es wäre das Argument von Wolfgang Ullrich in „Tiefer hängen“, also der implizite Vorwurf, das Beharren auf der Autonomie der Kunst verschleiere einen unverstellten Zugang zur Kunst, indem es sie in einem von der Lebenswelt getrennten und damit – und das ist dann der eigentliche Vorwurf – von der Lebenserfahrung des einzelnen losgelösten Bereich situiert. Aber genau eine solche elitäre Vorstellung von ästhetischer Erfahrung wäre es aus meiner Sicht, wenn ich Kunst nur in Form von bestimmten Sinn-Deutungen – und seien es auch viele verschiedene – wahrnehmen könnte. Dass jemand, wie Jörg es beschreibt, bei einem Film religiöse Erfahrungen macht, muss doch meiner Wahrnehmung des Films äußerlich bleiben. Wenn es (den) Sinn zu erkennen gilt – und sei er auch unendlich vielfältig – müsste mir ein Theologe, der Drehbuchautor oder der Regisseur dann nicht sagen können, Du hast den Film erst richtig verstanden, wenn Du nach der Kinovorstellung Dein Leben änderst, oder Du hast ihn gar nicht verstanden? Das ist ja auch der Grund, warum Künstler die Frage danach, warum sie etwas darstellen oder gemacht haben, immer damit beantworten, wie sie es darstellen und gemacht haben. Die Frage nach dem Warum spielt für sie keine Rolle. Darin liegt die Zumutung des Ästhetischen, es erklärt sich nicht.

Herzliche Grüße

Karin

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/87/mhw1.htm
© Jörg Herrmann, Andreas Mertin, Karin Wendt, 2014