Paradigmen theologischen Denkens


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Kurz und Gut I

Vorstellungen ausgewählter Kurzfilme

Andreas Mertin


Mit diesem Heft beginnt eine weitere Kolumne des Magazins für Theologie und Ästhetik, die sich mit der Kolumne über Videoclips abwechselt. Hingewiesen soll dabei auf interessante Kurzfilme. Eine Auflistung und Kurzvorstellung der Filme finden Sie auf der Seite Kurz und Gut des Magazins.


La métaphore douloureuse - Die Bilderwelt des Marc Giai-Miniet

Vorgestellt werden soll ein Kurzfilm mit dem Titel „Memorium“ bzw. "Mémoires Vives". Aber um diesen wirklich verstehen und deuten zu können, müssen wir uns zunächst seiner Post-Credit-Szene zuwenden. Sie ist zwar geradezu ein Spoiler im Blick auf den ganzen Kurzfilm, aber ohne den Blick darauf wird die Deutung sehr schwer. Nach dem Abspann im 13 Minuten und 18 Sekunden langen Kurzfilm „Mémoires Vives“ bzw. „Memorium“ von Philippe Giai-Miniet & Fabrice Mathieu blicken wir auf Menschen, die neugierig auf eine Art Miniaturwelt schauen. Wir kennen diese Miniaturwelt bereits, denn sie besteht aus dem zentralen Handlungsräumen des gerade betrachteten Kurzfilms. Was aber im Kurzfilm wie eine auf den Menschen bezogene wenngleich durchaus phantastische Realwelt aussieht, ist de facto nur eine Modellwelt, in die hinein eine Geschichte erzählt wird, die vermutlich durch die Miniaturwelt inspiriert wurde. Mit dem Leben nach dem Tod verhält es sich wie ...

Diese Miniaturwelt stammt von dem französischen Künstler Marc Giai-Miniet (*1946). Man kann auf seiner Website im Internet (http://www.marc-giai-miniet.com/) einen genaueren Blick auf den Aufbau seiner Arbeiten werfen und seine Bilderwelten erkunden. Schauen wir uns zum Beispiel seine Barbaren-Box (Boîte des barbares) an. Sie ist 120x98x18 cm groß. Wir blicken im oberen Bereich auf eine Art Bibliothek mit hunderten von Büchern, die je weiter oben sie im Regal platziert sind umso heller und unbenutzter aussehen, während die unteren Bücher vertraute angestaubte braune Buchrücken zeigen. Man muss vermuten, dass sie irgendwann Platz machen müssen für neue Bücher und deshalb über Körbe nach unten in den Keller geschickt und dort verbrannt werden. Im Keller gibt es Brennöfen und Loren, welche die Asche abtransportieren. Man weiß das nicht so genau, aber die Anordnung der Gegenstände lässt es einen vermuten. Nicht alle Kästen von Marc Giai-Miniet enthalten die gleichen Elemente:

„Ces «boîtes» ... reprenaient les thèmes de mes tableaux: scène du décervelage, visite aux momies, agitation des larves et transfusions diverses. Des petits personnages découpés dans du carton figuraient le ballet ironique et existentiel de ma peinture. Au fil du travail, les constructions devenant de plus en plus grandes, les personnages ont disparu et des livres, des bibliothèques entières ont pris place conjointement aux laboratoires, aux salles de stockage, d’attente ou d’interrogatoires, aux cellules, escaliers, coursives, fours, égouts ou quais de partance…”[1]

Und dennoch führen sie dazu, dass man spontan beginnt, Geschichten zu den Kästen zu erzählen, Sinn und Handlung in sie hineinzulegen, was durchaus den Intentionen des Künstlers entspricht:

Je comprenais que les livres brûlés, ainsi figurés, étaient la métaphore douloureuse de la vie des hommes, à la fois esprit et matière et voués inexorablement à leur destin. Car non seulement les livres peuvent être brûlés mais parfois aussi, par la connaissance transmise, ils nous «brûlent», nous métamorphosent, nous accompagnent ou nous égarent … dans une vision devenue «existentiale».[2]

Eine schmerzhafte Metapher für das menschliche Leben. Aber eben deshalb auch ein dialektisches Bild:

“La pensée humaine s'est écrite en partie dans des livres fondamentaux revendiqués par les saints aussi bien qu’instrumentalisés par les tyrans. Les hommes témoignent dans leurs livres de la beauté de l’univers mais aussi de leurs gouffres péremptoires. Fragiles et éphémères comme eux, capables d’imprégner nos mémoires par la vision de bonheurs possibles, d’élans spirituels et d’espérances, capables aussi d’y inscrire les pires horreurs. Chacun y verra, de la blancheur des livres aux noirs égouts, un cheminement, un va et vient constant entre les deux pôles majeurs de l’homme: la bestialité et la transcendance, la fragilité humaine et la divinité inaccessible.”[3]

Die Vorstellung, dass sich das Handeln der Menschen in Bücher des Lebens einschreibt, ist seit langem Teil der menschlichen Überlieferungswelt. Geht es biblisch zunächst darum, dass überhaupt der eigene Name im Buch des Lebens verzeichnet wird (Da redeten die miteinander, die den Herrn fürchteten, und der Herr merkte auf und hörte. Und ein Buch der Erinnerung wurde vor ihm geschrieben für die, die den Herrn fürchten und seinen Namen achten; Maleachi 3,16 / Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angelegt werden, und ich werde seinen Namen niemals austilgen aus dem Buch des Lebens, und ich will seinen Namen bekennen vor meinem Vater und vor seinen Engeln; Offenbarung 3,5), so geht es später darum, dass auch die guten und die bösen Taten der Menschen verzeichnet und abgerechnet werden.

Diese Konfrontation mit den Extremen des Menschlichen, Bestialität und Transzendenz bzw. menschlicher Schwäche und unzugänglicher Göttlichkeit, zeichnet nun in einer überraschenden Weise anhand eines Kasten von Marc Giai-Miniet auch der Kurzfilm Memorium nach, der erkennbar auf die apokalyptische Literatur (insbesondere Offenbarung 3,5) Bezug nimmt.

Philippe Giai-Miniet & Fabrice Mathieu: "Mémoires Vives", "Memorium" - 2012

Der Film führt uns zunächst in ein Krankenhaus, in dem ein an Apparate angeschlossener Mann auf dem Sterbebett liegt. Er bäumt sich im Todeskampf noch einmal heftig auf, aber dann signalisiert der Ton des Herzfrequenzmonitors, dass er gestorben ist. Und dennoch werden wir danach Zeuge seines Wiedererwachens, ein Boot trägt ihn über ein unterirdisches Gewässer an einen unbekannten Ort.

Dort wartet eine Lore auf ihn, die ihn vorbei an qualmenden Brennöfen durch die Unterwelt transportiert. Man sieht seiner Mimik an, dass er dabei an die Hölle oder ähnliches denkt; zumindest aber stellt er sich die Frage: wo bin ich hier gelandet? Auch die Lore spukt ihn irgendwann aus und nun wird er mit einem Aufzug einige Ebenen höher gebracht. Es ist eine durchaus merkwürdige Architektur, durch die er dort transportiert wird, sie sieht aus wie ein Gedärm im Inneren der Erde.

Auf der nächsten Ebene erfasst ihn ein roter Strahl, der ihn in zwei Wesen aufteilt: seinen guten und seinen bösen Teil. Der böse Teil verschwindet im Orkus der Unterwelt. Vor dem guten Teil öffnet sich eine Tür. Hinter der ein etwas monsterhaftes Wesen erscheint, Aber es scheint dennoch eine Art Enge l zu sein, denn es überreicht dem Protagonisten weiße Kleidung (Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angelegt werden; Offenbarung 3,5), was eine erfreute Reaktion bei diesem auslöst. Der merkwürdige Engel führt mit dem nun weiß gekleideten Mann auf eine Ebene, auf der sich eine Apparatur befindet, die Dinge aufzusaugen scheint. Unser Protagonist tritt unter die Apparatur und wird nun von ihr aufgenommen und durch ein komplexes Schlauchsystem über zahlreiche Ebenen und vorbei an diversen Katalysatoren weiterbefördert.

Am Ende dieses Vorgangs spukt der Schlauch ein Buch mit dem Namen des Protagonisten aus: Philippe Cassin (1967-2012) – offenkundig die Bilanz eines Lebens. Dieses Buch wird nun von einem anderen „Engel“ in ein Regal einsortiert, in der schon zahlreiche andere Bücher mit eingravierten Personennamen stehen. Die Kamera fährt zurück und zeigt, dass dieses Regal ein Teil einer überdimensionierten und faktisch unübersehbaren Bibliothek ist.

Nun erscheint der Abspann, der sich vom üblichen cinematographischen Usus dadurch unterscheidet, dass er von jedem Beteiligten das Geburtsjahr zeigt und das Sterbedatum offen lässt und somit auf die Sterblichkeit aller Beteiligten hinweist. Und dann folgt die eingangs erwähnte Post-Credit-Szene.

Der Kurzfilm nimmt auf zahlreiche Elemente der europäischen Religionskultur Bezug – nicht nur auf christliche.

So ist die Bootsfahrt zum Hades über den Styx als Grenzfahrt zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich ein Element der griechischen Mythologie, auch wenn Michelangelo sie auch in seine Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle integriert hat. Die Ausstattung mit der weißen Kleidung ist der christlichen Kultur entnommen, der Bezug auf das Buch des Lebens als Dokument der Lebenstaten durfte allgemeinreligiöser Natur sein.

Einige Elemente sind neuartig bzw. unkonventionell gestaltet: etwa dass innerhalb des angedeuteten Jüngsten Gerichts eine Scheidung der guten Teile eines Menschen von seinen bösen stattfindet (und nicht nur deren Benennung). Nicht die Guten von den Bösen werden getrennt, sondernm das Gute und das Böse im Menschen. So wird von jedem Menschen etwas für die Allgemeinheit gewonnen und aufbewahrt. Hier wird der klassische Dualismus (entweder gerettet oder verworfen) überwunden. Auch die klassische Vorstellung vom Fegefeuer wird auf diese Weise modifiziert (sie wird überflüssig). Ebenso originell ist die angedeutete Idee, dass nicht die Menschen oder ihre Seelen als solche überleben, sondern nur ihre in Buchform dokumentierten Leistungen (hier zeichnet sich vielleicht eine Nähe zu jüdischen Überlegungen ab).

Interessant ist schließlich die Lösung, dass das ewige Leben auch nicht ewig ist, sondern einem Zeitfaktor unterliegt - schließlich gehen auch die Lebensbücher im Film den Weg alles Irdischen (denn alles was entsteht / ist wert dass es zu Grunde geht) und machen Platz für neue Lebensbücher und Erkenntnisse.

Insgesamt ist "Mémoires Vives" / "Memorium" ein durchaus inspirierende Kurzfilm, der ausgehend von einem Kunstobjekt eine interessante Lesart entwickelt – sozusagen eine religiöse Erfahrung mit einer ästhetischen Erfahrung macht.

Anmerkungen

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/88/am446.htm
© Andreas Mertin, 2014