Paradigmen theologischen Denkens


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Die Negativzeichnung des Juden Moses Freudenstein in Wilhelm Raabes ‚Der Hungerpastor‘

Hans-Jürgen Benedict

Nachdem ich in den letzten Jahren mit Vergnügen Wilhelm Raabes späten kleinen Romane gelesen hatte (von Horacker über die Akten des Vogelsang bis zu Altershausen), fiel mir jetzt zufällig sein Roman Der Hungerpastor (erschienen 1863/64) in die Hände.

Der Hungerpastor galt als einer der bekanntesten Romane des großen Realisten des 19. Jahrhunderts. Er hatte eine breite Wirkungsgeschichte, obwohl Raabe ihn im Alter zu seinem „Jugendquark“ zählte. Er wurde auch in der Zeit des Nationalsozialismus noch viel gelesen. Nicht von ungefähr, wie gleich ersichtlich.

„Vom Hunger will ich in diesem Buch handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag. Wie er im einzelnen zerstörend und erhaltend wirkt und wirken wird.“ (W. Raabe, Der Hungerpastor in: Raabes Werke in fünf Bänden 2. Band, Berlin/Weimar 1972, 7) So lehrhaft beginnt der Roman und so moralisch entfaltet er dieses Thema des Hungerns nach Wahrheit und Liebe auf der einen, nach Erfolg auf der anderen Seite an dem Schicksal zweier Freunde, die sich nach ihrer gemeinsamen Jugendzeit völlig gegensätzlich entwickeln. Da ist zum einen der Schuhmachersohn Hans Jakob Unwirrsch. Sein Vater Anton Unwirrsch, ein Mystiker wie der berühmte Schuster und Philosoph Jakob Böhme aus Görlitz, vermachte, früh verstorben, seinem Sohn die Erbschaft dieser Sehnsucht nach dem anderen. Eine blitzende Glaskugel über dem Arbeitstisch des Vaters symbolisiert den Drang nach Erkenntnis. In großer Armut wächst Hans auf, begleitet von dem kauzigen Oheim Grünebaum, gegen dessen Willen er das Gymnasium besucht, aber von der einfachen Mutter, die als Wäscherin hart arbeiten muss und von der Base und Geisterseherin Schlotterbeck unterstützt in seinen Bildungsbestrebungen. Auf der anderen Seite Moses, der Sohn des jüdischen Trödlers Samuel Freudenstein von Neustadt. Dieser hatte gegenüber in der Kröppelstraße seinen Laden, der statt eines Schildes mit einer aufgehängten Hoflakaienlivree auf sich aufmerksam machte. Die Freundschaft der beiden Jungen wurde begründet durch eine mutige Handlung des kleinen Hans. „In jenen vergangen Tagen“, so beginnt die Schilderung dieser Tat, „herrschte vorzüglich in kleinen Städten und Ortschaften, noch eine Mißachtung der Juden, welche man so stark ausgeprägt glücklicherweise heute nicht mehr findet. Die Alten wie Jungen des Volkes Gottes hatten viel zu dulden von ihren christlichen Nachbarn; unendlich langsam ist das schauerliche ‚Hephep‘, welches so unsägliches Unheil angerichtet, verklungen in der Welt. Vorzüglich waren die Kinder unter den Kindern elend dran. Und der kleine, gelbe, kränkliche Moses führte kein angenehmes Dasein in der Kröppelstraße. Wenn er sich blicken ließ fiel das junge nichtsnutzige Volk auf ihn wie das Gevögel auf den Aufstoß.“(44) Als heutiger Leser ist man erfreut, eine so klare Parteinahme für die jüdische Bevölkerung zu finden. Als an einem Schneetag „die jungen Christen und Germanen“ den Sohn des Trödlers erniedrigen, indem sie in seine Hand spucken, macht Hans nicht mit. Ihm wird klar, dass da gerade eine große Niederträchtigkeit begangen wird. Statt in Moses Hand zu spucken, „streckte er die Faust den Kameraden entgegen: wild schrie er, man solle den Moses zufrieden lassen, er Hans Unwirrsch leide es nicht, dass man ihm ferner Leid antue.“(45) Es kommt zu einer Schlägerei, bei der sie sich blutige Köpfe holen, doch fortan sind die beiden unzertrennliche Freunde. Eine großartige Szene (ähnlich eindrücklich wie das Leben und Sterben des Armenschullehrers Silberlöffel kurz zuvor). Fortan ist Hans ist häufig zu Gast im Trödlerladen, in dem sich mit den vielen seltsamen Dingen eine neue Welt für ihn auftut. Und Raabe erzählt ausführlich die Leidensgeschichte der Juden in Deutschland und die des Vaters Samuel Freudenstein, vergisst auch nicht sarkastisch anzumerken, dass man als Jude „nach damaligem löblichen Brauch gleich dem eingetriebenen Schlachtvieh verzollt (wurde).“ Und er zitiert wörtlich jenen beschämenden Zettel des Steueramts irgendeiner Stadt, der neben drei Rindern, vierzehn Schweinen, zehn Kälbern einen „Jüd“, erwähnt, „nennt sich Moses Mendelssohn aus Berlin“, also den berühmten jüdischen Philosophen der Aufklärung, den Großvater von Felix-Mendelssohn-Bartholdy .

Doch diese sympathische Schilderung jüdischer Figuren hält nicht lange vor. In den letzten Jahren der Schulzeit zeigt sich der Antagonismus dieser beiden immer deutlicher. Moses, der Klassenbeste, sammelt sein Wissen egoistisch, im Geheimen angetrieben von seinem Vater, der hofft, dass der Sohn mit seinem Wissen es all seinen Gegnern heimzahlen kann. „Er wird es ihnen vergelten nach dem Gesetz: Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ (112) Als er ihm Einblick in die gesammelten bisher verborgenen Schätze gibt, erfasst den Sohn eine dämonische Gier nach dem Erbe. „Er dachte nicht an die Liebe, die an diesem Reichtum klebte, sondern nur daran, wie er sich selbst zu diesem Reichtum stellen müsse.“(114) Als den Vater der Schlag trifft, schaut er gefühlslos dessen Sterben zu. Und der Leser muss folgern, dass er letztlich schuld am Tod des Vaters ist. Er beginnt Philosophie zu studieren, promoviert schnell mit einer Doktorarbeit über die „Materie als Moment des Göttlichen“, lobt den Kosmopolitismus der Juden, die jetzt die Vorteile ihrer Gastnation genießen, ohne von deren Niederlagen berührt zu sein, lobt aber auch seinen Freund Harry Heine in Paris, „der die deutsche Schmach und Schande mit einem Hauch von Wehmut verspottet“(134). Er tritt zum Katholizismus über, nennt sich fortan Theophile Stein und wirkt zunächst als Literat in Paris, zurück in Deutschland verkehrt er nur mit hochgestellten Persönlichkeiten, macht von sich reden durch Aufsehen erregende Thesen, behandelt die Frauen gefühlskalt, nutzt sie für sein Zwecke aus und zerstört so ihr Leben. Er übernimmt schließlich Spitzeldienste für verschiedene Regierungen.

Der bescheidene Hans Unwirrsch hingegen studiert Theologie, schlägt sich zunächst als Hauslehrer durch, wird von einem Fabrikanten entlassen, als er für dessen Hunger leidende streikende Arbeiter Partei ergreift. Schließlich findet er ein Stelle bei dem Geheimrat Götz in Berlin, wo er dessen Nichte, die verwaiste Franziska kennenlernt, die später seine Frau wird. Hier kreuzt er wieder den Weg von Moses Freudenstein, jetzt Dr. Theophil Stein, der ihn ironisch „Hungerpastor“ nennt und der sich um die Tochter des Hauses, die scharfzüngige Kleophea bemüht, die schließlich auch mit ihm gegen den Willen der Eltern flieht. Schwer enttäuscht von der „schlüpfrigen ewig wechselnden Kreatur, die sich einst Moses Freudenstein nannte“(291), fängt er an ihn zu hassen. Einmal wird dieser sogar mit gefräßigen Raupen verglichen, die im Park ihr Unwesen treiben (281). Enttäuscht von dem Kampf aller gegen alle, übernimmt Hans schließlich mit seiner Franziska die Hungerpfarre in Grunzenow an der Ostsee. Es wird das Weihnachtsfest in dem Fischerdorf geschildert, eine Idylle, die sich früher in Weihnachtsanthologien fand, mit einer bemerkenswerten Predigt des alten Pfarrers über die Geburt Jesu im römischen Reich, die dieses letztlich aus den Angeln hebt.

Der Hungerpastor ist ein Bildungsroman mit einer breit angelegten Handlung, deren Verlauf aber absehbar ist und deren dualistische Moralität schon bald zu nerven beginnt. Das moderne Großstadtleben wird negativ gezeichnet. Der Weg des Theologen wird breit ausgemalt, dabei gelingen Raabe auch sozialhistorisch aufschlussreiche Genrebilder, etwa das über die Vermietung von Zimmern an „unsern Herrn“, wie der alleinstehende Untermieter dann von der Familie genannt wurde. Der ehemalige Freund Moses, jetzt Theophile, taucht nur noch in zugespitzten Szenen auf, etwa im Kunstdiskurs im Salon des Geheimrats, wo der die Frau Geheimrätin mit klugen Bemerkungen über die Präraffaeliten unterhält.

Natürlich ist es das Recht eines Autors, der Negativzeichnung einer seiner Figuren auch einen ethnischen Hintergrund zu geben. Es ist aber auffällig, dass in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts immer wieder Juden zu Sündenböcken gestempelt werden, wie Ruth Klüger in ihrem Vortrag „Die Leiche unterm Tisch. Jüdische gestalten aus der Literatur des 19. Jahrhunderts“ (in: Ruth Klüger, Katastrophen. Über deutsche Literatur, Göttingen 1994) gezeigt hat. Von Grimms Märchen Der Jude im Dorn, über Brentanos Gockel und Hinkel und Hauffs Jud Süß bis zu Gustav Freytags Soll und Haben, Fontanes Unwiederbringlich, Stifters Abdias und Raabes Hungerpastor. Gegenüber dem Vorwurf des Antisemitismus hat sich Raabe auch mit dem Argument verteidigt, er stelle ja nur dar, dass es auch im Judentum unsympathische Renegaten gäbe. Er sei kein Antisemit, im Gegenteil, er kritisiere im Roman judenfeindliche Einstellungen. Juden zählten zu seinen besten Freunden. Alles richtig. Aber was untergründig geschieht, wenn so dualistisch erzählt wird und alles Negative an der jüdischen Figur festgemacht wird, ist eben die Verfestigung von Vorurteilen gegenüber den aufstrebenden Juden in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation. „Bei Hauff, Freytag und Raabe spiegeln die negativ gezeichneten Juden Aspekte der modernen Gesellschaft, die man sich am liebsten vom Hals schreiben oder wünschen möchte“ (Ruth Klüger, Katastrophen, 94) Natürlich gab es solche unsympathischen jüdischen Charaktere, „das Jüdische dient aber zur psychologischen Motivierung der rücksichtslosen Anpassung an die Umwelt.“ (Kindlers Neues Literaturlexikon, München 1991, Bd. XIII, 845) Hans Unwirrsch deutet Moses Konversion zum Katholizismus als taktisches Manöver ohne jeden Glauben. Dass die Konversion Voraussetzung war, um eine wichtige Stelle zu bekommen (Gustav Mahler musste konvertieren, bevor er zum Direktor der Wiener Hofoper ernannt werden konnte), das wird verschwiegen. Im Hungerpastor scheitert die Ehe der deutschen Frau mit dem Juden (sie stirbt auf der Flucht vor ihrem Mann infolge eines Schiffsunglücks), während das deutsche Liebespaar in seiner Einfachheit und Wahrheitssuche an demselben Ufer, an dem die Unglückliche strandet, sein Glück findet. „Arbeit und Liebe! zittert es durch ihre Herzen und sie wussten, daß ihnen beides gegeben war … Klar kam der Tag von Osten, über der See zerrissen die Nebel - von der Freiheit sang das Meer, von der Wahrheit die Sonne, die Welt aber gehörte nicht dem Doktor Theophile Stein, der einst Moses Freudenstein hieß. Über den Gräbern des armen Dorfes Grunzenow standen Johannes und Franziska und fürchteten in der Liebe weder das Leben noch den Tod.“(452) Klüger kommentiert dazu: „Der bezwungene Tod und der aus der Welt gedrängte Jude sind in diesem Zitat fast ein und dasselbe.“ (Klüger, Katastrophen, 95)

Die erzählende Literatur schuf keine positiven Identifikationen mit dem jüdischen Bevölkerungsteil in Deutschland, im Gegenteil sie verstärkte gerade durch die Schilderung negativer Charaktere die antijüdischen Vorurteile. Und als es den Juden an Leib und Leben ging, waren so gut wie keine Deutschen bereit, die jüdischen Mitbürger zu verteidigen. Sie hatten, wie Ruth Klüger, zusammenfassend sagt, schon im Kaiserreich keine verlässlichen Freunde unter den Literaten und ihren Protagonisten. Das zeigt sie auch an den modernen Juden in Thomas Mann Erzählungen und an der Schilderung des Antisemitismus im Werk jüdisch-österreichischer Autoren. „Wenn die Juden keine besseren Freunde haben als die Wergenthins dieser Welt (die für die jüdischen Freunde nicht eintretende Hauptgestalt in Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie HJB) dann ist Hopfen und Malz verloren, ob sie sich taufen lassen, für den Sozialismus ins Gefängnis wandern oder den Zionismus finanzieren.“ (Klüger, Katastrophen,68) Der Hungerpastor wird heute kaum noch gelesen, und trotz manch schöner Passage besonders in der Kindheitserzählung der beiden Helden ist es nicht schade darum. Denn Der Hungerpastor gehört entgegen der Intention des Autors in die Vorgeschichte des eliminatorischen Antisemitismus. Seine verquere Thematik, die nicht bös gemeinte Negativzeichnung eines jüdischen Protagonisten, wiederholte sich in gewisser Weise in 140 Jahre später in Martin Walsers kleinem Roman Tod eines Kritikers. Der des Antisemitismus unverdächtige Autor zeichnete darin gleichwohl eine antisemitisch getönte Karikatur eines Kritikers (in dem unschwer Marcel Reich-Ranicki zu erkennen ist), der in der Phantasie des Erzählers zu Tode kommt und wunderte sich (wie schon nach seiner Friedenspreis-Rede mit der Erwähnung der Auschwitz-Keule) über die kritische Reaktion der Öffentlichkeit. Nun ergeben Umfragen, dass antisemitische Vorurteile und Stereotypen in der Bevölkerung eher zu- als abnehmen. Es wird weniger die Literatur als die Nahostpolitik Israels dafür in erster Linie verantwortlich sein. Trotzdem: Deutsche Schriftsteller müssten darüber aufklären und mit ihren sprachlichen Fähigkeiten berechtigte Kritik von Vorurteilen unterscheiden helfen, auch in ihren Romanen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/88/hjb27.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2014