Paradigmen theologischen Denkens


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Der Kaffee - ein protestantisches Getränk?

Vom Ernüchterer zum Genussmittel für alle

Hans-Jürgen Benedict

Angeregt durch Wolfgang Schivelbusch, den Hamburger Lessing-Preisträger 2013 (2008)

„C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Caffee, nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank. Sei doch kein Muselmann, der es nicht lassen kann“. Dieser gern gesungene Kanon zeugt von einer Zeit, als das Kaffeetrinken noch umstritten war. Er sei ein Getränk der Moslems, außerdem ungesund und nichts für Kinder. Ihn zu singen macht Spaß, gerade weil wir uns nicht dran halten. Eine gute Tasse Kaffee am Morgen oder sogar schon einen Cappuccino, zusammen mit einem frischen Croissant vom Bäcker, das ist heute für viele Standard morgendlichen Frühstückens. Nichts liegt ferner als die Warnung vor dem Kaffee, wie sie in Bachs heiterer Kaffeekantate der Herr Schlendrian gegenüber seiner Tochter Liesgen ausspricht. Bach komponierte diese Kantate im Jahr 1729. „Du böses Kind ,du loses Mädchen. Ach, wenn erlang ich meinen Zweck. Tu mir den Coffee weg.“ Der Vater droht, ihr keinen Mann zu geben, wenn sie nicht mit dem Kaffeetrinken aufhört. Liesgen stimmt zu, lässt aber heimlich verbreiten, sie nehme nur einen Mann, der ihr erlaube, „den Coffee, wenn ich will zu kochen.“ Aufgeführt wurde die Kantate übrigens in einem von Leipzigs schönen Kaffeehäusern.

Das wirft die Frage auf: seit wann wird so selbstverständlich Kaffee getrunken? Deswegen hier zunächst ein kleiner historischer Exkurs (der W. Schivelbuschs Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genussmittel, Frankfurt/M 1990 folgt). Um 1650 war der Kaffee in Europa noch weitgehend unbekannt, er tauchte in Orient-Reiseberichten als Exotikum auf. Doch um 1700 ist er bereits ein fest etabliertes Getränk. Und das hat erstaunlicherweise mit dem „Geist des Protestantismus“ (M. Weber) zu tun, mit der geänderten Einstellung zur Arbeit, wie sie durch den Protestantismus hervorgerufen wurde. Denn das Bürgertum des ausgehenden 17. Jahrhunderts begrüßt den Kaffee als den „großen Ernüchterer“ (Schivelbusch). Die Vernunft und die Geschäftstüchtigkeit des Kaffeetrinkers werden dem Rausch, der Unfähigkeit und Faulheit des Alkoholtrinkers gegenübergestellt. „Es ist erwiesen“, heißt es 1660 bei dem englischen Puritaner James Howell, „dass der Kaffee die Völker nüchtern macht. Während Handwerker und Kaufmannsgehilfen früher Ale, Bier und Wein als Morgentrunk genossen, sich dadurch einen dumpfen Kopf holten und zu ernsthaften Geschäften unfähig wurden, haben sie sich jetzt an diesen wach haltenden bürgerlichen Trunk gewöhnt.“ (zit. Schivelbusch, 29)

Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass im Mittelalter und darüber hinaus bis ins 17. Jahrhundert Bier neben Brot das Hauptnahrungsmittel der breiten Bevölkerung Mittel-und Nordeuropas war. Das Frühstück bestand in der Regel aus einer Biersuppe. Bier war Nahrungsmittel für die gesamte Familie, Kinder eingeschlossen. Bierbrauen gehört zur Hauswirtschaft wie Brotbacken und das Schlachten. Außerdem herrschte das Ritual des Sich Zutrinkens das in der Regel im Rausch endete. Saufgelage waren an der Tagesordnung. Kritik an ihnen kommt im 16. Jahrhundert vor allem im Gefolge der Reformation auf. Indem sie das Verhältnis zwischen Gott und Mensch neu als ein persönliches bestimmt, regelt sie auch das weltliche Verhalten neu – wie beim Beruf, beim Zinsnehmen so auch beim Alkohol. Bei Luther ist die Haltung noch nicht konsequent rigide. Er war, wie Heine sagt, ein wortmächtiger Theologe, aber auch ein “kompletter Mensch“, der das Leben und seine Genüsse, gutes Essen, die Sexualität und das Bier schätzte. So konnte er zwar gegen die Saufteufel wettern, aber das von seiner Frau Käthe zu Hause gebraute Bier trank er gern und regelmäßig.

Die gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen für die Abschaffung der Sauferei waren noch nicht geschaffen. Das geschah erst Ende des 17. Jahrhunderts in England. Der englische Puritanismus schreibt die Nüchternheit auf seine Fahnen. Er sieht in dem Kaffee das ideale Getränk, um dieses Ziel durchzusetzen. Die in alkoholischer Benebelung dahindämmernde Menschheit soll mit Hilfe des Kaffees zu bürgerlicher Vernunft und Geschäftigkeit geleitet werden.

„Die Fähigkeit des Kaffees, die Verstandestätigkeit zu beleben und die Aufmerksamkeit zu erhöhen, machen ihn zu dem Getränk der Neuzeit. Es ist das Jahrhundert des Rationalismus, Manufakturen und Rechenhaftigkeit kennzeichnen den bürgerlichen Geist. Er ist ein Kopfarbeiter. Der Kaffee infiltriert den Körper und vollzieht chemisch-pharmakologisch, was Rationalismus und protestantische Ethik ideologisch-geistig bewirken“, schreibt Schivelbusch in seiner kleinen Geschichte der Genussmittel. Der Kaffee wirkt in diesem Sinne als der große „Trockenleger an der Schwelle der Moderne.“ Auch in Kontinental-Europa wird der Kaffee zunächst öffentlich getrunken. Das erste Kaffeehaus wird in Bremen 1637 eröffnet. In der Nachahmung des Vorbilds eignet man sich ein wenig von dessen Weltläufigkeit an.

Der häusliche Frühstückskaffee, vor allem das nachmittägliche Kaffeetrinken entsteht erst später. Der heroischen Phase der Innovation folgt die konformistische Phase der Privatisierung. Häuslich steht der Kaffee für Gemütlichkeit. Allerdings sind beim Frühstückskaffee noch Spuren des Heroischen zu bemerken. Er markiert den Beginn des Arbeitstages, man erinnere sich an Nüchternheit und Wachheit für die Aufgaben des Tags, die der protestantische Geist forderte und im Kaffeetrinken realisiert sah. Im 19. Jahrhundert gesellt sich die Morgenzeitung hinzu, auch sie eine Errungenschaft des Kaffeehauses.

Noch eine Bemerkung zum Kaffeekränzchen. Dies ist eine Angelegenheit der Frauen, oft karikiert und verspottet und schon früh in der Literatur zu Ehren gelangt. „Wenn man den Frauen verspräche, dass sie im Fegefeuer Kaffee zu trinken bekämen, würden sie nicht nach dem Paradies verlangen,“ heißt es bei Picander zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Und der Schlusschor von Bachs Kaffeekantate auf einen Text desselben Dichters lautet: „Die Katze lässt das Mausen nicht; Die Jungfern bleiben Koffeeschwestern. Die Mutter liebt den Coffeebrauch. Die Großmama trank solchen auch. Wer will nun die Töchter lästern.“ Kaffeeklatsch wird zur Parodie des ernsten Männergesprächs im Kaffeehaus. Das Kaffeekränzchen ist eine Art Gegen-Kaffeehaus. In der Öffentlichkeit nicht zugelassen entfalten die Frauen hier ihr eigenes Wesen. Später wandert es ins Café und Konditorei aus. „Aber bitte mit Sahne“ karikiert Udo Jürgens in einem bekannten Schlager diese Haltung.

Als Pastor habe ich 1980 das Kaffeetrinken der großen Frauenhilfe in Recklinghausen, es kamen 100 Frauen zusammen, mit Gebet und Andacht eröffnet. Der Gott wohlgefällige Opfergeruch der evangelischen Frauen war gemischt aus Ehrenamtlichkeit, Liedern und Kaffeeduft, der einmal die Woche verführerisch durch das Gemeindehaus zog. Jeder Altennachmittag in Hamburger Neubauviertel Steilshoop, wo ich danach als Pastor wirkte, war um das Kaffeetrinken zentriert. So sehr ich mich bemühte, Demokratisch-Öffentliches an die älteren Frauen zu bringen, von der Entwicklungspolitik über die Gefahren der Atomenergie bis zur Friedensbewegung – sie ertrugen es gleichmütig, weil die meisten vor allem auf Kaffee und Kuchen ihre Hoffnung setzten und nicht auf Christus den Befreier. War der Kaffee in Ordnung, war alles zum Besten bestellt, aber wehe, er war zu dünn. Das ist mal wieder Blümchenkaffee, hieß es dann. Will sagen, man konnte das Blumendekor auf dem Boden der Kaffeetasse sehen. Einige der Damen hatten eine geradezu atemberaubende Kunst entwickelt, an möglichst vielen Kaffeekränzchen verschiedener Organisationen teilzunehmen. Von der Kirche über die AWO, den Johanniterbund und örtlichen Kleingartenverein bis zur Sozialrentner-Vereinigung. Man stelle sich einmal vor, ich hätte die wenigen männlichen Senioren an diesen Nachmittagen mit Bier versorgt. Dabei war das, wie gezeigt, zu Beginn des evangelischen Christentums durchaus noch üblich. Wäre es denkbar, dass die geringe Teilnahme der Männer am kirchlichen Gemeindeleben auch auf die Verpönung des Biertrinkens zurückzuführen ist?! Die große Ausnahme ist das Gemeindefest. Da wird auch ordentlich gezapft. Ansonsten aber ist in der Kirche Kaffeetrinken angesagt. Es ist die Verbindung von frommer Gemütlichkeit und protestantischer Nüchternheit. Leider gibt es bislang kein Lied im Gesangbuch, dass diese schöne ebenso evangelische wie kommunikativ-weibliche Frömmigkeitsform in Worte fasst.

Übrigens: Weil Deutschland keine Kaffee anbauenden Kolonien hatte, war der Bohnenkaffee hier lange Zeit für die Mehrheit fast unerschwinglich Deswegen kam es zur Erfindung eines Kaffeeersatzes, des Zichorienkaffees. Doch so heiß und schwarz der Zichorienkaffee aussieht und schmeckt, es ist nicht das Original. Man trinkt ihn mit zwiespältigem Bewusstsein. Der wirkliche Kaffee, respektvoll Bohnenkaffee genannt, bleibt das Vorrecht der Begüterten und das Sonntagsgetränk der Ärmeren.

Zichorien, später der Muckefuck, ist eben nur Ersatz. Mit dem Wirtschaftswunder nach 1945 ist seine Zeit abgelaufen, der Bohnenkaffe zum Standard geworden. Die großen Marken, Tschibo, Eduscho ziehen in den Alltag der Deutschen ein. Und sind aus ihm nicht mehr wegzudenken. Wenn das Pfund anderswo 20 Pfennig billiger ist, läuft frau schon einen Kilometer mehr. In vorfeministischen Zeiten ist der Kaffee für die Frauen auch eine Ersatzprogrammatik. Das Brühen von Hand mit Filter wird zunehmend weniger. Die Kaffeemaschine tritt ihren Siegeszug an. Mit einer Kaffeemaschine in jedem Haushalt schien das Optimum an Kaffeewohlstand erreicht. Doch weit gefehlt. Anfang der 90er Jahre meldet sich die italienische Kaffeekultur bei den Deutschen an.

Der Cappuccino, vor 30 Jahren noch Kostbarkeit auf der Italienreise, in Venedig kaum zu bezahlen, dann ein gelegentlicher Luxus, ist heute dank der neuen Vollautomaten für viele tägliches Getränk. Musste man zunächst noch komplizierte Einfüll- und Aufschäumverfahren von Hand vornehmen, so reicht es heute Kaffeebohnen und Wasser einfüllen – den Rest übernimmt der Vollautomat. Inzwischen haben Kaffeemaschinen mit Kaffeekapseln und Kaffeepads mit vielen Genussvarianten den Markt erobert. Im Übrigen: Man erweitert sein Italienisch über die Kaffeezubereitung – wer kannte zuvor schon Latte macchiato. So wie das vorher schon bei den Speisen geschah. Das typisch deutsche Café bzw. die Café-Konditorei wird zunehmend von den neuen Kaffeehäusern aus den USA verdrängt – Starbucks, Balzac-Coffee nehmen zentrale Plätze in den Städten ein etc. Die köstlichsten Kaffee-Kreationen, zu allerdings nicht geringen Preisen, werden dargeboten. Eine Kaffeewelt für sich, ein kleines Paradies, in dem auch der katholische Kakao wieder zu Ehren kommt. Diese neuen Cafés sind vor allem Treffpunkte der Touristen, der smarten Angestellten und erfolgreichen Frauen, der jeunesse doree, die sich die teuren Getränke leisten kann. Cappuccino trinken gehört zum guten Lebensstil.

In den Technik-Kaufhäusern gibt es längst eigene Abteilungen für Espressomaschinen, über deren Vielfalt man nur staunen kann, auch über die Preise der Produkte, die angeboten werden. Maschinen von 300 bis 1000 Euro werden ohne lang zu zögern gekauft. Kaffee, einst ein Getränk der Nüchternheit, ist heute eines des immer raffinierteren Genusses geworden. Zeichen einer Überflussgesellschaft. Getreu dem Motto Oscar Wildes: „Man versorge mich mit Luxus. Auf das übrige kann ich getrost verzichten.“

Für die ältere Generation der Bohnenkaffee-Trinker gibt es nur noch wenige Konditorei-Cafés. Die neuen Cafés, die nicht an Ketten gebunden sind, entwickeln sich in Richtung Bistros. In meinem Stadtteil Winterhude, vor 30 Jahren noch ein Quartier mit einem Drittel Arbeiterbevölkerung und vielen Kneipen, haben sich in den letzten 10 Jahren mehrere Cafés neuen Stils etabliert, dafür wurden Kneipen geschlossen. Sie heißen Drei Tageszeiten, Café Petit, Café Veneziano, Elbgold usw. Längst haben Eduscho und Tschibo haben ihre Angebotspalette um Cappuccino und Latte macchiato bereichert. Und der Pott Kaffee kostet hier auch schon 3 €.

Der Kaffee ist ein vom Protestantismus begünstigtes Getränk gewesen, er war im öffentlichen Kaffeehaus eine Einrichtung demokratisch-sozialer Kommunikation. In der Studentenbewegung, zu Zeiten der APO wurde diese Funktion ein wenig wiedererweckt in den sogenannten Republikanischen Clubs. Dann auch in der sozialen Szene der 80 und 90er Jahre. In Sozialarbeiterbüros, die gemeinwesenorientierte Konzepte umsetzten, wird, so ein Vorurteil, ständig Kaffee getrunken. Beschäftigungsprojekte errichteten als erstes eine Cafeteria, in der gering Qualifizierte beschäftigt wurden und die Armen des Stadtteils günstig essen und Kaffee trinken konnten.

Durch die Einrichtung von Kirchencafés in den Cities der großen Städte seit 15 Jahren ist der Kaffee gewissermaßen an diesen protestantisch-demokratischen Ursprung zurückgekehrt. Kirchencafé ist etwas anderes als Kaffee nach der Kirche – das war geselliges Beisammensein zum Predigtnachgespräch und zum Austausch, aber auch Refugium für die Einsamen und Belasteten, die nicht so schnell in ihre unbehauste Wohnung zurückwollten, das gab und gibt es in vielen Gemeinden immer noch. Die Kirchencafés in den Cities sind Treffpunkte der Verschiedenen, Kommunikationsorte im Schnittpunkt divergierender Lebenswelten in den Cities. Einerseits will hier Kirche auf alltagsweltliche Weise Präsenz leben. Keine sakrale Schwelle hindert am Eintritt. Selbst wenn das Café direkt an der Kirche liegt wie das Kirchencafé in Hamburg neben St. Jacobi. Der Cappuccino ist genauso gut wie bei Starbucks und kostet weniger. Und: Hier treffen sich schon mal Oben und Unten, die Geschäftsleute und Medienmanager auf der einen, die Armen und Ausgeschlossenen auf der anderen Seite

Hier wird auch Seelsorge getrieben, hier gibt es Dichterlesungen, Gespräche und Kontakte. Der Hauptpastor schaut vorbei und auch die Bischöfin ist hier schon gesehen worden. Eben so wie der Bürgerschaftsabgeordnete. Und der Börsenmann. Und Wohnungslose, die in der Stadt betteln. Der Kaffee als protestantischer Gleichmacher und als Anreger, als Gesprächseröffner und Genussmittel. Auch Christen können endlich ohne Schuldgefühle den Luxus, der sich in einem Latte macchiato manifestiert, genießen. Doch halt, nur wenn hier fair gehandelter Kaffee getrunken wird, Kaffee, der nach Gerechtigkeit schmeckt, sagt der Leiter des Kirchencafés. Nun ja, das lässt sich ja bewerkstelligen, den gibt es inzwischen auch in Supermärkten und normalen Cafés. Deswegen zum Schluss der von mir veränderte Kanon: „C-a-f-f-e-e, trink doch recht gern Kaffee. Auch für Christen ist der Bohnentrank, stärkt die Nerven, macht die Augen blank. Sei doch ein guter Christ, dem Kaffee lieblich ist.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/88/hjb28.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2014