Paradigmen theologischen Denkens


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Eine Welt des Rechts und der Ordnung, eine Welt ohne Moral?

Wertediskurs und Bedeutungskonstitution in Pasolinis Salò (1975)

Konrad Paul / Hans J. Wulff

Ohne Zweifel gehört Pier Paolo Pasolinis Film Salò (1975) zu den großen Skandalfilmen der Filmgeschichte (Volk 2011); immer wieder mit Kürzungen belegt oder sogar freiwillig verstümmelt, von zahllosen Prozessen begleitet, in manchen Ländern jahrelang verboten, wurde der Film erst nach über 30 Jahren in einer integralen Fassung (als DVD bei Criterion) zugänglich – obwohl sein Rang als intensive und radikale Auseinandersetzung mit Faschismus, repressiver Ästhetik, des Zusammenhang von Macht, Politik und Sexualität unter Filmkritikern und Philosophen niemals umstritten war.

Bedeutung

Die Geschichte ist schnell erzählt: Eine Gruppe entführter Jugendlicher beiderlei Geschlechts muss in einer abgeschlossenen Villa die bis zum Lustmord reichenden sexuellen Phantasien des Fürsten von Blangis und seiner drei adeligen Kollegen erdulden. Die Handlung mag an die Armseligkeit der Handlungsführung in vielen Pornofilmen oder auch in manchen Splatterfilmen erinnern – doch sie erschöpft sich nicht im Spektakulären, holt immer wieder weiter aus, zerstört die sadomasochistisch anmutende Illusion, macht sie zur Allegorie. Das hängt mit einer dreifachen inhaltlich-intertextuellen Verwebung des Films mit Texten der Geistesgeschichte zusammen.

(1) Die Geschehnisse, die der Film chronologisch erzählt, sind 1944-45 in der kleinen italienischen Stadt Salò lokalisiert, die von 1943 bis 1945 die Hauptstadt des faschistischen, von der deutschen Besatzung Italiens protektionierten Rumpfstaates Repubblica Sociale Italiana von Mussolini war. Uniformen und Fahrzeuge, Nachrichten und eine Goebbels-Rede aus dem Radio, das Geräusch von Bombergeschwadern, aber auch das eingangs des Films gesehene Ortsschild „Marzabotto“ – es ruft ein Massaker in Erinnerung, bei dem eine SS-Division mindestens 770 Menschen ermordete [andere Quellen sprechen von 1800 Opfern] – halten das Wissen um die historische Zeit der Handlung wach.

(2) Als literarische Vorlage nutzte Pasolini den nur skizzenhaft ausgeführten Episodenroman Les 120 Journées de Sodome ou L'Ecole du Libertinage von Marquis de Sade, den dieser in der Pariser Bastille als Gefangener im Oktober 1785 niederschrieb, der aber Fragment geblieben ist; der Roman galt als zynischer Entwurf eines streng rationalistischen Weltentwurfs, der modellhaft eine totalitäre Gesellschaft entwirft, der das unterworfene Individuum wehrlos und unentrinnbar bis zu seinem gewaltsamen Tod ausgeliefert ist. Les 120 Journées ist formal ähnlich gebaut wie das Decamerone von Giovanni Boccaccio oder und Heptaméron von Margarete von Angoulême – eine geschlossene Gesellschaft unterhält sich in einem geschlossenen Raum eine Zeit lang mit dem Erzählen von Geschichten.

(3) Außerdem griff Pasolini auf  Dantes Inferno aus dessen La divina commedia (1307-20) zurück – der Film ist in vier Segmente geteilt: Dem Antinferno, in dem die Jugendlichen von SS-Leuten gefangen werden und in dem sich die Rede des Fürsten findet, die direkt auf Dante (Inferno II, 1-9) zurückgeht, folgen die drei Höllenkreise der Leidenschaft, der Scheiße und des Blutes (Il girone delle manie, della merda, del sangue), die alle auf die Vorhölle in Dantes Göttlicher Komödie verweisen. Während diese bei Dante aber noch als offener Raum konzipiert war, ist sie in Salò zum Gefängnis geworden.

Der Hinweis auf die mehrfache Rückbindung der Geschichte Salòs ist deshalb von Bedeutung, weil es Pasolini angelegen war, den Film als eine Allegorie auszuführen, die in vielerlei Hinsicht auf europäische Geistesgeschichte zurückweist. Allerdings ist die parabolisch-allegorische Bedeutung des Films mehrfach auszulesen, ohne sich aber je vereindeutigen zu lassen:

(1) Pasolini selbst wollte den Film verstanden wissen als Parabel über den Übergang des traditionellen Italien in die neokapitalistische Konsumgesellschaft der Gegenwart, in dem auch der Körper der Jugendlichen, das letzte Refugium von Unschuld und Freiheit, von den Herrschenden angeeignet und unterworfen wird, ihn in eine Waren- und Genussform umgewandelt hat (Pasolini 1981, 75f). „Die Jugend ist Ware“, heißt es in Dietrich Kuhlbrodts Kritik in der taz (7.5.2003). Ja, es ist sogar die Rede von einem „neuen Faschismus“ im Gewand des Neokapitalismus (Lauer 2002, 2, sowie die dort referierten Quellen).

(2) Gleichwohl die Geschichte im faschistischen Rumpfstaat Mussolinis angesiedelt und historisch recht genau lokalisiert ist, ging es dem Film nicht darum, das faschistische Denken im Bild sadomasochistischer Phantasien zu analysieren und damit zu psychologisieren.[1] Die Gewalt ist Metapher oder Allegorie eines allgemeineren unbegrenzten Anspruchs der Mächtigen auf die Körper der Unterdrückten (so etwa Kuon 1993, 333-335; vgl. Stiglegger 1999, 152).

(3) Auch wenn der Film seinerzeit als „Skandalfilm“ eingestuft und von zahlreichen Zensurauflagen begleitet wurde[2], lässt er sich keinesfalls als Sexploitation-Film verstehen, obwohl er zahlreiche Ingredienzen des Sadiconazista-Films aufnimmt, die in der italienischen Filmproduktion der 1960er und 1970er hohe Popularität hatte (vgl. Stiglegger 1999 als Überblick). Er bricht die sadomasochistische Illusion der Erzählung immer wieder auf, setzt Verfremdungselemente ein, skandiert das visuelle Dargebotene um die nur mündlich beigetragenen Erzählungen der Prostituierten.

Uneindeutigkeit regiert die Inszenierung bis in das Szenische hinein, bricht immer wieder die innere Konsistenz des Geschehens auf. Ein Beispiel: Einer der jungen Gefangenen schleicht sich in den Trakt der Hausangestellten, schläft mit einem jungem schwarzen Stubenmädchen. Die beiden werden verraten und beim Geschlechtsverkehr ertappt. Der junge Mann stellt sich den anderen, die das Paar von der Tür aus mit der Waffe bedrohen, in den Weg, hebt die Faust zum sozialistischen Gruß. Für einen Moment hält das Geschehen inne, als wolle Pasolini Zeit zum Nachdenken geben, dass die so unvermittelt aussehende Ausbeutung der Gefangenen und die so eigenständig wirkenden Regeln, denen sie in der Villa unterworfen sind (wie etwa die Pflicht der männlichen Gefangenen zur Homosexualität), in Kontrast mit jener anderen, politischen Symbolik geraten kann; erst dann fallen die tödlichen Schüsse. Der Präsident persönlich bringt danach auch noch die Hausangestellte um. Das Geschehen schichtet sich in mehreren verschiedenen symbolischen Bezügen auf, inner- und außertextuellen, gewinnt daraus Bedeutungsimpulse, die schwer integrierbar sind (und nach plakativen Implikationen durch den Zuschauer rufen – dass etwa der Kommunismus zur bloßen Geste geworden und angesichts der realen Machtverhältnisse, die sich auch aus dem Primat der Arbeit gelöst haben, zu einer nichtssagenden rhetorischen Floskel in einer auch nur noch symbolischen Auflehnung wurde).

Das Soziogramm der Beteiligten und dramatische Rollen

Das Thema des Films ist die Frage nach dem Zusammenhang von Macht und Repressivität, der Möglichkeiten der Subjektivität, der Überschwemmung des Handelns mit Sexualität und der Überschreitung aller Normen und Regeln. Dass die Mächtigen dem so künstlichen und gegen alle Außenwelt abgeschotteten Sozialwesen – abgesehen vom Anfang spielen alle Szenen im Haus und im Garten der Villa, in der die Beteiligten eingeschlossen oder sogar kaserniert sind – selbst wieder eine strenge Hausordnung geben und sogar ein „Buch der Strafen“ führen für alle, die sich über die Hausregeln hinwegsetzen, deutet auf einen ersten und fundamentalen Widerspruch hin:

(1) Es gibt die einen, die den Regelapparat verfasst haben,

(2) es gibt solche, die für deren Durchsetzung zuständig sind (neben den deutschen Truppen im Garten vor allem junge Männer, die der faschistischen Miliz angehören),

(3) und es gibt die Unterdrückten, die für die Mächtigen sexuelle Sklavendienste zu leisten haben.

Tatsächlich ist die so formal konstruierte Mikrogesellschaft Salòs etwas komplizierter –

(4) es gibt vier ältere Prostituierte, die mit Erzählungen und gelegentlichen Tanzeinlagen die einzelnen Szenen auflockern, dabei oft das Stichwort für die sexuellen Handlungen liefern,

(5) und es gibt die Hausangestellten, die vom Kreis der anderen abgesondert sind (und die als personae non gratae nicht mit den anderen in Kontakt geraten dürfen; geschieht dieses doch, sind sie mit dem Tode bedroht, wie eine kleine Szene zeigt, in der einer der jungen Männer mit einer schwarzen Hausangestellten schläft).

Abgesehen von der Gruppe der Herrschenden sind die Figuren fast immer denominiert, agieren als namenlose und austauschbare Objekte des Geschehens; und sie haben keine backstory, keine benennbare Herkunft, keine Erinnerung an ein wie auch immer geartetes soziales Umfeld. Pasolini hat fast ausschließlich mit Laien gearbeitet, darin einem der programmatischen Verfahren des Neorealismus verwandt, ohne aber dadurch eine Authentifizierung der Darstellung anstreben zu wollen. Vielmehr geht es ihm um Passivität ihres Spiels, das Unanimierte, Ausdrucks- und Leidenschaftslose, als agierten sie als Puppen in einem mechanischen Theaterstück. Diese Art des Schauspiels ist ein Mittel der Distanzierung (Stiglegger 1999, 154), keines, das Empathie oder Sympathie des Zuschauers aktivieren könnte.[3] Die Opfer sind Objekte des Geschehens – das korrespondiert der Tiefenthese des Films, von einer fundamentalen Entmündigung und Kommodifizierung zu handeln; es verhindert auf der anderen Seite aber die dem Zuschauer so vertraute Identifikation mit den Opfern totalitärer Unterdrückung (die z.B. die Folterungs- und Tötungsszenen in Roberto Rossellinis Roma, città aperta, Italien 1945, zu so eindrücklichen Rezeptionserlebnissen machte). Salò sympathisiert allerdings auch nicht mit den Tätern, die in ungreifbarer Distanz ihrem Verhaltensprogramm folgen, ohne es dem Zuschauer je zu ermöglichen, empathisch tiefer in die Figuren einzudringen. Die affektive Kälte, die der Film ausstrahlt, resultiert aus dieser konsequenten Weigerung, sich auf die Seite der Täter oder der Opfer zu stellen.

Ja, die Grenzen zwischen Opfer und Täter werden sogar unklar. Wenn eine junge Frau gezwungen wird, auf den unter ihr liegenden Mann zu urinieren, so scheint sie auf der einen Seite Täterin zu sein, den Mann zu demütigen. Aber sie wird gezwungen, hat größte Widerstände, muss sich selbst überwinden, um den Akt zu vollziehen. Die so eindeutig scheinende Handlung, die ein klares Machtverhältnis von Täter und Opfer etabliert, wird hier zum Paradox, wird in sich verkehrt: Auch die Filmgeschichte ist voller Beispiele dafür, dass das Urinieren auf einen anderen ein Akt höchster Demütigung ist und in aller Regel mit der endgültigen Unterwerfung des Angepinkelten zusammengeht.[4]

Ähnliche Unklarheiten, Widersprüchlichkeiten und Paradoxien der Bedeutungen körperbezogener Handlungen finden sich auch an anderen Stellen: Das dritte Kapitel (die Vorhölle der Scheiße) ist nicht nur durch die deutliche Fixierung von Geschichten, Gesprächen und Figuren auf den Arsch vorbereitet, sondern geht auch den Weg der Unterdrückung weiter: Nach dem lustvollen Eindringen in den Leib des anderen geht es nun um die lustvolle Einverleibung der Exkremente des anderen – einer Lust, die aber mit massiven Abwehr- und Ekelreaktionen blockiert ist. Die Koprophagie – der Verzehr von Kot – wird als Indikation schwerer psychischer Störung gewertet, die Koprophilie als eine allerdings seltene sadomasochistische Sexualpraktik angesehen. Das junge Mädchen, das als erste den Kot des Fürstenbruders aufessen soll, zeigt deutlich, für wie abscheulich sie das hält.[5] Die Lust bleibt den Traktierten verborgen; darum auch kann Scheiße bis zum Ende als Mittel der Demütigung und der Beschmutzung eingesetzt werden. Doch als einer der Herrschenden mit scheißeverschmiertem Mund sich einem der Opfer nähert, wird auch hier Eindeutigkeit entzogen – der skoprophagische Akt ist nicht mehr nur ein Mittel sublimer Folter, sondern wird in eine Handlungswelt transformiert, in der Ekelreaktionen ausgesetzt scheinen.

Die Darstellung sexueller Kontakte zwischen den Akteuren ist auf fünf Grundformen reduziert:

  • Voyeurismus,
  • Zufügung physischer Schmerzen mittels Folterwerkzeugen,
  • Zwang zum Verzehr der Exkremente (Skoprophagie) oder zu Urin-Praktiken,
  • homosexuelle und heterosexuelle Penetration, meist anal,
  • Zwang zur Entkleidung und zu devoten Gesten (so auch Stiglegger 1999, 155).

Immer geht es um Entwürdigung, die Anwendung von Zwang, um die Präsenz von Gewalt in allen Formen sexueller Begegnung. Kooperative Sexualität oder gar lustvoll gemeinsam vollzogene sexuelle Akte findet sich nur in jener schon beschriebenen Szene, in der einer der Sklaven mit einer Hausangestellten schläft. Selbst Formen zärtlicher Zuwendung (wie z.B. das Streicheln der Opfer) mutiert zu einer Parodie sexuellen Einverständnisses (ähnlich Stiglegger 1999, 155). Darum auch ist ein lustvoll-identifikatorisches Teilnehmen des Zuschauers am Dargestellten fast ausgeschlossen (die fast einzige Ausnahme ist die schon erwähnte Beziehung des jungen Mannes zu dem schwarzen Dienstmädchen). Das Regime der Gewalt regelt die sozialen Kontakte absolut.

Der Regelapparat

All dieses basiert auf einem Apparat von Regeln, der zu Beginn der 120 Tage explizit festgelegt wird und deren Einhaltung peinlich kontrolliert wird. Regelverletzungen werden in einem „Buch der Strafen“ festgehalten. Dieses wird geführt vom pedantischen Bischof, der auch die scheinbar kleinsten Vergehen in diesem Buch niederschreibt. Im letzten Kreis der Hölle, dem des Blutes, taucht das Büchlein wieder auf und wird in den Händen des Grafen zur Bedrohung: Gleich der Bibel, in welcher in der Offenbarung des Johannes 20,11 vom „Weltgericht“ die Rede ist, werden die jungen Männer und Frauen gerichtet. Anders aber als in der Bibel werden nicht diejenigen errettet, deren Name im Buch steht, sondern deren Name nicht auftaucht. Es wird eine Verkehrung der christlichen Theologie vorgenommen, die letztlich im Kreis des Blutes seinen Höhepunkt findet.

Der in der Villa gültige Regelkatalog wurde vom Grafen und seinen drei Vertrauten entworfen und kann als ein Regelwerk verstanden werden, das von Männern entworfen wurde, die sich massiv gegen ein humanistisch-christliches Weltbild wehren bzw. einen gänzlich anderen moralischen Hintergrund haben. Das Regelwerk und auch das Verhalten der vier Herrschaften ist in Gänze darauf ausgelegt, jedwedes gesellschaftlich vorherrschende Tabu zu brechen. So gibt es gleichgeschlechtliche (Pseudo-)-Eheschließungen, die schon angesprochenen Sexualpraktiken mit Exkrementen und die Lobpreisung des Muttermords. Gleichzeitig führt das engmaschige Regelkonstrukt dazu, dass sich die Gefangenen mit totaler Überwachung abfinden müssen, die auch die Kontrolle des Exkrementierens beinhaltet. Es gibt keine individuelle Freiheit mehr, die Gefangenen werden allein auf ihre Funktion als Sexualsklaven reduziert, deren einzige Aufgabe darin besteht, den vier Adligen zu Diensten zu sein und ihnen einen außerordentlichen Lustgewinn zu verschaffen.

Interessante Momente finden sich immer wieder, wenn es um die Verhängung von Strafen geht, bzw. um das jeweilige notierenswerte Vergehen. So wird eines der Mädchen im „Buch der Strafen“ festgehalten, welches über Nacht ihren Nachttopf benutzen musste. Dabei fällt die absolute Empörung des Präsidenten auf, der dieses Vergehen als äußerst beachtenswert und unverfroren erachtet, was dem Zuschauer völlig fremd erscheint. Die verhängten Strafen stehen für ihn in keinem Verhältnis zu den angeblichen Missetaten; die so vertraute Perspektive eines aufgeklärten Rechtsstaates ist gänzlich außer Kraft gesetzt. Reagiert er nicht empört und mit nackter Abwehr dessen, was er sieht, muss ein Reflexionsprozess einsetzen, der das, was geschieht, zu rationalisieren und zu begreifen sucht.

Verkehrung der christlichen Theologie

Bereits im Filmtitel ist der Bezug auf den christlichen Glauben angelegt und die Grundthematik des Films angedeutet: Sodom als Stadt des Alten Testaments, die aufgrund ihrer sittlichen Verderbtheit durch den Willen Gottes ausradiert wird. Dieser christliche Bezug wird durch die inhaltliche wie strukturelle Anlehnung an Dantes Göttliche Komödie noch intensiviert. Beschreibt Dante aber in seinem Werk die Buße der sieben Todsünden, um letztlich rein gewaschen in den Himmel auffahren zu können, so wird diese Grundthematik im Film gänzlich ins Gegenteil gekehrt. So werden die Gefangenen dazu gezwungen, eben jene Todsünden zu begehen, um im abgeschlossenen System der Villa keine Strafen erdulden zu müssen. Weiter noch, ließe sich sogar die Behauptung aufstellen, dass die „christlich-moralische“ Sichtweise unter Strafe steht und im Sinne Dantes von eben jener reingewaschen werden soll. Dies wird durch das explizit ausgesprochene Religionsverbot unterstrichen. Beten und andere religiöse Handlungen stehen unter Todesstrafe.

Schon die Grundthematik des Films deutet an, wie sehr das Verhalten der vier Adligen zum christlichen Weltbild in Gegensatz steht. So werden die jungen Menschen betrachtet wie Vieh auf dem Viehmarkt. Bei offensichtlichen körperlichen Mängeln werden die Menschen aussortiert. Der Mensch steht nicht mehr als Geschöpf Gottes im Zentrum, sondern ist nur noch ein Stück Ware, das einem bestimmten Zweck dient. Das idealisierte Bild einer reinen Körperlichkeit beherrscht das Geschehen, und die Auswahlen sind Selektionen (aber nicht dem Darwinschen Prinzip einer optimalen Überlebensfähigkeit folgend, sondern ästhetischen Maßstäben).

Eine sehr eindrückliche Szene, welche auch etwas exponiert eingesetzt wirkt, betrifft den recht früh unternommenen Fluchtversuch eines jungen Mädchens. Der Versuch scheitert – und das filmische Geschehen läuft zunächst weiter, als wäre nichts geschehen. Dem Abendessen schließt sich dann eine Art öffentliche Hinrichtung an. Es versammeln sich die Gefangenen und die vier Adligen vor einer Art kleiner Seitenkapelle. Die doppelflügelige Tür wird geöffnet und das ermordete Mädchen, das zu fliehen versucht hatte, stürzt tot heraus. Die Wand der Kammer ziert ein Gemälde, welches Maria mit dem frisch geborenen Jesus auf dem Arm zeigt, ein Symbol für mütterliche Liebe und Schutz. Die Szenerie wird von keinem der anwesenden kommentiert; erst der Präsident bricht mit einem seiner ordinären Witze das Schweigen und man geht wieder zur Tagesordnung über. Die Kammer wird offen gelassen und dient mit der Ermordeten als Bühne für eine weitere Geschichte der Signora Vaccari.

Eine ständig wiederkehrende Thematik ist das Sakrament der Ehe. Dies wird zum einen an zwei Jugendlichen vollzogen, die offenkundig noch unschuldig und unbefleckt sind. Als schließlich der erste eheliche Geschlechtsakt, die Hochzeitsnacht, vollzogen werden soll, verharren die vier Adligen zunächst in der Rolle des Beobachters, stürmen dann aber auf die beiden Gefangenen ein und zerren sie auseinander und begehen nun ihrerseits den Geschlechtsakt und brechen damit das vorher so explizit-feierlich ausgebreitete zeremonielle Ehesakrament. Lediglich der Bischof beteiligt sich nicht an der Orgie. Im späteren Verlauf des Films tauchen Eheschließungen ebenfalls auf, so im „Kreis der Scheiße“, als der Bischof einen Gefangenen, ausstaffiert als Braut, ehelicht und diesen mit seinem kotverschmierten Mund küsst. Im letzten Kreis, dem „Kreis des Blutes“ kommt es schließlich zu einer dreifachen Hochzeit, die durch die Verkleidung der drei Adligen als feine Damen bereits als skurrile Travestie wirkt, wodurch die Dreifachheirat – die in sich schon aus der Sitte, Hochzeiten als Feste einzelner zu begehen, ausbricht – noch weiter verfremdet wird. Die Tatsache, dass es sich um gleichgeschlechtliche Ehen handelt, wird als weiteres Skandalon fast schon an den Rand gedrängt. Wesentlich mehr Raum der filmischen Inszenierung nimmt die Ausstaffierung des Priesters ein. Dieser trägt ein Gewand, das an den Schultern von zwei Knochenköpfen zusammengehalten wird, die dem Satanskult zugerechnet werden könnten. Hier wird erstmals deutlich offenbar, dass es sich um eine bewusste Abkehr vom christlichen Glauben handelt.

Die Figuren haben keine Hintergrundgeschichten. Mit einer Ausnahme: Bereits in der Vorhölle wird die Entführungsgeschichte eines der Mädchen kurz umrissen, wobei deren Mutter den Tod fand, in dem vergeblichen Versuch, ihre Tochter zu schützen. Diese Thematik wird gleich an zwei Stellen im Film aufgegriffen: Zum einen in der schon besprochenen Hinrichtungsszene, wenn quasi vor den Augen der Mutter Gottes ein Leben ausgelöscht wird und als abschreckendes Beispiel dient. Zum anderen beginnt der „Kreis der Scheiße“ mit der Geschichte einer der Prostituierten, die davon erzählt, dass sie in ihrer Jugend ihre Mutter umgebracht und dies als freudiges Ereignis empfunden habe. Daraufhin äußert sich der Graf in einer ähnlichen Weise und schildert seinerseits die wohltuende Tat des Muttermordes. Daraufhin bricht das besagte junge Mädchen in Tränen aus und bittet um Nachsicht, da sie den Tod ihrer Mutter noch nicht verarbeitet habe, was ihr nicht verwehrt wird. Im Gegenteil, sie wird dazu gezwungen, angeregt durch eine der vorhergehenden Geschichten den Kot des Fürsten vor aller Augen zu verspeisen. Gerade in dieser Szene zeigt sich der extrem zynische Umgang mit der christlichen Wertewelt. Während – besonders in der römisch-katholischen Kirche – Maria als Mutter Gottes eine sehr hervorgehobene Rolle übernimmt, wird diese Rolle im Film und durch die Äußerungen des Fürsten komplett in Frage gestellt. Zusammen mit der Prostituierten spricht er den Müttern jegliche besondere Rolle und jeglichen eigenen Schutz ab. Er könne keine Dankbarkeit dafür empfinden, dass sie ihn geboren habe, weil seine Mutter lediglich ihren Spaß – im Sinne des Geschlechtsverkehrs – gehabt habe. Und er sieht keinerlei Anlass dafür, seiner Mutter zu besonderem Dank verpflichtet zu sein, schließlich sei die Geburt eines Kindes nur ein Anhängsel, das sich bei der Hingabe an die Wollust gelegentlich ergibt. Er geht sogar soweit, die Tat der Prostituierten nicht nur gut zu heißen, sondern auch zu loben und als sexuell erfüllend zu betrachten.

Diese Betrachtungen rufen beim Zuschauer wohl fast zwangsläufig ein starkes Gefühl der Empörung hervor, da sie völlig entgegengesetzt zum vorherrschenden gesellschaftlichen Weltbild und zu fundamentalen Werthaltungen sind. Salò bricht damit ein Tabu, das ungeheuerlicher nicht sein könnte, unterstellt es doch im Umkehrschluss, dass die Geburt Jesu nichts weiter als ein Produkt göttlichen Spaßes angesehen werden könnte.

Inszeniertheit und Reflexivität

So skandalös und provokativ der Umgang mit den Regeln des menschlichen Verkehrs und seiner religiösen (Be-)Deutungen auch ist, steht dem eine rigide ästhetische und soziale Ordnung entgegen. All dieses basiert auf einem Apparat von Regeln, der zu Beginn der 120 Tage explizit festgelegt wird und deren Einhaltung peinlich kontrolliert wird. Wie schon erwähnt: Regelverletzungen werden in einem „Buch der Strafen“ festgehalten. Das Moralische wird durch das Sexuelle abgelöst, das Subjekt zum Körper transformiert, Spiritualität geht in Leibeslust über. Dass sich darin auch eine These über das faschistische Gesellschaftsbild verbirgt, kann erst Reflexion herstellen: Geht es doch um die totale oder totalitäre Verfügung der Herrschenden über die Körper der Beherrschten, die ersatzlose Eliminierung jeden Respekts vor dem oder den Anderen.

Die Rigorosität der ästhetischen Gestaltung wirkt wie ein Kontrapunkt gegen die schon erwähnte Kälte, die der Film ausstrahlt. Diese wird massiv durch die filmischen Mittel unterstützt – die Farbtemperatur des Lichts (deutlich im Tageslicht, blaudominiert oder reinweiß), die Kälte der Räume, die nur karg ausgestattet sind und in aller Regel steinerne Fußböden haben, die Abwesenheit einer Musik, die die Emotivität des Geschehens unterstützen könnte, tragen zum Eindruck einer formalen Reduktion bei (vgl. Stiglegger 1999, 156). Die Kamera ist statisch, meist auf weite oder Halbdistanzen festgelegt. Insbesondere die Aufnahmen im „Saal der Orgien“ erfolgen von einem kanonischen Ort im Gegenüber des Eingangs statt (von der Treppe schreitet die Erzählerin zu ihrem Publikum), so dass der Raum streng symmetrisch geteilt erscheint. Wie in einem Ritual sitzt die Hauptakteurin in der Tiefe des Raums, das Publikum – dessen Perspektive die Kamera unter der Hand teilt – drapieren sich vor ihr. Es ist auch der Blick in eine Guckkastenbühne hinein (so auch Stiglegger 1999, 156), als sei die Sichtbarkeit des Geschehens eine der Qualitäten, die es erfüllen soll. So wird denn auch ein verdeckter Bezug zu den Mysterien- und Passionsspielen aus der Religionsgeschichte spürbar (ohne dass er jemals explizit verhandelt würde[6]), der sich jedoch mit der allegorischen Tendenz des Dramas verschmelzen lässt. Die Großaufnahmen stechen aus der so dominanten großen Kameradistanz heraus, fallen noch mehr auf, weil die Gesichter nahezu ausdruckslos sind (also die emotionale Reaktion der Beteiligten auf das Geschehen gerade nicht herausarbeiten).

Das Moment des Demonstrativen tritt besonders in den Folterungsszenen im letzten Teil des Films in den Vordergrund. Man mag einwenden, dass die Folter zweckrational eingesetzt werde, um geheimes oder verschwiegenes Wissen zu Tage zu fördern, um Geständnisse zu erzwingen und dergleichen mehr. Man könnte dem aber entgegenhalten, dass Folter immer eine narzißtische Komponente enthalte und dem Folterer (wie auch den Zuschauern) die Tatsache der Verfügungsmacht über den Körper der Gefolterten in einer demonstratio ad oculos vorführe (so z.B. Britt-Arredondo 2007). Folterungen gehören dem Spektakulären zu, würde das heißen, auch wenn sie gerade auf Grund ihrer latenten Öffentlichkeit in die Wirklichkeit selbst zurückwirken (indem sie z.B. Machtregime durch die Angst möglicher Gefolterter stabilisieren).

Rituale wie Folterungen sind soziale Inszenierungen, die die symbolische Ordnung in performativer Form in Kraft setzen, die den einzelnen im sozialen Gesamt lokalisieren, Identitätsübergänge manifest machen und ähnliches. Die mehrfach erkennbaren Bezüge zu den kirchlichen Ritualen in Salò machen auch deutlich, welche Ordnungsfunktionen ursprünglich mit ihnen verbunden sind. Verwiesen sei auf die U-Sitzordnung, die bei den gemeinsamen Mahlzeiten eingenommen wird und die an die Konventionen größerer Familienfeiern gemahnt. Besonders auffallend ist eine Travestie der Hochzeit, vom Bischof durchgeführt (der sich schließlich auch selbst traut): Die drei Herrschenden treten hintereinander in Frauenkleidern vor den Priester, lassen sich mit jungen Männern zum Bund der Ehe trauen. Salò transformiert die angestammten Rituale in Parodien ihrer selbst, setzt sie damit außer Kraft. Aber der Film setzt neue Ordnungen und rituelle Vollzüge in Gang, ersetzt am Ende nur den einen Apparat symbolischer Kontrolle und Initiation durch einen anderen.

Rituale bedürfen der gesellschaftlichen Institutionalisierung, die eine Bedingung des Machtanspruchs ist, der ihnen zukommt, die zugleich den einzelnen vor einem größeren symbolischen Apparat lokalisiert und ihn zugleich im Horizont von Norm und Normalität bestimmt. Rituale sind dabei immer auch Inszenierungen, Aufführungen der sozialen Ordnung und ihrer tieferen (religiösen, moralischen, politischen) Bestimmungen. Auch das Geschehen in Salò ist fast immer durch einen Zeremonienmeister kontrolliert – gerade dieses unterstreicht die theatralische Qualität, die Inszeniertheit und Künstlichkeit dessen, dem wir zusehen, auch wenn die angestammten Rituale zu Travestien ihrer selbst werden. Auch in dieser pervertierten Form sind Rituale Aufführungen vor Publikum, bedürfen der Öffentlichkeit; in Salò sind es die anderen des Zirkels, wobei die Sklaven nur noch Objekte der Vollzüge sind, deren inneren Sinn sie nicht erfassen (können), weil sie nur äußerlich über das exzesshaft-ästhetische Unterfangen informiert sind, das vollzogen werden soll.[7]

Man mag die Theatralität des Rituellen auch in Verbindung bringen mit Bestimmungen des Ästhetischen und der Rolle des Künstlers in der Hervorbringung und Stabilisierung von Ordnungen, die allzu oft ihren repressiven Charakter erweisen. Reflexive Verweise dieser Art finden sich an vielfacher Stelle:

  • etwa in der Erzählerin, die ihr Erzählen deutlich inszeniert, spannungserzeugende Pausen einlegt, immer wieder darauf achtet, wie ihre Zuhörer reagieren;
  • ihr Auftritt ist der Auftritt des Showmasters, einschließlich des Betretens des Bühnenraums über die Auftrittstreppe, die hinter der der Kamera gegenüberliegenden doppelflügeligen Tür sichtbar ist;
  • die Klavierspielerin, die so oft das Geschehen kommentarlos mit Musikstücken begleitete, die dem Kanon bürgerlicher Hausmusik angehören (u.a. Stücke von Chopin), tritt auf in den Rollenschemata des Begleitmusikers; nie hatte sie interveniert, und doch begeht sei am Ende, als die Folterungen einsetzen, Selbstmord; auch ihr Sprung über die Brüstung erfolgt übrigens ohne Ankündigung, ohne emotionale Aufgeregtheit, sachlich, plötzlich, entschlossen;
  • plötzliche und unangekündigte Tanzeinlagen, die die Gespanntheit von Situationen lösen, die dabei inszeniert sind wie Einlagen im Musical oder in der Burlesk-Show (etwa durch die Klavierspielerin oder vor allem durch drei der Folterer-Herren, die in Frauenkostümen kurz vor dem Schluss eine gemeinsame Tanzeinlage absolvieren).

Gerade der Schluss zentriert das Moment des Theatralischen noch einmal in extremer Form: Im Hof der Villa finden die Folterungen der jugendlichen Sklaven statt. Durch ein Fenster betrachten zwei der Herren das Geschehen mit dem Opernglas: Die Blickordnung des Theaters wird bis in die Hilfsmittel des Zuschauens installiert.[8]

Modalität des Textes, Felder der Allusivität und Postmodernismus

Es bedarf genaueren Hinsehens, um den eigenen ästhetischen Diskurs aufzuspüren, den der Film auch entfaltet. Das ist zum einen die Doppelung der Szenenfolge in die Erzählung der Frau Vaccari, die dem Zuschauer ebenso wie den Figuren der Handlung den Modus des Zuhörens und der imaginierenden Vergegenwärtigung des Erzählten abverlangt, und der ihr folgenden Realisierung der erzählten Praxis der sozial-sexuellen Begegnung am Ort des Geschehens. Erzählung und reale Szene hängen thematisch miteinander zusammen; modal und semiotisch-referentiell aber stehen sie einander manchmal strikt entgegen. Die Differenz betrifft den Zuschauer, seine Position gegenüber dem, was er sieht oder hört, und seinen Befangenheiten, die ihn darin bestimmen, wie er mit dem Gesehenen umgehen kann und darf. Das, was in der literarisch-frivolen Erzählung lustvoll rezipiert werden konnte, weckt vielleicht in der Realisierung Reaktionen der Abwehr, als stoße man an ein tiefes und weitgehend vorbewusstes Bilder- oder Darstellungsverbot hinein. Das Erzählte wird gerade durch die Selbstinszenierung der Erzählerin, ihr Heischen nach Aufmerksamkeit als Fingiertes ausgewiesen, auf referentielle Distanz gesetzt; die Tatsächlichkeit des realen Geschehens steht dem entgegen.

Das mehrfach wiederholte Doppel von mündlicher Erzählung und szenischem Handeln verweist natürlich auf das in beiden Formen nötige Element des Inszenierens (als Strategie des mündlichen Erzählens und der szenischen Darstellung). Die aus Wiederholung und Reproduktion gewonnene Struktur verleiht dem Film zugleich eine Zeitordnung und eine – ermüdende – Vorstellung der Wiederkehr des gleichen, eine zyklische Rhythmik, die nur durch die Extremifizierung der Eroberung des Körpers der Unterworfenen zu einem Ende geführt werden kann. Die Bewegung ähnelt der „Bewegung in Kreisen“, in denen Dante in seiner Divina commedia das Inferno durchwandert, die sich scharf von der Einkerkerung unterscheidet, in der sich die de-Sadesche Erzählung entfaltet, und die auch nicht kompatibel ist mit einem progressiven Durchgang zu einem Zustand außerhalb der Zeit (sei es der Tod oder das Paradies). Auch für den Zuschauer ähnelt der Durchgang durch die Phasen der Rezeption einer Kreisbewegung, die den Widerspruch zwischen literarischer Erzählung und der Realistik der filmischen Darstellung (sowie die schwankende Bewegung zwischen den Modalitäten der Rezeption) immer weiter vorantreibt.

Doch es geht auch um eine zweite Strategie, die die Bedeutung der Erzählung eng mit dem Wissen von Zuschauern verbündet. Vor allem die Musik verdient eigene Aufmerksamkeit. Ennio Morricone, der nur wenige eigene Phrasen beisteuerte, kompilierte Musiken ganz unterschiedlicher Herkunft, jeweils aber mit eigenen Bedeutungsimpulsen aufgeladen: Anfang und Ende sind durch den Foxtrott Son tanto triste aus den 1940ern gerahmt; die bourgeois anmutende Salonmusik stammt meist von Chopin; Puccinis Inno a Roma, das er ausgehend von einem Gedicht Horaz‘ 1919 komponierte, wurde in den 1930ern zu einer der beliebtesten Hymnen der italienischen Faschisten. In dieser semantischen Affinität zu historischen Bedeutungen ähneln die Musiken den gelegentlich hingeworfenen Dichter- und Philosophennamen (wie Ezra Pound, der zahlreiche faschistische Fans hatte). Und auch die zahlreichen Bilder zeitgenössischer Kunst, die an den Wänden der Villa hängen, deuten auf die komplizierten Beziehungen hin, die vor allem den Futurismus und den italienischen Kubismus mit dem Faschismus verbunden haben. Auf mehreren Ebenen schichtet der Film so ein Feld der Anspielungen auf, das die Einheit der Erzählung zwar zertrümmert, sie dafür aber in einen Rahmen ästhetischer Auseinandersetzungen und Vorlieben stellt, die immer auch mit Politischem verbunden sind. Gerade darin reiht sich Salò in die poetologischen Überlegungen der Postmoderne ein – ohne jemals selbst ein postmodernes Kunstwerk zu sein oder es auch nur zu wollen: Dafür fehlt ihm jede Ironie, und dafür ist das Anliegen, eine Allegorie auf die Unterdrückung des Subjekts im späten Kapitalismus zu formulieren, in allen einzelnen Schritten allzu dominierend.

Literatur
  • Bachmann, Gideon (1976) Pasolini and the Marquis de Sade. In: Sight & Sound 45,1, S. 50-54.
  • Baudrillard, Jean (1990) Seduction. [Transl. by Brian Singer.] New York: St. Martin’s Press.
  • Britt-Arredondo, Christopher (2007 Totalitarian lust: From Salò to Abu Ghraib. In: South Central Review 24,1, S. 174-182.
  • Hake, Sabine (2010) Art and exploitation: On the fascist imaginary in 1970s Italian cinema. In: Studies in European Cinema 7,1, Sept. 2010, S. 11-19.
  • Kniep, Jürgen (2010) „Keine Jugendfreigabe!“. Filmzensur in Westdeutschland 1949–1990. Göttingen: Wallstein (Moderne Zeit 21).
  • Kuon, Peter (1993) Lo mio maestro e'l mio autore. Die produktive Rezeption der Divina Commedia in der Erzählliteratur der Moderne. Frankfurt: Klostermann.
  • Jahraus, Oliver (2009) Salo oder die 120 Tage von Sodom. Pasolinis radikaler Abgesang auf eine sadofaschistische Kultur. In: Medienobservationen, [2009], URL:  http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/kino/kino_pdf/jahraus_salo.pdf.
  • Pasolini, Pier Paolo (1981) Abiura dalla trilogia della vita. In seinem: Lettere luterane. Torino: Einaudi. -- Zuerst 1976. -- Dt.: Lutherbriefe. Wien/Berlin: Medusa 1983. Neuausg.: Wien/Bozen: Folio 1996.
  • Stiglegger, Marcus (1999) Sadiconazista: Faschismus und Sexualität im Film. St. Augustin: Gardez! Verlag (Filmstudien. 10.).
  • Vogel, Amos (1997) Film als subversive Kunst. Andrä-Wörden: Hannibal.
  • Volk, Stefan (2011) Salò oder Die 120 Tage von Sodom (1975). In seinem: Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute. [Unter Mitarbeit von Barbara Scherschlicht.] Marburg: Schüren, S.. 190-198.
Filmographische Angabe:

Salò o le 120 giornate di Sodoma

Die 120 Tage von Sodom

Italien 1975

Pier Paolo Pasolini

B: Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti

P: Alberto Grimaldi für PEA (Rom)/Les Productions Artistes Associés (Paris)

M (= musical coordinator): Ennio Morricone, unter Verwendung von:

Frédéric Chopin: Prélude in c-moll; Prélude in e-moll

Carl Orff: Carmina Burana

Alfredo Bracchi (Text), Franco Ansaldo (Musik): Son tanto triste

Johann Sebastian Bach: Pastorale in F-Dur, BWV 590

Giacomo Puccini: Inno a Roma (1919)

K: Tonino Delli Colli

S: Nino Baragli, Tatiana Casini Morigi, Enzo Ocone

D: Die Herrschenden: Paolo Bonacelli (Fürst Blangis), Giorgio Cataldi (Bischof), Umberto Paolo Quintavalle (Seine Exzellenz Curval, Präsident des Berufungsgerichts), Aldo Valletti (Präsident Durcet)

Die Prostituierten: Hélène Surgère (Frau Vaccari) [= die Erzählerin], Caterina Boratto (Frau Castelli), Elsa de'Giorgi (Frau Maggi), Sonia Saviange (Klavierspielerin, Virtuosin)

Die männlichen Opfer: Sergio Fascetti, Bruno Musso, Antonio Orlando, Claudio Cichetti, Franco Merli, Umberto Chessari, Lamberto Book, Gaspare di Jenno

Die weiblichen Opfer: Giuliana Melis, Faridah Malik, Graziella Aniceto, Renata Moar, Dorit Henke, Antinisca Nemour, Benedetta Gaetani, Olga Andreis

Die Töchter: Tatiana Mogilansky, Susanna Radaelli, Giulana Alandi, Liana Acquaviva

Die Soldaten: Rinaldo Missaglia, Giuseppe Patruno, Guido Galetti, Efisio Etzi

Die Dienerinnen: Paola Pieraci, Carla Terlizzi, Anna Maria Dossena, Anna Recchimuzzi, Ines Pellegrini

113min, Farbe; FSK: ungeprüft indiziert. SPIO/JK: schwere Jugendgefährdung.

Anmerkungen

[1]    So heißt es lakonisch in Amos Vogels Film als subversive Kunst: „Obwohl Sex angeblich nur als ein Ausdruck von Macht angesehen wird, bleibt doch die Gleichsetzung von Faschismus mit ‚perversem Sex‘ letztlich fragwürdig und politisch erfolglos“ (1997, 257). Zur Koppelung von Faschismus und pervertierter Sexualität in der neueren Faschismus-Darstellung vgl. neben Stiglegger (1999) auch Hake (2010). Pasolini selbst hatte durchaus für sich reklamiert, den späten Mussolini-Faschismus darzustellen; vgl. dazu Lauer 2002, 2.

[2]    In einer ganzen Reihe von Ländern (darunter Länder wie Australien, wo 1976 ein Verbot ausgesprochen, 1993 aufgehoben und 1998 erneuert wurde) wurde Salò indiziert, verboten und zum Teil nur in massiv gekürzten Fassungen auf den Markt gelassen. In der BRD hatte die FSK den Film zunächst mit sechs Schnittauflagen im November 1975 freigegeben; kurz danach beantragte aber die Staatsanwaltschaft Saarbrücken die bundesweite Beschlagnahme des Films. Die zustimmende Entscheidung des Amtsgerichtes und deren Aufhebung durch das dortige Landgericht hatte jeweils bundesweite Folgen. Insgesamt 14 Amtsgerichte beschlagnahmten lokal den Film, gaben ihn später zum Teil aber wieder frei (Kniep 2010, 252); erst 1978 entschied der Bundesgerichtshof, dass der Film freigegeben werden müsse. Es ging in der Auseinandersetzung nicht mehr allein darum, ob der Film sich auf die Freiheit der Kunst (GG, §5) berufen könne oder ob er gegen das Pornografie- und Gewaltverbot des StGB verstoße, sondern vielmehr um eine viel grundsätzlichere Auseinandersetzung um die Grenzen des geschmacklich, pädagogisch und kulturelle Zumutbaren. Die Diskussion rührte an die Grundlagen der Meinungsfreiheit und der Selbstbestimmung des Rezipienten. Der FAZ-Feuilletonchef Karl Korn warf der FSK in seinem Artikel „Die Grenzen des Darstellbaren“ Untätigkeit vor (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.2.1976). Der 78-jährige Leiter der FSK Ernst Krüger verwahrte sich gegen diesen Vorwurf (Leserbrief am 10.2.1976), nahm die Grundsätzlichkeit der Debatte aber zurück: Nicht nur hinsichtlich der Altersfreigabe, sondern auch „für die öffentliche Vorführung von Filmen von Erwachsenen sind in vielen Fällen Schnitte, oftmals sehr erheblichen Ausmaßes, obligatorische Voraussetzung.“ Diejenige Zensur oder Prüfeinrichtung sei „die beste, die und deren Einwirkung man nicht bemerke“ (Kniep 2010, 271).

[3]    Das Statische und Unanimierte des Schauspiels ist offenbar sehr bewusst als schauspielerische Vorgabe an die Akteure – vor allem an die Jugendlichen – weitergegeben worden. Mehrfach ist berichtet worden, dass die Dreharbeiten sehr lustig gewesen seien; von dieser Atmosphäre ist im Film nichts erhalten geblieben. Es wurde mit bis zu vier Kameras gearbeitet (vor allem während der großen Gruppenszenen und der finalen Folterungen); auch hier fällt auf, dass das Konzept eines unterkühlten Spiels konsequent durchgehalten wurde. Gedreht wurde übrigens in Mantua in der Lombardei.

[4]    Erinnert sei an den Skandal, den Photos auslösten, die amerikanische Soldaten zeigen, die die Leichen afghanischer Gefallener anpinkeln; vgl. etwa Janek Schmidt: Hohn und Urin (Süddeutsche Zeitung, 12.1.2012).

[5]    Eine Anekdote, die vielfach berichtet worden ist, mag ex negativo für die Schockwirkung des Kot-Essens stehen, die die Szenen bei vielen Zuschauern ausgelöst hat: Es wird versichert, Pasolini habe die Exkremente aus einer Mischung von Schokoladenpudding und Himbeermarmelade herstellen lassen.

[6]    Vgl. aber einen Hinweis von Pasolini in einem Interview mit Gideon Bachman, der in diese Richtung weist (Bachmann 1976, 53).

[7]    Gerade diesen Aspekt stellt Baudrillard ins Zentrum seiner Interpretation des Films. Seiner These folgend ist Salò eine Darstellung ubiquitär verfügbarer Sexualität, die zeigt, dass das gewaltsame Ausagieren von Sex gebunden ist an groteske Maskerade, die die sexuelle Interaktion mit einem ästhetischen Moment des Verkleidens und Inszenierens überlagere – weil die sexuelle Lust in einer solchen Konstellation nurmehr als technisches Produkt eines Maschine-Werdens des Körpers möglich sei (Baudrillard 1990, 27). Das Pornographische finde nur noch in einer Arena (also auf einer Bühne) statt, und man möchte fortfahren: sie sei darum an den Zuschauer (oder das Betrachtetwerden) gebunden.

[8]    Ob man wie Jahraus (2009, 10f) die Folterungen nun allerdings mit dem „bürgerlichen Schauspiel“ in Verbindung bringen kann, ist ebenso als Überinterpretation in Frage zu stellen wie seine These, dass aus der Tatsache, dass einer der Herren das Opernglas umdreht und so das Geschehen aus großer Entfernung besichtigen kann, eine „Metapher des audiovisuellen Mediums“ und der „mögliche[n] distanzierende[n] Wirkung des Mediums“ gewonnen werden könne.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/88/kphjw01.htm
© Konrad Paul / Hans J. Wulff, 2014