Paradigmen theologischen Denkens


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Lebenskunst, Gretchenfrage und ewiger Tee

Bemerkungen zu Rüdiger Safranskis Goethe-Biographie

Wolfgang Vögele

Safranski, Rüdiger (2013): Goethe - Kunstwerk des Lebens. Biographie. München: Hanser, Carl.

Lebenskunst und Biographie

Die Frage nach der Lebenskunst[1] hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine gewisse Aufmerksamkeit in der Theologie und Philosophie gefunden. Die antike Frage nach dem guten Leben des Menschen wurde neu gestellt, modernen Lebensbedingungen angepasst und dann auf unterschiedliche Weise von Tugendethikern und Psychologen entfaltet. In ihrer trivialen Form führte das zu den Bestsellern der Ratgeberliteratur, die aber hier nicht betrachtet werden sollen. Es ist eine banale Erkenntnis, dass ein Leben mit Ratschlägen auf Flipcharts allein nicht bewältigt werden kann.

In ihrer anspruchsvollen Form formierte sich die Lebenskunst als Tugendethik, als Freiheits- oder Entscheidungslehre, die den Bedingungen, Voraussetzungen und Konsequenzen von Lebensführung und Selbstsorge nachspürte und in systematischer Form entwickelte. Das kann in Gestalt argumentierender Reflexion geschehen, aber hier stehen auch andere Möglichkeiten des Nachdenkens über eine Lebensgeschichte offen, zum Beispiel die Biographie oder Autobiographie. In der trivialen Gestalt des Autobiographischen herrschen Eigenlob und die Überbewertung der eigenen Person vor. Die triviale Gestalt des Biographischen kulminiert in Heroisierung und Mythisierung.

Eine reflektierte Kunst des Biographischen stellt andere Fragen: Welche Lebensziele verfolgte eine Person? Wie dachte sie über Tun und Lassen, über Freiheit und Verantwortung, über eigene Lebensgestaltung und zufallendes Schicksal? Welche Habitusformen bildete sie aus? Und wie ging sie  mit den Milieus um, aus denen sie kam und in die hinein es sie verschlug? Solche biographische Reflexion von Lebenskunst ist in der Regel an die Person gebunden, die dargestellt wird. Was für sie galt, muss nicht unbedingt für alle gelten. Was damals galt, muss nicht unbedingt heute gelten. Biographie ist an Zeit- und Lebensumstände gebunden, der Biograph muss also einen historischen Graben überspringen, wenn er nach der gegenwärtigen Bedeutung solcher Lebenskunst fragt.

Aber solche Lebenskunst ist auch ein Stück vom rein Biographischen abzulösen. Denn es könnte sein, dass sich aus dem Exemplarischen eines Lebens Dauerhaftes und Nachdenkenswertes für später lebende Menschen entnehmen lässt, zumal wenn es sich um einen herausragenden Schriftsteller handelt, dessen Werke in Gesamtausgaben und Interneteditionen leicht verfügbar sind. Und es kommt hinzu: Der Biograph muss selbstverständlich für solche ethischen und philosophischen Fragestellungen eine gewisse Sensibilität mitbringen.

Für Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) als biographische Person und Rüdiger Safranski als seinen Biographen trifft all das in besonderem Maße zu. Goethe reflektierte als Schriftsteller, Ästhetiker, hoher Verwaltungsbeamter und Impresario sein Leben, seine Werke, seine Erfolge und Niederlagen. Er interessierte sich für Fragen der Lebensgestaltung, der Ethik und Ästhetik sowie der Philosophie. Und Rüdiger Safranski als sein Biograph richtet auf solche Fragen sein Hauptaugenmerk. Daraus ergibt sich die schöne Gelegenheit zum Nachdenken über Lebenskunst anhand der Biographie Goethes.

Um es deswegen gleich am Anfang zu sagen: Safranski hat eine wunderbare Biografie[2] über den Dichterfürsten geschrieben. Er war darauf bestens vorbereitet, wie die Vorgängerbiographien über Schiller, Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger[3] beispielhaft gezeigt haben. Im Genre der Biographie hat es Safranski zu höchster Meisterschaft gebracht, und mit dem Goethebuch hat er sich selbst übertroffen. Seine große Kunst besteht darin, die wesentlichen Prägekräfte eines Lebens herauszuarbeiten und in ihren philosophischen, ästhetischen und politischen Ansprüchen zu durchdringen.

Safranski stellt Goethe eben nicht ausschließlich als Schriftsteller vor, sondern eher als ein Genie der literarischen und freundschaftlichen Kommunikation, das gleichermaßen auf den Gebieten des Persönlichen, des Ästhetischen, der Naturwissenschaft und der politischen Verwaltung zu reüssieren vermag. Distichen und Gedichte, Dramen und Prosatexte fließen ihm nur so aus der Feder. Manchmal fällt ihm die poetische Anstrengung gar zu leicht. Zu Zeiten leidet er in Weimar darunter, mit zu vielen Verwaltungsakten befasst zu sein, die ihn von Literatur und Freundschaft ablenken. Deswegen erkämpft er sich beim Herzog mühsam Freiräume, die er für Reisen, Gespräche, Freundschaften und literarische Arbeit nutzt. Gedichte sind ihm die kleine, täglich zur Verfügung stehende Gattung, mit der er sich über die Bürden des Alltags hinwegsetzt.

Lebensgeschichte, Lebensgestaltung, Lebensschicksal

Safranski zeichnet ein Leben nach, das sich in seinen ersten Jahrzehnten nach Familie, Schule, Studium und lange fehlendem akademischem Abschluss in mehreren Sackgassen zu verlieren droht. Dann kommt der Ruf nach Weimar und folgend Goethes glückliche Entscheidung, dort länger zu bleiben. Die langjährigen Beziehungen zum Herzog und zu Frau von Stein, der fürsorglichen Beraterin, tun ein Übriges. Später entsteht die produktive Künstlerfreundschaft mit Schiller, obwohl diese am Anfang nur zögerlich an Intensität gewinnt.

Goethes Familie bleibt merkwürdig im Hintergrund. Seine Schwester ist ihm in Briefen eine gute Beraterin, bis sie - nach des Bruders Ansicht – den falschen Mann heiratet. Danach meidet der Bruder sie, er schreibt weniger Briefe, bis sie nach der Geburt des zweiten Kindes stirbt. Goethe selbst heiratet erst in späteren Jahren. Aus der Ehe geht ein Sohn hervor, dem er später nicht besonders zugetan ist. Um ein Haar beginnt er eine Affäre mit seiner zukünftigen Schwiegertochter. Und diese heiratet den Sohn nur deshalb, damit sie in der Nähe des verehrten Vaters bleiben kann. Man ist sich manchmal nicht sicher, wie er neben all den Intrigen, Affären, Streitereien und Liebeleien noch zum Schreiben kommt.

Trotzdem bleibt er stets vom Lebensglück begleitet, er hält sich an den richtigen Orten auf, lernt die richtigen Personen kennen und knüpft Freundschaften mit Menschen, die ihn philosophisch und persönlich bereichern. Safranski stellt Goethes Lebensgeschichte vor als eine gelungene Mischung aus überragender Begabung und Lebensglück, das von außen auf ihn zukommt.

Lebenskunst ist darum von vornherein nicht die Gestaltung eigenen Lebens, sondern stets das Zusammenspiel von individueller Gestaltung nach Plan, Voraussicht und zweckdienlichem Handeln auf der einen  sowie den Umständen der Zeit, dessen, was man gemeinhin als Fügung, Schicksal, Geschick bezeichnet, auf der anderen Seite. Der Biograph baut in seine Darstellung von Goethes Lebensgeschichte aus Interesse an diesen Fragen mindestens drei Themen ein, denen er sich intensiv stellt und für die er Antworten gibt, die die theologische und ethische Diskussion lohnen. Zum ersten ist das die Frage nach der Lebenskunst Goethes, nach seiner Alltagsethik. Goethe selbst - und Safranski folgt ihm darin – versteht sein eigenes Leben als exemplarisch und wegweisend. Es lässt sich nicht nur als Lebensgeschichte, sondern auch als Theorie der Lebenskunst entfalten, samt einiger wichtiger darin verborgener Fragen wie der nach dem Verhältnis von Lebensgeschichte und Kunst oder von Individualität und Zeitbezogenheit. Die zweite Frage ist diejenige, die Goethe selbst als Gretchenfrage gestellt hat: Wie hält es der Erfinder von Faust und Gretchen mit der Religion? Und die dritte Frage stellt sich als Frage nach dem die Lebenskunst betreffenden Unterschied zwischen den Lebensbedingungen Goethes und denen der Moderne.

Lebenskunst – Kunst und Leben

Die Frage der Lebenskunst muss nicht von außen an Safranskis Buch herangetragen werden. Der Autor gebraucht den Begriff selbst (16)[4], weil er für Goethe zu einem wichtigen Prinzip geworden ist, das von Anfang an auf das Verhältnis von Kunst und Leben zielt. Und der erste Grundsatz dieser philosophischen Lebenskunst Goethes lautet: Form oder Gestalt (17). Er will dem Leben wie dem Kunstwerk eine bestimmte Gestalt geben. Dem Unbestimmten, Zerfließenden, Chaotischen ist er abgeneigt. Genau deswegen schreibt er nicht über das unfassbare Böse, sondern gießt dieses in eine teuflische Bühnenfigur: Mephisto. Jene Ablehnung des Formlosen führt ihn im Übrigen dazu, Kritiker und Kritiken zeitlebens souverän zu ignorieren. Dafür will er seine Zeit nicht verschwenden (17). Selbsterfahrung soll nicht durch die Boshaftigkeit anderer desavouiert werden.

Goethe will das Leben in eine ästhetische Form bringen, ohne den Unterschied zwischen beidem aufzuheben. Er sieht es als eine Aufgabe an, den „gemeinen Gegenständen eine poetische Seite abzugewinnen“ (37).  Gedichte, Maximen, Theaterstücke und Romane verwandeln die Wirklichkeit, machen etwas Neues aus ihr - nicht im Sinne von Schönfärberei. Vielmehr geben sie beidem, dem Heiteren wie dem Bösen, aber auch dem Ambivalenten, eine bestimmte Gestalt. Und diese erst macht das Ambivalente sichtbar. Erst wenn das Unbestimmte in ein Konkretes, in ein Format umgewandelt ist, kann der Dichter (oder der Leser) darüber nachdenken und entsprechende Konsequenzen für sein Handeln ziehen.

Goethe kann genau das noch unbefangen tun. Seine Welt ist - trotz Revolution, Napoleons Feldzügen und deutscher Kleinstaaterei -  noch so übersichtlich, dass er nicht damit überfordert ist, eine Überfülle von politischen, künstlerischen und privaten Verhältnissen in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Liebe und Liebeleien, Freundschaften und wissenschaftliche Interessen – alles nimmt Goethe wahr, er engagiert sich dafür und gibt ihm Gestalt, in Briefen, Gedichten, Theaterstücken, wissenschaftlichen Monographien und anderem. Das nachträgliche Schreiben vertieft die Lebenserfahrung und verlängert sie so, dass Goethe - und seine Leser - ihr zusätzliche Dimensionen abgewinnen können. Das Schreiben ist für Goethe Vertiefung von Lebenserfahrung und darüber hinaus Steigerung von Lebensintensität, Potenzierung von Leben. Ja, Goethe sieht seine literarischen Versuche als verdichtetes, verstandenes, gestaltetes Leben. Das Aufschreiben gibt einer Erfahrung oder einem Erlebnis zusätzliche Farben, Tönungen, Stimmungen, Atmosphären. Goethe schreibt: „Die Einbildungskraft gefällt sich in dem geheimnisvollen weiten Feld der Bilder herumzuschweifen, und da Ausdrücke zu suchen, wenn Wahrheit den nächsten Weg nicht gehen darf.“ (51) Im Schreiben begibt sich Goethe auf einen Weg der eigenen Lebensdeutung und schafft sich so eine Möglichkeit, eigene und fremde Lebenserfahrung zu verarbeiten.

Wohlgemerkt: Goethes Ziel war es nicht, die Wirklichkeit auszuschmücken oder schön zu malen. Das  wäre nur Kunsthandwerk, sein Ziel war es, das Wirkliche zu steigern, zu intensivieren. Genau darin besteht der Kern von Goethes Schreiblust, die offenbar nie in seinem Leben richtig nachgelassen hat. Daraus entsteht über die Jahrzehnte ein vielgestaltiges, auch widersprüchliches Werk, das Lebenserfahrung aufnimmt, verarbeitet und widerspiegelt. Seine Lebenskunst besteht darin, aus dem Leben Kunst zu machen.

Beides, Kunst und Leben, sind bei ihm auf das Engste miteinander verknüpft. Kunst ahmt dieses Leben nicht nur nach, sondern sie wird für Goethe zur schöpferischen Kraft. Sie steigert das Leben und imitiert es nicht nur. Die Kunst entspringt für Goethe „aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten“ (130). Sie ist darum ein Bereich eigenen Rechts, der sich vor der Wirklichkeit des „Ganzen“ nicht rechtfertigen muss. Die Kunst hat eine lebensrettende oder, wenn das zu pathetisch ist, lebenserhaltende Funktion.  Sie ist Ausdruck von Individualität. 

Goethe geht solche vor allem literarische Kunst leicht von der Hand, und das erregt die Bewunderung, aber auch den Neid von anderen. Seine Bewunderer sehen ihn als einen Propheten, aber gegen diese Rolle wehrt er sich immer wieder, weil das den Übertritt ins Religiöse bedeutet hätte. Er will kein Evangelium verkündigen, sondern folgt einer ästhetischen Philosophie, ohne nach Proselyten zu suchen. Ihm geht es um eine Poesie,  die den Kontakt mit dem Alltagsgeschehen nicht vollständig verloren hat. Und Safranski hält diese Poesie Goethes für „Prophetentum in homöopathischer Dosierung“ (148). Die Kunst tritt so an die Stelle der Religion, aber der siebte Himmel des Überirdischen bleibt ihm unerreichbar. Darum ist Goethe weder Atheist noch Ungläubiger, seine Religion zeichnet sich wesentlich durch eine Verschiebung vom Feld der (externen, nicht-subjektiven) Offenbarung auf das Feld der Ästhetik aus. Davon gleich noch mehr.

Goethes erwähntem langwährendem Lebensglück stehen Phasen vollständigen Lebensüberdrusses gegenüber. Er weiß ganz genau, dass niemand in seinem Leben Schwierigkeiten und Leiden vermeiden kann. Aber wer damit konfrontiert ist, wird Wege finden, um sein seelisches Gleichgewicht wieder zu erlangen. Am gefährlichsten ist der Lebensekel, der dieses Gleichgewicht stört. Dieser entsteht aber nicht aus Erfahrungen des Leidens oder der Krankheit, er entsteht aus der Langeweile, genauer, aus der Erfahrung, gar keine Erfahrungen zu machen. Goethe spricht vom taedium vitae. Das versteht er nicht als Leiden an einer unzulänglichen Welt, die durch Abgründe gekennzeichnet ist, sondern als individuelle Disposition. An ihr kann ein Mensch (wie der Werther seines Romans) scheitern, er kann aber auch geheilt werden, je mehr aus dem Loch der Langweile herausfindet und mit der Welt wieder in Kontakt kommt. Die positive Bewertung der Welt (und der Welterfahrung) wird bei Goethe stets vorausgesetzt.

In sie kann sich der einzelne einspuren, indem er sich an die gewohnte und verlässliche Wiederkehr des Alltäglichen hält (156). Menschen brauchen regelmäßige Gewohnheiten, um sich ihrer positiven Welteinstellung zu versichern. Wer in sich selbst versinkt, muss aus seiner Misere herauskommen und Anhalt suchen in der äußeren Wirklichkeit, in Beziehungen, Gesprächen, Gewohnheiten, Gepflogenheiten und Ritualen. Teilnehmen wird für Goethe zum „Schlüsselbegriff seiner Selbsttherapie“ (157). Hier ist der Punkt erreicht, an dem Goethe den entscheidenden Schritt hin zu einer kreativen und ästhetischen Lebenskunst geht. Lebenskunst ist nicht nur Selbstbildung, sondern auch Welterfahrung und genauso Weltgestaltung. Wahrnehmung ist nicht nur durch die Objektivität des Anderen bestimmt, sondern vor allem auch durch die „Einbildungskraft“ (157) des Menschen, sein Gemüt.

Das kranke Gemüt verzerrt die Weltwahrnehmung und bringt die erlangte positive Welteinstellung zum Kippen. Grübelei kann solches taedium vitae nicht kurieren, sie ist vielmehr Ausdruck der Langeweile. Goethes Therapie stellt Versprachlichung, Gestaltwerdung und Formulierung in den Mittelpunkt. In Safranskis Goethe-Interpretation: „Wer er ist, wird er (der Mensch wv) immer erst wissen können, wenn er es gesagt hat. Oder geschrieben.“ (160) Die Literatur ist darum für Goethe kein ästhetischer Selbstzweck, mit ihr verfolgt er ein Programm der Lebenskunst: Welterfahrung in ihrer Objektivität und „Einbildungskraft“ in ihrer Subjektivität stehen einander gegenüber, vermischen sich aber auch ineinander, was gelegentlich zu Problemen führen kann, auch in Goethes Leben, etwa wenn er für die Damen seines Herzens Liebe fühlt, dort aber keine Liebe wiederfindet, sondern nur Wertschätzung oder gar Ablehnung.

Was Goethe von anderen unterscheidet, ist seine Fähigkeit, von allen Enttäuschungen und Frustrationen stets wieder auf den Königsweg der Lebenskunst zurückzufinden. Oder, in den Worten Safranskis: „Begabte Leute treffen ins Schwarze, auch wenn sie nicht zielen.“ (190) Das ist eine Formulierung, die Lebensglück und Lebensbegabung miteinander vereint. Enttäuschung führt nicht in Vereinsamung, sondern zum Neuanfang. Wenn Goethe mit seiner Arbeit ins Stocken kommt, fängt er etwas anderes, Neues an, Safranski bezeichnet ihn als einen „notorische[n] Anfänger“ (191).

Allerdings: Die Kunstwerke der Poesie und der Literatur gelingen ihm manchmal leichter als das Kunstwerk des Lebens (216). Beides muss sorgfältig auseinandergehalten werden. Denn es gibt auch den Eskapismus, die keineswegs lebensdienliche Flucht vor Leben und Alltag in die Literatur. Genau dieses kritisiert Goethe an den Romantikern. Ihre Gedichte und Lieder findet er zu schwärmerisch – und eben nicht lebensdienlich, sondern eher suizidgefährdend. Auf dieses Wechselspiel zwischen Leben und Literatur bzw. Kunst aber kommt es an. Beide bedingen und ergänzen sich. Leben ist dadurch gekennzeichnet, dass Selbst und Welt in ein fruchtbares, produktives Spannungsverhältnis kommen. In beidem ist Scheitern möglich: „Im Spannungsverhältnis von Selbst und Welt ist ein doppeltes Misslingen möglich. Versteifung, Verhärtung, Verengung einerseits - Auflösung andererseits; blinder Egoismus hier - 'Verzettelung' dort.“ (261) Es geht um eine Balance zwischen Welt und Selbst. Je älter Goethe wird, desto mehr ist für ihn innerhalb dieser Balance auch zwischen Kunst und Weltgestaltung (Politik) zu unterscheiden. Sein Leben braucht die Kunst, aber es geht nicht in ihr auf. Er muss sich nicht eskapistisch in die Kunst flüchten. Denn er hat auch im politischen Leben Erfolg, wird zum Geheimen Rat ernannt und später in den Adelsstand erhoben. Dabei kann Goethe jedoch seine bürgerliche Herkunft nicht verleugnen.

Erstaunlicherweise entdeckt Safranski bei Goethe eine Reihe von spitzen Bemerkungen, die dem Verhältnis von Adligen und Bürgern gelten. Adligen ist ein bestimmter Habitus eingeprägt, sie pflegen eine solche Haltung von Geburt an, ahmen sie durch das Beispiel der Eltern nach. Bürger müssen sich solch eine Haltung erst erarbeiten und bleiben ihr deshalb in der Regel fremd (370). Dieses spiegelt sich auch in Goethes alltäglichem Gebaren. Beobachter notieren häufiger sein sprödes und unsicheres Verhalten bei Hofe und in Gegenwart von Adligen. Dennoch, auch davor zieht sich Goethe nicht in die Kunst zurück, sondern er lässt dieses Defizit in den Wunsch münden, die eigene Lebenskunst noch zu verbessern und zu steigern (371). Goethe, der Salon- und Gesellschaftsmensch, achtet auf das Verborgene, auch im Gespräch mit anderen Menschen. Er muss nicht alles aussprechen. Wenn es nötig ist, kann er sich zurückhalten. Wer alles ausspricht, verletzt und stößt vor den Kopf.

In einer seiner Zwischenbetrachtungen spricht Safranski davon, dass Goethe zugleich den fliegenden poetischen Pegasus und den erdverhafteten, verkrümmten bürokratischen Amtsschimmel ritt. Das Leben kann sich nicht in Kunst auflösen, aber die Kunst bildet ein notwendiges Gegengewicht zum Leben. Beides, Leben wie Kunst, muss sorgfältig voneinander unterschieden und in „Reinheit“ – so Goethes Begriff - bewahrt werden. Safranski bringt das im Vergleich Goethes mit Schiller so auf den Punkt: Schiller will durch die Kunst die Menschheit retten, Goethe beschränkt sich auf die Rettung der Kunstfreunde (463), wobei er durchaus als genialischer Revolutionär gestartet war, aber sich dann mit vielen lebensdienlichen Kompromissen im Alltag einrichtet. Radikale Goethekritiker halten das für ein Versagen, seine Befürworter für Lebensklugheit und Weisheit.

Safranski gelingt es ganz großartig, solche Veränderungen in Goethes Selbstverständnis, in seiner Philosophie, Lebenskunst und Literaturauffassung herauszuarbeiten. Die Kunst wird für Goethe im Alter schließlich von der Weltrettungsarznei zum Garten des Schönen, der vom Leben getrennt werden muss. Das Individuum wird vom selbstverliebten Genie der Sturm-und-Drang-Zeit zum fragmentarischen Menschen, der der sozialen Ergänzung in Freundschaft und Gemeinschaft bedarf. Und Goethe erkennt immer mehr, dass das Individuum sich selbst ein Geheimnis bleiben muss, dass es die Selbsterkenntnis nicht zu weit treiben darf, wenn es nicht in den Abgrund der Unverständlichkeit stürzen will. Selbst der alte Goethe, der sich sehr mit seiner Biographie beschäftigt und gerne in seinen alten Tagebüchern, Briefen und Werken liest, gibt sich hier manchmal zurückhaltend. Das Individuum kann allein auf dem Weg der Selbsterkenntnis nicht erschlossen werden, es braucht die Spiegelung, das Gegenüber. Aus dem Miteinander von Welt- und Selbsterkenntnis erst verschafft sich das Individuum Einblick in die eigene Konstitution. Die Identität des Individuums speist sich aus Welterfahrung und Innenleben.

Gegen Ende seines Lebens beschäftigt Goethe sich mit Fragen nach dem Abschluss von Werk und Biographie, auch das Fragen der Lebenskunst. Und nochmals entdeckt er die untrennbare Mischung von Aktion (Handeln und Gestaltung) und Passion (Schicksal, Zeitgebundenheit, Zufall), die ein Leben bestimmt. Safranski schreibt: „Doch man bewegt sich nicht nur, man wird auch bewegt. Vieles hat auf ihn eingewirkt, er hat es aufgenommen, umgestaltet und darauf geantwortet. Anderes hat ihn unterschwellig beeinflusst. Er hatte keine Angst vor solcher Beeinflussung, weil er nicht Originalität um ihrer selbst willen anstrebte. Der schöpferische Akt war für ihn eine Verbindung des Individuellen mit dem Überindividuellen. Er sei, sagte er kurz vor seinem Tode zu Soret, ein Kollektivsingular mit Namen Goethe. Er empfand sich durchaus als eine Art Medium für den Geist der Zeit.“ (646)

Pantheismus – Monotheismus - Polytheismus

Was die Religion angeht, so zieht sich die Beschäftigung damit durch Goethes gesamtes Leben. Am christlichen Glauben stört ihn das Kreuz, über das er sich mehrfach ganz und gar negativ äußert hat. Trotzdem liest er in der Bibel, findet Vergnügen an den Geschichten des Alten Testaments und ihren, wie er das nennt, „Glaubenshelden“ (62). Diese Geschichten nimmt er als Literatur, in ihrem märchenhaften Charakter. Viel näher steht er der natürlichen Religion, verstanden als die Überzeugung, dass hinter der Natur ein unbestimmtes, schöpferisches Wesen existiert, das Vernunft und Erfahrungswissen wahrnehmen können. Eine Offenbarung benötigt diese natürliche Religion nicht.

Diese Affinität zur natürlichen Religion hindert Goethe aber nicht, als junger Mann Freundschaften in Pietismus und Erweckungsbewegung hinein zu pflegen, vor allem zu Lavater und Jung-Stilling. Aber diese Freundschaften, Gespräche und Briefe münden beim jungen Goethe nicht in ein Bekehrungserlebnis. Bei aller Sympathie lässt er auch Distanz walten, vor allem, weil er sich nicht vereinnahmen lassen will. Mehrfach in seinem Leben mäkelt er am Protestantismus herum, den er nur als Quelle einer „Art von trockener Moral“ (64.66) gelten lassen will. Goethe mag das Klerikale nicht, weder seine Moralprediger noch die Besserwisser. Ihm fehlt das „zerknirschte Sendungsbewusstsein“ (72), durch das er den Protestantismus charakterisiert sah.

An der Kirche interessiert ihn mehr das Feierliche und Liturgische als das Didaktische und Moralische (65), und genau diese Unterscheidung führt ihn in die Nähe der katholischen Kirche. Wenn das Göttliche sich in der Natur zeigt, dann ist es für Goethe die Kunst, die genau nach diesen göttlichen Spuren in der Natur sucht. Goethe benötigt keine Offenbarung, die von außen an ihn herangetragen wird. In seiner Kunst arbeitet er daran, das Göttliche in der Natur zu identifizieren. Er will das Leben feiern, und er schafft sich darin seine eigene, individuelle Religion, welche aus die „alltäglichen Verrichtungen“ in regelmäßige Rituale ummünzt (67).

Goethes Lebensbegriff lässt ihn im Übrigen nicht nur den moralisierenden Protestantismus, sondern auch den spröden Rationalismus kantischer Prägung ablehnen. Letzterer kann dem Leben immer nur nach-denkend folgen. Darum kommt er für Goethe stets zu spät (84). Gott ist für Goethe so etwas wie eine persönliche göttliche Kraft, ähnlich dem Daimonion des Sokrates: Sie führt ihn durchs Leben. Diese Überzeugung wird zu seiner „persönliche[n] Heilsgeschichte“ (276). Dort verbleibt seine Religion, sie geht nicht den Schritt weiter ins Öffentliche.  Dieser persönliche Glaube ist sich selbst nicht durchsichtig. Es bleibt dem eigenen Denken eine dunkle Zone, ein nicht einsehbarer Bereich und blinder Fleck, den sich das Bewusstsein nicht erschließen kann, genauso wie das Ich selbst sich im letzten undurchsichtig bleibt.

Die Abneigung gegenüber dem kargen Protestantismus manifestiert sich wiederholt in einer Sympathie für Liturgie und Sinnlichkeit der katholischen Kirche (534). Das lässt ihn aber nicht zum Katholiken werden, er hält sich alle Optionen offen. Dafür prägt er das berühmte Wort: „Wir sind / Naturforschend Pantheisten, / Dichtend Polytheisten, / Sittlich Monotheisten.“ (534) Die natürliche Religion bedarf für ihn keines Glaubens, sie drängt sich jedem vernünftigen und einsichtigen Menschen auf. Goethe lässt die Religionsfrage offensichtlich zeitlebens nicht los, aber er wird weder zum Anhänger noch zum Bekenner, schon gar nicht zum Fundamentalisten, sondern er bewegt sich frei und ungezwungen zwischen Religionen und Glaubensrichtungen, aber auch Philosophien und Weltanschauungen. Er nimmt sich die Religionen als ästhetisches Material, an der Moral ist sein Interesse nicht so groß. Wenn er sich für Religion interessiert, dann für einen Gottesglauben, der nicht auf esoterische Offenbarungen für wenige zielt. Sein religiöser Glaube soll sich auf den praktischen Alltag auswirken. Insofern ist seine Religionsphilosophie mit seiner Lebenskunst und Alltagsethik verknüpft.

Goethe weigert sich, Beerdigungen zu besuchen. Nicht einmal an der Beisetzung seines Freundes Schiller nimmt er teil. Das ist keine Unhöflichkeit. Er verweigert sich dem Tod, weil ihm das Leben wichtiger ist. Es ist interessant, dass er ähnlich vorsichtig mit allem Erfahrungen negativer Gefühle umgeht: Hass, Verbitterung, Zorn, Neid und Ärger sind ihm suspekt, und sie nötigen ihm Zurückhaltung auf. Goethe weiß sich aus negativen Empfindungen herauszuwinden. Er weiß, was er im Herzen benötigt, und er hält sich an die Maximen seiner eigenen Lebenskunst. Das ist ihm wichtig: sich nicht hineingrübeln in das Schlechte und Böse, sondern so schnell wie möglich herauskommen in die Freiheit, die allein Schreiben, Denken und Leben möglich macht.

Gestaltung und Unübersichtlichkeit

Lohnt der Blick auf die philosophisch-literarische Lebenskunst des Dichters, wenn man die Unterschiede zwischen Goethe-Zeit und Moderne berücksichtigt? Safranski bejaht diese Frage. Er sieht die Moderne durch ihren „Konformismus“ (15) charakterisiert. Davon ist Goethe frei. Er besitzt die Möglichkeit, das als Persönlichkeit zu entwickeln, was als Person in ihm angelegt war. Für Safranski ist Goethe „mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben seiner Zeit aufs innigste verbunden, aber er verstand es, ein Einzelner zu bleiben“ (15). Damit ist schon am Anfang der Biographie ein erster wichtiger Grundsatz der Lebenskunst bestimmt: Persönlichkeit und Lebensumstände durchdringen sich. Ersteres bildet sich durch Letzteres. Aber Goethe nimmt nur auf, was er auch verarbeiten kann. „[Goethe] konnte auch wunderbar ignorieren.“ Goethe lässt sich nicht vereinnahmen, und das geschieht aus Selbsterhaltungstrieb. In einer von vielen großartigen Wendungen spricht Safranski von einem „geistig-seelische[n] Immunsystem“ (15).

Geistige Lebendigkeit entsteht nicht durch Überernährung mit Information. Wer zu viel zu sich nimmt, der verfettet. Wer geistig und intellektuell alles in sich hineinschlingt, dem drohen Überdruss, Langeweile und writer's block. Goethe - so Safranski – ist ein Genie im Dosieren und Handhaben des eigenen intellektuellen Stoffwechsels. Moderne Kritiker finden ihn deshalb zu angepasst, nicht radikal genug. Moderne Befürworter lasen und lesen Goethes Texte als Medikamente für das eigene Überleben, zugleich Beruhigungs- und Aufputschmittel, welche Wachheit und Aufmerksamkeit steigern. Warum Goethe lesen? Um sich erinnern zu lassen an jene Haltung der Heiterkeit und Gelassenheit, die den Dichter und Lebenskünstler geradezu traumwandlerisch durchs Leben gehen lässt.

Vielleicht hat Safranski dieses Leben in seinem Verlauf zu glatt und harmonisch dargestellt. Oder er ist der Versuchung anheimgefallen, hier die Selbsteinschätzung des Dichterfürsten absolut zu setzen. Trotzdem ist ihm in seinem Buch daran gelegen, eine alltagstaugliche Kunst- und Lebenslehre zu entwickeln, mit deren Hilfe sich ein Mensch durchs Leben tasten kann. Goethe ist zugleich vorsichtig und mutig. Er behält ein Bewusstsein für das Erreichte und Gegebene, das er nicht für eine vage und unbestimmte Hoffnung auf ein – politisches, ästhetisches oder persönliches – Ziel in der Zukunft opfern will. Er benötigt die Kunst, um den Alltag, seine Beziehungen und Freundschaften, seine Naturerfahrungen zu reflektieren und sich das Leben erträglich zu machen. Dennoch opfert er sein Leben nicht für die Kunst. Er denkt stets in Maßen, Verhältnissen und Rücksichtnahmen. Dieses Maßhalten, das schon in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles zu finden ist, macht den Kern von Goethes Lebenskunst aus. Bei Safranski erscheint dieser Entwurf einer Philosophie der Lebenskunst am Anfang als ein bewundernswertes Vorbild, am Ende des Buches jedoch spricht er davon mit einer gewissen Nostalgie. Denn hier ist einer der wesentlichen Unterschiede zwischen Goethezeit und Moderne: In der Moderne sind Umwelt, Kontext und Situation des Menschen so übermächtig geworden, dass das Individuum weder die Zeit noch die Reflexionskraft noch die Lebenskunst zur Verfügung hat, um die Wirklichkeit umfassend zu durchdringen.

Ewiger Tee

Im Alter zieht sich Goethe auf die in Einsamkeit und Abgeschiedenheit zurück. Dennoch träumt er von einem offenen Haus, einem großen Salon, den Freunde, Gönner und Durchreisende regelmäßig besuchen. Im Salon steht ein „ewiger Tee“ (586) bereit. Die Freunde können trinken und miteinander ins Gespräch kommen. Goethe steht in seinen Träumen diesen Salons als spiritus rector und Impresario vor, aber er kann auch wegbleiben,  und dann soll sich niemand beklagen. Leben ist für ihn Kommunikation, Austausch, Dialog, Gespräch.

Goethes Biographie vermittelt eine Ahnung davon, was eine ästhetisch, philosophisch, naturwissenschaftlich und politisch umfassend gebildete Persönlichkeit aus solchen Gesprächen und Erfahrungen zu schaffen vermag. Um den Gegensatz zum Heute auf einen einzigen entscheidenden Punkt zu bringen: Moderne Existenz ist nur noch fragmentarisch möglich. Trotzdem ist diese auf eine philosophische Lebenskunst angewiesen. Aber das wäre ein anderes Buch, für das diese Biographie eine hervorragende Grundlage geschaffen hat.

Anmerkungen

[1]    Vgl. dazu Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/M. 1998 sowie aus theologischer Sicht: Wolfgang Vögele, Alltagsethik – Lebenskunst – Spiritualität, Deutsches Pfarrerblatt 106, 2006, 418-425; ders., Weltgestaltung und Gewißheit. Alltagsethik und theologische Anthropologie, Protestantische Impulse für Gesellschaft und Kirche 4, Münster 2007.

[2]    Rüdiger Safranski, Goethe. Eine Biographie, München 2013.

[3]    Rüdiger Safranski, Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus, München 2004, ders., Schopenhauer, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, München 1988; ders., Friedrich Nietzsche. Biographie seines Denkens, München 2000; ders., Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München 1994.

[4]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf Safranskis Goethe-Biographie.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/88/wv09.htm
© Wolfgang Vögele, 2014