Notizen V

Ein Blogsurrogat

Andreas Mertin

Heilige Kümmernis

Selbstverständlich handelt es sich hier nur um einen Zufall, es gibt keine tiefere Beziehung zwischen dem volksreligiösen Phänomen der Heiligen Kümmernis und der Inszenierung von Conchita Wurst durch den Künstler Thomas Neuwirth. Aber der visuelle Vergleich zeigt, warum für manche gerade aus der katholisch-traditionalistischen Szene diese Inszenierung so provozierend ist. Sie ist der katholischen Volksseele zu eng verwandt, denn sie erinnert sie an die Legende der Kümmernis. Zur Genese der Legende schreibt Katharina Boll: „Als opinio communis gilt, dass sich die Legende nicht auf eine historisch verbürgte Person zurückführen lässt, sondern dass ihr Kult im 14. Jahrhundert in den damaligen Niederlanden – in Brügge oder in Gent – entstanden ist und sich im Laufe des 15. Jahrhunderts über Norddeutschland, das Rheinland und Westfalen bis nach Süddeutschland, Österreich und die deutschsprachigen Gebiete der Schweiz verbreitete. Der Kult ebbte im 18. Jahrhundert ab, erlosch jedoch erst im 20. Jahrhundert.“ (Boll, Katharina (2011): Die Legende von der Frau am Kreuz. Theologische Überlegungen zur oberdeutschen Texttradition. In: Katharina Boll (Hg.): Kunst und saelde. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 161–177.)

Die Kümmernis bezeichnet unter verschiedenen Namen eine fiktive Heilige, die unter dem Namen Wilgefortis sogar Ende des 16. Jahrhunderts ins Martyrologium Romanum aufgenommen wurde. In der Sache erzählt die Legende, sie sei eine zum Christentum bekehrte Tochter eines heidnischen Königs gewesen, die sich gegen eine vom Vater erzwungene Hochzeit wehrte. Ihre Bitte um Verunstaltung (und damit Verhinderung der Hochzeit) wurde erhört: ihr wuchs ein Bart. Der erzürnte Vater ließ sie deshalb ans Kreuz schlagen. Soweit die Legende. [Zum Phänomen der Hl. Kümmernis vgl. Glockzin-Bever, Sigrid; Kraatz, Martin (2003): Am Kreuz - eine Frau. Anfänge – Abhängigkeiten - Aktualisierungen. Münster: LIT (Ästhetik - Theologie - Liturgik, Bd. 26).]

Konzeptionell weist die Kümmernis nur marginale Übereinstimmungen mit der Figur der Conchita Wurst auf. Beides Mal handelt es sich um fiktive Gestalten, die in der Rezeption der Gesellschaft für verehrungswürdig gehalten werden. Beides Mal geht es um den Kontrast von weiblicher Identitätszuschreibung und männlichen sekundären Geschlechtsmerkmalen. Dann enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten, denn die Biographie der fiktiven Conchita Wurst beginnt in den Bergen von Kolumbien. Zudem handelt es sich um eine männliche Person in Dragqueen-Insze­nie­rung, während es bei der Kümmernis um eine weibliche Person mit männlichen Attributen geht.

Trotzdem lässt sich einiges aus der visuellen Ähnlichkeit schließen. Die Heilige Kümmernis, würde sie heute in Europa in Erscheinung treten, dürfte sich des entschiedenen Widerspruchs der „wahren“ Katholiken sicher sein. Ambiguitäten ertragen sie nicht mehr. Heute ist die eine und einzige mögliche Identität die heterosexuelle Identität. Eine Frau mit Bart – oder noch schlimmer: eine Frau mit männlichem Geschlechtsteil darf keinesfalls toleriert werden. Sonst droht der Untergang des Abendlands.

Katholische Mathematik

Josef Bordat, ein katholischer Blogger philosophiert am 9. Mai in etwas überraschender Weise über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Er beginnt mit einer Meldung: „3.420 ‚glaubwürdige Beschuldigungen‘ gegen Priester wegen sexuellen Missbrauchs sind in den letzten zehn Jahren im Vatikan eingegangen.“ Nun kann man schon über den Sachgehalt dieser Meldung nachdenken. Ist das die Zahl der Fälle sexuellen Missbrauchs? Ganz sicher nicht. Was versteht der Vatikan unter „sexuellem Missbrauch“? Dasselbe wie das deutsche Strafrecht? Was heißt „glaubwürdige Beschuldigung“? Es ist wahrscheinlich eine dreifach heruntergerechnete Zahl. Einmal unterscheidet sie nicht zwischen Taten und Tätern. Ein angezeigter Täter kann in einer Anzeige des vielfachen Missbrauchs beschuldigt werden. Dann vernachlässigt sie die Dunkelziffer unter Priestern, zum dritten differenziert sie zwischen angezeigten Fällen und „glaubwürdigen Beschuldigungen“. Unser Blogger fährt fort: „Bei 410.000 Priestern weltweit macht das eine Quote von 0,08 Prozent.“ Das zumindest ist richtig gerechnet – unter der Voraussetzung dass die Beschuldigungen jeweils differente Täter bezeichnen. Nun aber folgt die Volte ins Surreale: „In Deutschland gibt es seriösen Schätzungen zufolge etwa 200.000 Missbrauchsfälle jährlich. Bei etwa 32.000.000 Männern, die für eine solche Straftat in Frage kommen, ergibt sich eine Quote von 0,63 Prozent. Anders gesagt: Unter 10.000 Priestern gibt es 8 Missbrauchstäter, unter 10.000 deutschen Männern zwischen 15 und 80 Jahren gibt es 63 Missbrauchstäter.“

Das ist so unseriös, wie man es sich nur denken kann. Hier wird Realität gegen Potentialität ausgespielt. Das ist intellektuell nicht akzeptabel. Vergleichen kann man nur auf derselben Ebene: also der glaubhaften Fälle sexuellen Missbrauchs (Minderjähriger) durch Täter, die mindestens das Alter eines Priester haben (also nicht der 15-80 Jährigen).

So differenziert ist die deutsche Kriminalstatistik leider nicht. Sie weist nur alle Fälle aus. Die lagen etwa im Jahr 2009 bei erfassten 12.174 Fällen gegenüber Minderjährigen bzw. insgesamt bei 15.246 erfassten Fällen. Bei den von Bordat unterstellten 32 Millionen in Frage kommenden Männern wäre das eine Quote 0,00048 Prozent. Wobei vorausgesetzt würde, sexueller Missbrauch würde bei der Statistik deutscher Fälle nur Männer erfassen. Je nach unterstellter Quote von weiblichen Täterinnen würde der männliche Quotenanteil also noch einmal sinken. Gehen wir vom Missbrauch Minderjähriger aus, dann ist die Quote entsprechend geringer: 0,00038. Man muss schon ziemlich dreist sein und auf die Dummheit seiner Leser setzen, um Dunkelziffern (bei deutschen Männern von 15-80) gegen reale Fallzahlen (bei katholischen Priestern) zu setzen. Würde man tatsächlich Dunkelziffern gegen Dunkelziffern setzen, dann wäre man nicht nur im Bereich der reinen Spekulation, sondern müsste auch begründen können, warum man bestimmte Größen ansetzt. Niemand auf der Welt wird ernsthaft behaupten, im Bereich der katholischen Kirche habe es in den letzten 10 Jahren nur 3.420 Fälle sexuellen Missbrauchs gegenüber Minderjährigen gegeben. Das ist geradezu bösartig gegenüber den Opfern dieser Taten. Wenn man wie Bordat von einem Quotienten von 1:13 von erfassten zu realen Fällen ausgeht, dann wäre die Zahl im katholischen Bereich zumindest 45.000 Fälle. Selbst das halte ich für eine viel zu harmlose Annahme. Gehen wir aber einmal von den realen erfassten Fallzahlen aus, dann müssten wir wie in der Meldung des Vatikans von 10 Jahren ausgehen. Für die Zeit von 2000 bis 2009 wären das für Deutschland 540.682 erfasste Fälle. Bei unterstellten 32.000.000 Männern wäre das eine Quote von 0,017. Dem stünde eine Quote von 0,08 bei katholischen Priestern gegenüber. Es wäre also fast 5 Mal wahrscheinlicher von einem katholischen Priester ... Nein, das ist es nicht. Es zeigt nur, wie gedanken- und sinnlos diese Verrechnungsspiele im apologetischen Interesse sind. Die Welt wird nicht besser, nur weil man sie einer katholischen Mathematik unterwirft.

Splitter I: Stellvertreter Christi

Aus dem Forum einer katholisch-traditionalistischen Seite, betrieben von Leuten, die sich als treue wahre Katholiken und Wächter des Papstes verstehen:

Joh. 1,38: Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi - das heißt übersetzt: Meister -, wo ist deine Herberge?

Splitter II: Pro Anti-Anti. Oder: Ja-Sager und Nein-Sager

Ja, der wahre traditionalistische Katholik ist immer noch das imaginäre Zentrum dieser Welt und alle anderen sind gegen ihn:

Der traditionalistische Katholik ist deshalb für die Juden (Trier/Worms/Mainz 1096), für die Orthodoxen (Konstantinopel 1204), für die Muslime (Jerusalem 1099), für die Protestanten (Paris 1572) – natürlich unter der Voraussetzung, dass diese nicht gegen ihn sind. Aber: Leider liefern die Juden, die Muslime, die Protestanten und selbst die Orthodoxen den Beweis ... Man würde sie ja gerne umarmen, aber die sind immer so anti ...

Splitter III: Geh‘ doch rüber!

Nicht dass die Leserinnen und Leser denken, ich polemisierte immer nur gegen Katholiken. Die betreiben nur mehr Blogs. Gerade lese ich jedoch beim evangelischen Gegenstück zur katholischen Blogwartseite kath.net, der verschwisterten evangelikalen Blogwartseite idea.de, die offenkundig ernst gemeinte Frage, ob fromme Evangelikale nicht lieber katholisch werden sollten: „Stehen Evangelikale ‚Rom‘ näher als der EKD?“ Und der seit gefühlten 40.00 Jahren in dieser Frage unvermeidliche Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus meint: Ja!

„Ja, bibeltreue Evangelikale stehen heute glaubenstreuen katholischen Brüdern und Schwestern näher als der real existierenden Evangelischen Kirche in deren gegenwärtigem Verfallsprozess.“

So richtig wohl scheint er sich als Evangelischer nie gefühlt zu haben, die EKD war für ihn immer schon mit der DDR vergleichbar, während Rom dem himmlischen Jerusalem nahe zu kommen scheint. Was auffällt: Das gemeinsame Kennzeichen von Evangelikalen und katholischen Traditionalisten ist der exzessive Gebrauch präzisierender Adjektive. ‚Bibeltreue Evangelikale‘ und ‚Glaubenstreue Katholiken‘ – darunter tut man‘s nicht. Klar, es gibt noch die Normalos, eben Evangelische und Katholische, aber das sind verdächtige Gestalten, zumindest aber Opfer der Irrlehren, die von den Kanzeln gepredigt werden. Dagegen sollten die von Gott erwählten Bibeltreuen und Glaubenstreuen doch zueinander finden können.

Man möchte Beyerhaus aus vollem Herzen zurufen: Geh‘ doch rüber!

Aber das möchte man andererseits den katholischen Glaubensschwestern und –brüdern auch nicht zumuten. Denn nichts ist unerträglicher als ein Konvertit. Die Mehrzahl der wirklich schlimmen katholischen Blogs wird von Konvertiten betrieben, die – wenn sie schon einmal zum Katholizismus konvertiert sind – diesen dann aber auch in Reinform haben möchten. Also kämpfen sie gegen alles, was sie bei der neuen an die alte Konfession oder Religion erinnert. Mit dem Katholischen in seiner gegenwärtigen Verfasstheit hat das dann meistens wenig zu tun.

Und auch Idea macht deutlich, dass Beyerhaus nach der Konversion in der katholischen Kirche erst mal gründlich aufräumen würde:

„Allerdings sei auf kirchenleitender Ebene auch in der katholischen Kirche nicht alles intakt. So gebe es Klagen, dass Irrlehren auch von namhaften katholischen Würdenträgern gehegt würden, etwa das Sühnopfer Jesu Christi am Kreuz zu bestreiten.“

Ja, Kardinal Müller zum Beispiel wird von Traditionalisten gerne vorgehalten, ein Häretiker zu sein und angeblich soll selbst der gegenwärtige Papst einer sein (Zitat aus einem ‚katholischen‘ Forum: „Was des F.s Ansprachen betrifft: Blödsinn. Häretischer Blödsinn ... Aber der Papst bleibt trotzdem der Papst, es wäre Wahnsinn, ihn als das zu benennen, was er ist, nämlich als Häretiker“.) Die Traditionalisten sollten auf Beyerhaus setzen, der würde dafür sorgen, dass künftig Ordnung in Rom herrscht und der Papst in seinen Palast zurückkehrt. Das wär’s doch: die Vereinigte Weltkirche der Evangelikalen und katholischen Traditionalisten. Ein semi-orthodoxes Biotop. Und wie Biotope in der Regel so sind: ziemlich klein. Aber dabei durchaus erweiterungsfähig, wie Kardinal Meisner vermutlich sagen würde, denn „eine Familie von euch ersetzt mir drei“ normale katholische und evangelische. Ach, das Leben ist schön.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/89/am473.htm
© Andreas Mertin, 2014