Theologischer Briefwechsel eines Laien: über die Versöhnung unsers Planeten und anderer Welten mit Gott durch Christum [1782]

Brief des Herausgebers – Text und Kommentar

Christian Weidemann

Editorische Einleitung

Im Jahr 1782 erschien bei Weygand in Leipzig, dem Verleger von Goethes „Werther“, ein schmaler Band (142 S.) mit dem Titel „Theologischer Briefwechsel eines Laien: über die Versöhnung unsers Planeten und anderer Welten mit Gott durch Christum“. Der anonyme Herausgeber hatte bekannten protestantischen Theologen[1] der Zeit (u.a. Semler, Teller, Spalding, Goeze, Lavater ...) in einem Brief die Frage vorgelegt, ob und ggf. wie Außerirdische durch den Gott des Christentums erlöst werden. Seinen Brief, in dem er ein unlösbares Dilemma für die christliche Soteriologie aufzuzeigen glaubte, sowie 13 Antworten[2] der angeschriebenen Theologen fasste er zu dem Theologischen Briefwechsel zusammen.

Obwohl die Korrespondenten namhaft waren und der Brief des Herausgebers die bis heute wohl klarste und scharfsinnigste Formulierung eines Problems darstellt, das bereits in den physikalischen Schriften Melanchthons[3] auftaucht und wenig später durch Thomas Paine[4] größere Berühmtheit erlangen sollte, ist der Briefwechsel fast vergessen.[5] In deutschen Bibliotheken sind nur drei Exemplare nachweisbar, auch eine Online-Version war bislang nicht verfügbar. Im Folgenden soll der Brief des anonymen Herausgebers daher im Originalwortlaut wiedergegeben und kommentiert werden.

Zuvor werde ich die spärlichen Informationen zum anonymen Initiator der Sammlung sowie zur Geschichte der Veröffentlichung des Briefwechsels präsentieren. Danach biete ich eine Liste der Korrespondenten mit kurzen biographischen Angaben. Ein separater Aufsatz[6] wird das systematische Problem und die Antworten der Korrespondenten näher beleuchten.

Der unbekannte Verfasser

Der Briefwechsel wurde nicht nur anonym herausgegeben, die Identität des Fragestellers war auch den Korrespondenten nicht bekannt, wie z.B. aus den ersten Zeilen des Antwortbriefs Johann Salomo Semlers hervorgeht.[7] Der Herausgeber lieferte in seinem Brief zwar einige persönliche Informationen,[8] jedoch nichts, was ausgereicht hätte, seine Identität zu enthüllen:[9] Mit 15 Jahren war er nach eigener Auskunft das, was man einen „Pietisten“ nennt, doch das Schwärmerische verlor sich alsbald. Er beschäftigte sich mit dem „Studium der Sprachen und vorzüglich der alten“ und besuchte eine Universität, erwähnt jedoch leider weder Ort, Zeitraum noch Studienfach. Aus dem Titel des Bandes lässt sich immerhin schließen, dass es sich nicht um ein (abgeschlossenes) Theologiestudium gehandelt haben kann. Auch die literarischen Einflüsse, die der Herausgeber anführt, können kaum als ungewöhnlich gelten: Als Kind las er Johann Arndts Paradiesgärtlein, als junger Mann vor allem bekannte Dichter der Zeit (Gessner, Cronegk, Wieland), als Student Voltaires Dictionnaire philosophique und Johann Georg Sulzers Moralische Betrachtungen über die Werke der Natur.

Den wertvollsten Hinweis auf die Identität des Herausgebers enthält die separat veröffentlichte und dem Briefwechsel angehängte lateinische Publikation des Wittenberger Kirchenhistorikers Ernst Friedrich Wernsdorf. Wernsdorf gibt in einer Fußnote (S. 123) an, dass das Antwortschreiben nach Worms geschickt werden sollte, an den dortigen Kaufmann Schuler, mit der Aufschrift „an den Autoren des Briefs vom 24. Jan. 1778“. Auch Johann Caspar Lavater erwähnt Worms in seinem Antwortschreiben: Jesu Botschaft verbreitete sich „von Golgatha bis auf Worms und Zürich“ (S. 102).

In der kurzen Chronik des Stadtarchivs Worms wird das Handelshaus Schuler erwähnt. Worms war um 1780 eine kleine Provinzstadt (5000 Einwohner), es gab eine Städtische Lateinschule (ev.) und ein Fürstbischöfliches Gymnasium (kath.), sowie eine Zeitung: das Reichsstadt Wormsisch Privilegirte Intelligenzblatt.[10] Die berühmteste Familie vor Ort waren die Dalbergs („Kämmerer von Worms“); Wolfgang Heribert von Dalberg war 1778 mit dem Aufbau des Nationaltheaters im benachbarten Mannheim beschäftigt, an dem er 1782 u.a. Schillers „Räuber“ uraufführte. Zwischen den guten Beziehungen, die Wolfgang und sein Bruder Karl Theodor, späterer deutscher Erzkanzler und Kurfürst von Mainz, zu Goethe und Schiller pflegten, und der Tatsache, dass der Briefwechsel ausgerechnet beim wichtigsten Verleger des „Sturm und Drang“ erschien,[11] könnte ein Zusammenhang bestehen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich um einen bloßen Zufall handelt.

Eine andere interessante Spur führt zum Schloss Heidesheim, das nur knapp zehn Kilometer entfernt von Worms lag[12]. Zur Abfassungszeit des Briefes war dort eine der schillerndsten (und brillantesten) Figuren der deutschen Aufklärung als Leiter des 1777 eingerichteten Philantropins[13] tätig: Carl Friedrich Bahrdt (1741-1792). Bahrdt wurde bereits 1779 auf Betreiben des Wormser Weihbischofs von Scheben, den er zuvor öffentlich verspottet hatte, durch Beschluss des Reichshofrats in Wien wieder aller Ämter enthoben (weder zum ersten noch zum letzten Mal in seiner Karriere). Bahrdt veröffentlichte im Jahre 1781 eine anonyme Streitschrift[14] gegen das Werk Ueber den Versöhnungstod Christi (1778) des Erlanger Theologen Georg Friedrich Seiler, einen der Korrespondenten des Briefwechsels. In dem Buch erwähnt Seiler ein „Schreiben vom Oberrhein“ und diskutiert den von unserem anonymen Verfasser erhobenen Einwand (im Briefwechsel wiederabgedruckt). Bahrdt erwähnt in seiner fulminanten Gegenschrift zwar nirgendwo das Problem außerirdischer Erlösung,[15] weist aber wie der anonyme Herausgeber des Briefwechsels die von Seiler verteidigte klassische Satisfaktionslehre entschieden zurück und kommt dabei zu pelagianischen und antitrinitarischen Ergebnissen. Noch bemerkenswerter ist, dass der Hofrat des Grafen von Leiningen-Dagsburg, Philippe Jacob (Jacques) Rühl, der Bahrdts Engagement einfädelte und begleitete,[16] zu Revolutionszeiten Mitglied und erster Präsident des französischen Nationalkonvents (Convention nationale) war. Der Elsässer Rühl regte nicht nur die französische Ehrenbürgerschaft Friedrich Schillers an,[17] er hat in Paris auch den amerikanischen Revolutionär und Gründervater Thomas Paine kennengelernt, der bis zu seiner Verhaftung im Dezember 1793 den Distrikt Pas-de-Calais in der Nationalversammlung vertrat.[18] Paine vollendete Ende 1793 den ersten Band seiner deistischen Schrift The Age of Reason (1794), in dem sich ein bis in den Wortlaut hinein ähnliches (wenn auch weniger konzises) Argument wie im einleitenden Beitrag des Briefwechsels findet.[19]

Manches deutet also darauf hin, dass der anonyme Herausgeber aus dem Umfeld des Heidesheimer Philantropin stammen könnte.[20] Allerdings lassen sich auf die räumliche Nähe zu Worms und die Ähnlichkeit des Briefwechsels zu Passagen in Age of Reason schwerlich mehr als vage Spekulationen gründen – zumal es keinen Beleg dafür gibt, dass Paine und Rühl mehr als eine flüchtige Bekanntschaft miteinander verband.[21]

Warum entschied sich der Herausgeber – wer immer er gewesen sein mag – zur Anonymität? Zum einen waren anonyme Veröffentlichungen im 18. Jahrhundert weit weniger ungewöhnlich als heute. Das Geheimnis um die Identität eines Autors war häufig Teil der Inszenierung eines Werks.[22] Zweitens wurden die Briefe ohne Einverständnis der Korrespondenten veröffentlicht („Sollten die Herren Verfasser derselben [Briefe] auf den Herausgeber zürnen, so würde es ihm herzlich leid tun“ S. 3).[23] Der Autor hatte das möglicherweise bereits bei Versand der Briefe im Sinn und wollte sich nicht ohne Not den Unmut der Korrespondenten zuziehen. Drittens (und wohl am wichtigsten) lädt das durch den Herausgeber so scharfsichtig aufgeworfene Dilemma zu – wenn nicht atheistischen – so doch wenigstens sozinianischen (antitrinitarischen) oder deistischen Schlussfolgerungen ein. In der Vorrede des Bandes beharrt der Herausgeber zudem trotz Belehrung durch seine prominenten Briefpartner auf der Unlösbarkeit besagten Dilemmas.[24] Für einen Lehrer oder Juristen in Staatsdiensten hätte dies großen Ärger und u.U. gar die Entlassung (s. den Fall Bahrdt) bedeuten können.

Chronologie der Veröffentlichung:

24. Januar 1778: Der Brief des Herausgebers wird (an mindestens 14 Adressaten) verschickt.

1. Febr. 1778: (Semler) – 20.Mai 1778 (Seiler): Antworten werden verfasst und versendet. Ein Antwortschreiben von Wernsdorf ist nicht im Band enthalten. Vermutlich hat er dem Herausgeber lediglich seine Schrift (s.u.) zugesandt oder sich gar nicht bei ihm gemeldet.

April/Mai 1778: Seiler veröffentlicht „Ueber den Versöhnungstod Jesu Christi: Nebst einem Anhang der Schriftlehre von der Rechtfertigung des Sünders vor Gott“ (Erlangen: Friedrich Andreas Schleich), darin Erwähnung und teilweiser Abdruck eines Schreibens vom „Oberrhein“. Seiler gibt dem Herausgeber Nachricht, jedoch ohne das Buch an ihn zu versenden. Die betreffenden Passagen werden im Briefwechsel nachgedruckt.

Pfingsten 1779: Wernsdorf veröffentlicht das „Ernesti Frider. Wernsdorfii […] Iudicium De Nonnullis Dubitationibus Contra Religionem Christianam: Nuper Ab Anonymo Quodam Per Litteras Sibi Propositis Ipsis Solemnibus Pentecost. Sacris An. MDCCLXXVIIII Exhibitum[25] (Wittenberg: Dürr) [Universitätsbibliothek Halle, UB Darmstadt und Bibliothek der LMU München besitzen die einzigen nachweisbaren Exemplare], vollständiger Nachdruck im Briefwechsel.

3. April 1782 Erst nach „mehrjährigem Kampfe“[26] (Suche nach einem Verleger?) geht das Buch in Druck. Die beteiligten Autoren wurden nicht um ihr Einverständnis gebeten.

Die Briefpartner

Der Band enthält insgesamt zwölf Antwortbriefe, die in der Reihenfolge ihres Abfassungsdatums abgedruckt werden, außerdem den getreuen Nachdruck der Abhandlung von Wernsdorf sowie Buchauszüge, auf die Semler, Miller und Seiler in ihren Schreiben verwiesen hatten. Bei den Autoren handelt es sich um:[27]

  1. Johann Salomo Semler (1725–1791), Professor in Halle, wichtiger Neologe[28], mit seiner „Abhandlung von freier Untersuchung des Canon“ (1771–1775) Wegbereiter der historisch-kritischen Bibelforschung; Semler verweist, ohne eine Paragraphen zu nennen, auf seine voluminöse Institutio ad doctrinam christianam liberaliter discendam, Carl Hermann Hemmerde: Halle, Magdeburg 1774; der Herausgeber druckt neben dem eigentlichen Antwortschreiben den § 165 dieser Schrift ab.
  2. Friedrich Samuel Zickler (1721–1779), Professor in Jena (zuvor Professor und Universitätsprediger in Erlangen) 76/77 Rektor, der lutherischen Orthodoxie zuzurechnen.
  3. Ein ungenannter Theologe“, aus dem Brief geht nicht hervor, warum die Identität des Schreibers nicht offen gelegt wird. Lüdke lobt in seiner Rezension diesen Brief vor allen anderen.
  4. Wilhelm Abraham Teller (1734–1804), Berliner Oberkonsistorialrat und berühmter Aufklärer, irgendwo zwischen Neologie und Rationalismus einzuordnen.
  5. Johann Joachim Spalding (1714–1804), Berliner Oberkonsistorialrat, Autor der Bestimmung des Menschen (1748), Nestor der Neologie.
  6. Gottfried Leß (1736–1797), Professor in Göttingen, Schüler Siegmund Jacob Baumgartens (1706–1757), als antideistischer Apologet und Populartheologe hervorgetreten, Neologe.
  7. Christian Wilhelm Franz Walch (1726–1784), Professor in Göttingen, zuvor Professor für Philosophie ebenda, Kirchenhistoriker; Entwurf einer vollständigen Historie der Ketzereien (11 Bände, 1762-85), Sohn des Übergangstheologen und Lutherherausgebers Johann Georg Walch.
  8. Johann Peter Miller (1725–1789), Professor in Göttingen, Schüler Johann Lorenz Mosheims, vor allem pädagogische und moraltheologische Schriften, bezieht sich in seiner Antwort auf sein Christliches Religionsbuch oder Anleitung zu katechetischen Unterredungen über den gemeinnüzigsten Inhalt der heiligen Schrift (Zweite, verbesserte Auflage. Leipzig: Weygand 1779), die betreffenden Paragraphen wurden vom Herausgeber dem Antwortschreiben angehängt.
  9. Johann Melchior Goeze (1717–1786), Hauptpastor in Hamburg, bekannt durch die vielen Kontroversen, in die er sich verstrickte (am bekanntesten die mit Lessing im Fragmentenstreit), Vertreter der Spätorthodoxie.
  10. Johann Caspar Lavater (1741–1801), reformierter Theologe, Diakon (später Pfarrer) in Zürich, zentrale Figur des damaligen Geisteslebens, mit vielen Größen der Zeit in Kontakt (Goethe, Mendelssohn, u.v.w.m.),[29] Wiederbegründer der Physiognomik: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1774–1778).
  11. Christian Garve (1742–1798), Philosophieprofessor in Breslau (vorher für Mathematik und Logik), zu Lebzeiten sehr bekannter „Popularphilosoph“, berühmte Auseinandersetzung mit Kant, ausgelöst durch eine recht unfreundliche Rezension der Kritik der reinen Vernunft – einziger Nichttheologe der Sammlung.
    11.* Auf dem Umschlag des Antwortbriefs von Garve steht eine knappe Notiz des Breslauer Probstes, Romanschriftstellers und Theologieprofessors Johann Timotheus Hermes (1738–1821), mit der er sich der Meinung Garves anschließt (Aus Garves Brief geht aber klar hervor, dass die Anfrage nicht etwa von Hermes an Garve weitergereicht wurde; vielmehr haben beide den Brief des Herausgebers unabhängig voneinander erhalten.) Hermes, u.a. Schüler des jungen Kant, war vor allem durch seine Romane (Geschichte der Miss Fanny Wilkes [1766]; Sophiens Reise von Memel nach Sachsen [1769-1773]) bekannt, wichtiger Vertreter der Empfindsamkeit.
  12. Georg Friedrich Seiler (1733–1807), Professor und Universitätsprediger in Erlangen, im weitesten Sinne der Neologie zuzurechnen, aber entschiedener Verteidiger einer traditionellen Satisfaktionslehre. Seiler verweist auf eine Passage seines Buches Ueber den Versöhnungstod Christi (1. Teil; 1778), in dem „das Schreiben vom Oberrhein“ explizit erwähnt und die Frage des Herausgebers diskutiert wird. Die Passage ist dem sehr kurzen Antwortschreiben angehängt worden.
  13. Ernst Friedrich Wernsdorf (1718–1782), Professor (und zeitweilig Universitätsrektor) in Wittenberg, Studium u.a. bei Ernesti und Gottsched, vor allem Arbeiten zur Patristik.

Der nachfolgende Text folgt dem Exemplar der Bibliothek des Tübinger Stifts (Signatur: 1 an 8° 794). Rechtschreibung und Interpunktion wurden aus Gründen der besseren Lesbarkeit heutiger Orthographie angepasst, offenkundige Versehen stillschweigend korrigiert. Originalseitenangaben werden wiedergegeben als: „|S.|“. Das eigentliche Argument setzt mit dem ersten Abschnitt, Seite 8 des Originaltexts, ein.

[Erst zwei Tage vor Veröffentlichung dieses Beitrags, habe ich ein Faksimile des Briefs an Johann Caspar Lavater in die Hände bekommen. (The Correspondence of Johann Caspar Lavater (1741-1801), hg. von  Christoph Eggenberger und Marlis Stähli, Leiden 2002 (Microfiche-Edition); anL 597.3.11) Nach oberflächlicher Prüfung ist der Text nahezu identisch mit dem der Druckfassung, ein Hinweis auf die Identität des Verfassers ergibt sich nicht. Lavater wird gebeten seine Antwort an "Herrn Kaufmann Schüler, den jüngeren, zu Worms" zu senden. Der Brief wurde daher von den Herausgebern der Lavater-Korrespondenz unter "Worms" katalogisiert.]


Text

|5| Hochwürdiger Herr!

Ich halte Sie für einen viel zu großen Freund der Wahrheit, als dass Sie es einem Forscher derselben übelnehmen sollten, wenn er sich mit einigen Zweifeln, die er gegen die christliche Religion hat, an Sie wendet, und Sie um Belehrung und Auflösung seiner Zweifel bittet. Seit ungefähr sechs Jahren trage ich diese Zweifel mit mir herum, und daraus, dass ich Ihnen versichere, ich habe sie noch keinem Menschen entdeckt, und meine Grundsätze nicht fortzupflanzen gesucht, werden Sie schließen, dass ich kein leichtsinniger Zweifler bin, der jeden, auch einen Scheingrund, gleich für ausgemacht annähme, und ihn triumphierend verbreitete.

In meinem zwölften Jahre war ich sehr eifrig in meiner Religion, und wenn meine Schulkameraden am Sonntage spazieren gingen oder spielten, saß ich öfters zu Hause über Arndts Paradiesgärtchen.[30] Ja in dem fünfzehnten hatte ich einen ziemlichen Hang zur Schwärmerei und war das, was man einen Pieti|6|sten nennt. Glauben Sie aber nicht, dass ein melancholisches Temperament mich zu einer schwärmerischen Denkungsart gebracht hat. Ich bin von Natur sehr lebhaft und zu nichts weniger als Melancholie geneigt. Daher kann ich, so viel ich mich an meine damalige Art zu denken und zu empfinden zurückerinnere, nicht anders glauben, als dass ein wahres Gefühl nicht sowohl der Wahrheit der Religion – denn die konnte ich damals nicht beurteilen, weil ich nicht daran zweifeln konnte – als vielmehr des Hohen und des Begeisterten in der Religion jenen Eindruck auf meine Seele machte.

Nach einiger Zeit verlor ich das Schwärmerische und lebte so hin, wie die meisten Jünglinge leben, d.i. ohne daran zu denken, ob die Religion, zu der man sich bekennt, wahr ist oder nicht, oder vielmehr mit dem Gedanken, sie ist wahr, weil man nichts anders hört. Ich hatte auch nicht Zeit daran zu denken. Denn das Studium der Sprachen, und vorzüglich der alten, zog alle meine Gedanken auf sich hin. Daneben waren mir die Dichter sehr angenehm, besonders die Dichter, die etwas Schwärmerisches hatten, und ich las den Tod Abels[31], Kronegks[32] Werke etc. mit vieler Teilnehmung. Noch erinnere ich mich mit Vergnügen mit welcher Wonne ich Wielands Prosaische Schriften[33] las und wie ich mit ihm auf einsamen Spaziergängen unter den Sphären und Seraphinen[34] herumwandelte.

|7| Nachdem ich auf die Universität gekommen war, war eins der ersten Bücher, die mir in die Hände fielen, Sulzers Betrachtungen über die Natur[35]ich kann itzt den eigentlichen Titel nicht gleich angeben – und unter denselben reizte mich besonders die Schilderung des gestirnten Himmels. Ich erhielt daraus den ersten wahren Begriff von den unzähligen Sonnen und von den Welten, die über unserem Haupte dahin sich wälzen, und nun war mir nichts lieber als in einer heitern Nacht den Himmel zu betrachten und mich all dem Wonnegefühl zu überlassen, das entweder der einsame Mond oder der mit Sternen besäte Horizont empfindsamen Seelen einflößt, die sich so gerne mit sich selbst beschäftigen, und die andre Gesellschaften, weil sie größtenteils leer sind, wenig achten, da sie sich selbst zu unterhalten wissen.

Ich dachte, ich müsste Ihnen vorher etwas aus der Geschichte meines Herzens und Verstandes erzählen, damit ich Sie desto besser in den Stand setze, von mir urteilen zu können.

Einmal erhielt ich in den Ferien von einem guten Freunde, einem Geistlichen auf dem Lande, Voltairs Dictionaire portatif[36]. Dies machte mich zuerst etwas zweifeln. Als ein Jüngling, der keine Kenntnis der Sprachen und der Naturgeschichte des Orients hatte, konnte ich nicht die Schwachheit vieler Stellen in diesem |8| Buche einsehen, ich hab‘ auch das Buch indessen nicht mehr gesehen und überhaupt nichts mehr gelesen, das wider die Religion geschrieben ist, als, so viel ich mich erinnere, eine fliegende Piece des Grafen von Schmettau[37], aber erst vor wenigen Jahren, d.i. erst nachdem das, was ich itzt erzählen will, schon vorgefallen war.

Einst, etwan zwei Jahre nach der Bekanntschaft mit Voltairs Diktionaire[38], da der Gedanke von der Wahrheit und Unwahrheit der Religion immer mit mir umging, lag ich bei Nacht im Fenster und betrachtete den heitern Himmel und Wielands Gesicht von einer Welt unschuldiger Menschen[39] fiel mir ein. (Erst. Th. seiner Prosaischen Schriften, Zürich 1763) „Sollte“, dachte ich, „diese Erdichtung nicht wahr sein? Außer der Welt, in welcher du lebst, gibt‘s noch tausend andere. Es müssen Geschöpfe darauf sein, Geschöpfe mit Verstand und Willen begabt, denkende Geschöpfe, einige feiner geschaffen und mit einer weitern Seele geziert, andere vielleicht weniger als wir.[40] Sie müssen entweder ganz tugendhafte Menschen sein oder sie sind auch gefallen. Soll ich glauben, dass alle andere Menschen anderer Weltkörper uns beschämen? Soll ich annehmen, dass von zehntausend Welten nur die unsrige gegen Gott rebellisch ist? Wie unwahrscheinlich![41] Also sind unter den zehntausend Welten – ich will nur sagen zwei – in gleichen Umständen mit |9| uns. Sie haben Gott beleidigt. Sie beleidigen ihn täglich, sie müssen also auch mit ihm ausgesöhnt werden. Wer söhnt sie mit Gott aus? Sie sich selbst? – Aber warum sagt man denn uns, der Mensch könne Gott nicht versöhnen? – Also müssen sie auch einen Mittler haben! Wer kann der Mittler anders sein als der unsrige? Mithin söhnt Christus auch jene Menschen mit seinem Vater aus! – Gut! Aber ohne Blutvergießen geschiehet keine Vergebung[42]Christus ist also auch für eine, zwei andere sündige Welten gestorben, und hat in jenen eben die Schicksale gehabt wie bei uns. Christus ist daher ein, zwei, dreimal geboren worden, itzt in unserer Welt, dann in der zweiten, dann in der dritten, und ist auch ein, zwei, dreimal gestorben.“

Und das zu behaupten, mein Herr, scheint mir ganz absurd. Und doch fließen, so viel ich sehe, alle obige Folgen richtig auseinander. Mithin muss man annehmen entweder, ohne Blutvergießen geschehe Vergebung, und den andern sündigen Menschen vergebe Gott ohne das Blut Christi. Das wäre aber wider die Stelle in der Epistel an die Hebräer[43], und man könnte immer alsdann fragen: Was war’s denn in unserem Planeten gerade nötig, dass Gottes Sohn kommen und sterben musste? Hätte Gott uns nicht auch ohne blutige Versöhnungsmittel verzeihen können?

|10| Oder es geschähe keine Vergebung ohne Blutvergießen. Wessen Blut sollte alsdann für die andern Planeten vergossen worden sein? Nach dem ganzen System der Christlichen Religion könnte keins eine so hohe Wirkung haben als des Gottmenschen. Mithin käme, wie gesagt, heraus, Christus hätte von Planet zu Planet wandern müssen, um allezeit eben dasselbe zu leiden[44] und eben die Rolle – wenn ich mich so ausdrücken darf – öfters zu spielen. Ist aber das ein der Gottheit anständiger Gedanke?

Sehen Sie, hochwürdiger Herr, dies ist der einzige Haupteinwurf, den ich gegen die Christliche Religion habe; ich habe ihn nirgends gelesen; ich weiß auch nicht – Sie werden’s wissen – und es wird mir lieb sein, wenn Sie mir’s sagen –, ob ihn irgend schon jemand vorgebracht hat. Dies ist die wahre Geschichte, wie ich ein Zweifler geworden bin, aber ich bin allezeit bereit aufzuhören, es zu sein, wenn eine freundschaftliche Hand eines wahren, gelehrten Theologen aus diesem Labyrinthe mich leitet. Ich nahm mir daher vor, in der Stille an Sie zu schreiben und Sie um Belehrung zu bitten.

Indessen – ich bekenne es aufrichtig – sehe ich nicht ein, was wohl darauf geantwortet werden kann und wie die ganze Verwicklung des Zweifels kann aufgelöst werden. Die Mehrheit der Welten und mithin auch der Geschöpfe darauf und zwar denkender, handeln|11|der, mithin gut oder bös handelnder Geschöpfe, kann nicht wohl geleugnet werden. Denn wozu Welten ohne Geschöpfe? Und wozu Welten ohne vernünftige, des Handelns fähige Geschöpfe?[45] Dieser Satz ist also in der Naturlehre ausgemacht. Die ferneren Sätze fließen aus Schriftstellen und sind Grundwahrheiten der Christlichen Religion:

  • Dass sündige Menschen mit Gott ausgesöhnt werden müssen,
  • dass sie niemand aussöhnen kann als ein Mittler,
  • dass niemand Mittler sein kann als ein Gottmensch,
  • dass dieser Gottmensch nicht anders aussöhnen kann als durch Vergießung seines Blutes,
  • und dass also auf diese Art die Metempsychose[46] nichts Ungereimtes mehr ist.

Und wenn es auch nichts Ungereimtes wäre, dass Christus in mehreren Planeten leiden und sterben konnte, wo kömmt aber der Verklärte und zur Rechten des Vaters sitzende Christus[47] hin, indessen ein anderer Körper von ihm in einem andern Planeten lebt und stirbt? Oder bleibt der eine im Stande der Erhöhung, in der Zeit, da der andere im Stande der Erniedrigung herumwandelt?

Wie gesagt, ich kann mich aus diesen Schlüssen nicht herausfinden und glaube doch einmal für allemal, der Mensch muss den Haupt|12|plan Gottes begreifen können. Ein gewöhnlicher Theologe würde mir vielleicht sagen, ich solle die Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens gefangen nehmen. Ich kann aber nicht wohl etwas glauben, das ich nicht einsehe, und ich denke, Gott werde uns doch so viel Verstand gegeben haben, dass wir seine Absichten mit uns im Ganzen erkennen können. Oder hat er uns Verstand gegeben, um Wahrheiten der Physik und Mathematik zu begreifen, nur gerade diejenigen Wahrheiten nicht, an deren Erkenntnis uns am meisten oder vielmehr alles gelegen ist, die Wahrheiten der Religion?

Dies führt nun freilich zum Unglauben auch an den Mysterien der Christlichen Religion. Allein darüber ist, so viel ich weiß, schon so viel geschrieben worden, dass man da aus gedruckten Büchern sich belehren kann und also keiner schriftlichen Belehrung bedarf. Diese Zweifel lassen sich vermutlich alsdann leichter heben, wenn man einmal glaubt, dass Gott seinen Sohn für uns in die Welt schickte und leiden und sterben ließ.

Vielleicht hätte ich diese Zweifel weiter ausführen, sie gedruckt der Welt vorlegen und um Unterricht bitten können. Allein ich befürchtete, ihn alsdenn nicht gerade von denjenigen Männern zu erhalten, von denen ich‘s wünschte.

|13| Wie sehr verlangt mich nach Ihrer gütigen und beruhigenden Antwort! Haben Sie die Gütigkeit, mich, wenn es ihre Geschäfte erlauben, recht bald damit zu erfreuen und sie unter der unten bemerkten Adresse[48] abzusenden.

Ich bin allezeit
Ihr
gehorsamer Diener

den 24. Jänner 1778


Anmerkungen

[1]    Und mindestens einem Nicht-Theologen, dem Breslauer Philosophieprofessor Christian Garve.

[2]    Genau genommen handelte es sich nur um 12 Antworten, da Ernst Friedrich Wernsdorf offenbar gar nicht antwortete, sondern gleich eine eigene lateinische Schrift zum Thema publizierte, die am Ende des Briefwechsels komplett nachgedruckt wird. Eine knappe Notiz Johann Timotheus Hermes‘, in der er zustimmend auf die Antwort des Breslauer Kollegen Garve verweist, wird ebenfalls abgedruckt (aber nicht mitgezählt).

[3]    Philipp Melanchton, Initia doctrinae physicae [1549], Corpus Reformatorum Bd. XIII (1846), Sp. 220f. Vgl. Weidemann, Starb Jesus auch für die Bewohner fremder Welten? (diese Ausgabe).

[4]    Thomas Paine, The Age of Reason. Being an Investigation of True and Fabulous Theology (in: The Writings of Thomas Paine, Bd. 4, New York [1908] ND 1969) 1. Buch, 16. Kapitel, 73. Vgl. auch unten sowie Weidemann (diese Ausgabe).

[5]    Lediglich Winfried Schröder erwähnt den Theologischen Briefwechsel in einer Fußnote seines Bandes: Ursprünge des Atheismus, Untersuchungen zur Metaphysik und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 503.

[6]    Weidemann (diese Ausgabe).

[7]    „Sie werden es vergeben, dass ich keine Anrede oder Titulatur vorausschicke, weil Sie es selbst gehindert haben“ (14). [Hier und Im Folgenden habe ich Orthographie und Interpunktion der Quellen angepasst.] Vgl. auch den Briefanfang Johann Peter Millers (76).

[8]    Es natürlich nicht ausgeschlossen, dass der Anonymus (oder gar die Anonyma?) biographische Hinweise stilisiert oder frei erfunden hat, konkrete Verdachtsmomente dafür finden sich nicht.

[9]    Vgl. im Folgenden genauer den Textkommentar unten.

[10]   Vgl. http://www.worms.de/de/kultur/stadtgeschichte/liste/18-Jh.php (abgerufen 29.04.2014).

[11]   Vertragsverhandlungen zwischen Johann Friedrich Weygand und Friedrich Schiller über den Druck der Luise Millerin (später umbenannt in Kabale und Liebe) scheiterten freilich Anfang 1783 an weit auseinandergehenden Honararvorstellungen; zur Weygandschen Buchhandlung vgl. Herbert Koch: Johann Friedrich Weygand, Buchhändler in Leipzig, Archiv für Geschichte des Buchwesens 9 (1969), 433-448.

[12]   Ehemals Residenz des Fürstentums Leiningen, 77/78 Einrichtung eines Philantropin, 1794 abgebrannt, heute zur Gemeinde Obrigheim gehörig.

[13]   Eine der reformpädagogischen Bewegung des Philantropismus zuzurechnende Schule. Die erste solche Schule wurde 1774 vom Hauptvertreter der Bewegung, Johann Bernhard Basedow, in Dessau gegründet. Bahrdt hatte die Schule besichtigt.

[14]   Apologie der Vernunft durch Gründe der Schrift unterstützt, in Bezug auf die christliche Versöhnungslehre, Basel 1781 [Der Verlagsort wurde von Bahrdt frei erfunden].

[15]   Er diskutiert jedoch das verwandte Problem des Schicksals der Menschen in Afrika, Asien und Amerika, die von Jesus nichts wussten (Apologie S. 162f). Bahrdts Antwort: „Die Bibel lehrt keine Allgemeinheit der Erlösung, als wiefern die Wohltat des Glaubens an Christum und seiner Früchte für alle damalige und nachfolgende Menschen bestimmt war.“ Über das Kapitel, in dem Seiler den anonymen Brief unseres Herausgebers diskutiert, fällt Bahrdt nur ein sehr allgemeines (gleichwohl vernichtendes) Urteil: „Ich habe nicht nöthig, mich auf die Einwendungen einzulassen, die man sonst noch gegen die kirchliche Versöhnungslehre macht, und die Herr Seiler in dem Rest seiner weitläufigen Abhandlungen, ohne alle Befriedigung des Lesers, mit beständigen petitionis principiis widerlegt.“ (Apologie, S. 277)

[16]   Barth beschriebt Rühl in seinen (nicht immer wahrheitsgetreuen) Memoiren gleichwohl als böswilligen Intriganten und Hauptverantwortlichen seines Scheiterns in Heidesheim, vgl. Carl Friedrich Bahrdt: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale, Bd.3, Berlin 1791.

[17]   Vgl. dazu Jürgen Voss, Der Mann, der Friedrich Schiller zum Ehrenbürger Frankreichs machte: Philippe Jacques Rühl, in Ders., Deutsch-französische Beziehungen im Spannungsfeld von Absolutismus, Aufklärung und Revolution. Ausgewählte Beiträge, Bonn 1992, 313-329. Aufgrund eines Schreibfehlers ging Schiller die Urkunde erst im Jahre 1798 zu!

[18]   Zu Paines bewegter Biographie vgl. John Keane: Tom Paine. A Political Life, London 1995.

[19]   Vgl. unten Textkommentar.

[20]   Bahrdt selbst hielt sich freilich im Januar 1778 in England auf, und kommt auch aus anderen Gründen (Stil, Titel der Schrift, fehlende Erwähnung des Briefwechsels in seinen Memoiren, persönliche Bekanntschaft mit einigen der Korrespondenten etc.) kaum als Herausgeber des Briefwechsels in Betracht.

[21]   Paine sprach kein Deutsch und nur schlecht Französisch. Rühl beherrschte allerdings wohl leidlich Englisch, wie sich aus dem Bestand seiner Bibliothek ergibt (vgl. Jürgen Voss, Die Bibliothek eines Fürstendieners, Aufklärers und Revolutionärs aus dem Grenzraum deutscher und französischer Kultur. Philippe Jacques Rühl (1737-1795) und seine Bücher, in: Henning Kraus (Hg.): Offene Gefüge: Literatursystem und Lebenswirklichkeit, Tübingen 1994, 377-406.) Paine hatte außerdem (im Gegensatz zu Rühl) viele Freunde unter den Girondisten. Als Gegner der ausufernden Gewalt und der Hinrichtung des Königs, entging er während seiner Gefängniszeit (Dez. 1793–Nov. 1794) nur durch Zufall der Exekution. Rühl hingegen schloss sich – nach anfänglichem Schwanken – dem radikalen jakobinischen Flügel (Montagnards) der Nationalversammlung an und überlebte die schlimmsten Jahre des Terrors, an welchen er als Mitglied des Sicherheitsausschusses (seit Sept. 1793) Mitverantwortung trug. Er weigerte sich allerdings, das Todesurteil Dantons zu unterschreiben und stellte sich am 9. Thermidor gegen Robespierre. Nachdem Rühl schließlich im Zuge der einsetzenden Restauration selbst vor ein Militärgericht zitiert und unter Hausarrest gestellt worden war, nahm er sich Ende Mai 1795 das Leben. Zur Biographie Rühls vgl. Alfred Maurer: Rühl. Ein Elsässer aus der Revolutionszeit, Straßburg 1905. [Ich habe den schwer greifbaren – und möglicherweise aufschlussreichen – Auktionskatalog zur 8000 (!) Bände umfassenden Bibliothek Rühls leider bislang noch nicht einsehen können. Der Aufsatz von Voss (s.o.) gibt nur einen groben Überblick.]

[22]   Vgl. die Beiträge zur Aufklärungszeit in: Stephan Pabst (Hg.): Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, Berlin 2011.

[23]   Friedrich Germanus Lüdke erwähnt diesen Umstand auch in seiner Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (Bd. 55, 1783, 91–94, 93): „So ganz lässt sich‘s wohl nicht entschuldigen, dass der Herausgeber diese Briefe ohne Vorwissen und Genehmigung ihrer Verfasser bekannt gemacht hat.“

[24]   Vgl. die (hier nicht abgedruckte) „Vorrede“ (3-4).

[25]   Deutsch in etwa: „Ernst Friedrich Wernsdorfs […] Urteil über einige Zweifel gegen die christliche Religion, die ihm jüngst von einem gewissen Anonymus per Brief vorgetragen wurden, vorgelegt am Heiligen Pfingstfest des Jahres 1779.“

[26]   Vorrede S. 3.

[27] Ich beschränke mich hier jeweils auf 1-2 einordnende Sätze. Zu den meisten namentlich bekannten Autoren (Ausnahmen: Zickler, Garve, Seiler, Wernsdorf) finden sich Artikel im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (BBKL), zu Zickler vgl. Heinrich Döring, Die gelehrten Theologen Deutschlands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4, Neustadt a. d. Orla 1835, S. 788-790; zu Wernsdorf a.a.O. S. 698-700; zu den ungleich bekannteren Garve und Seiler z.B. die Artikel im dreibändigen Dictionary of Eighteenth-Century German Philosophers, Oxford 2010. Zu den Argumenten der Autoren vgl. Weidemann, Starb Jesus (diese Ausgabe).

[28]   Als „Neologie“ bezeichnet man heute eine spezifische Form der Aufklärungstheologie, die gekennzeichnet ist, durch „Ablösung von der orthodoxen Dogmatik […], aber gleichermaßen auch von einer pietistischen Bekehrungs- und Heiligungsschematik, sowie vom ‚scientifischen‘ Methodenpurismus der theologischen Wolffianer [Rationalisten]“ (Albrecht Beutel: Aufklärung in Deutschland [Die Kirche in ihrer Geschichte Bd. 40,2]; Göttingen 2006, 249; vgl. auch Kapitel 5 passim). Neologen erteilten der Verbalinspiration der Schrift eine Absage und betonten u.a. die Perfektibilität des Menschen sowie die Vereinbarkeit von Verstand und Gefühl in Religionsdingen.

[29]   Einer der berühmten Korrespondenten Lavater erwähnt übrigens den Theologischen Briefwechsel: Johann Georg Hamann schreibt am 29. August 1783: „Ich freute mich, liebster L. noch gestern Abend über Ihren zehnten Brief im theologischen Briefwechsel eines Layen, um den ich mich aus Vorurtheil nicht bekümmern mögen; habe aber recht viel Winke in den Con- und Dissonantien der gesammelten Stimmen und Gesinnungen gefunden; keine Bosheit, sondern eher heilige Einfalt philosophischen Aberglaubens in dem ehrlichen Herausgeber.“ (Johann Georg Hamann, Briefwechsel, hg. von Arthur Henkel, Bd. 5, Frankfurt / M. 1965, 69-73; 71.).

[30]   Gemeint ist: Johann Arndt (1555-1621): Paradiesgärtlein voller christlicher Tugenden, wie solche zur Übung des wahren Christentums durch andächtige, lehrhafte und trostreiche Gebete in die Seele zu pflanzen [Magdeburg 1612, zahlreiche Nachdrucke]: eine beliebte, vor allem von Pietisten sehr geschätzte Erbauungsschrift.

[31]   Salomon Gessner [1730-1788], Der Tod Abels (1758): Heldengedicht in Prosa.

[32]   Gemeint ist Johann Friedrich von Cronegk [1731-1758], früh an den Pocken verstorbener Verfasser konventioneller Heldendramen (Codrus [1758]; preisgekrönt und vielfach aufgeführt) und Lustspiele, von Lessing in der Hamburger Dramaturgie heftig gescholten. In seiner Lyrik besang Cronegk die Vielzahl der Welten, z.B. im posthum veröffentlichten „Lob der Gottheit“: „Ich seh bei stiller Nacht viel Tausend Welten schimmern; // vielleicht sind sie bewohnt vom menschlichen Geschlecht, // das deiner Vorsicht Hand gerecht // bestimmt zu bessern oder schlimmern.“

[33]   Der Verfasser nennt weiter unten folgende Ausgabe: Christoph Martin Wieland [1733-1813], Sammlung Prosaischer Schriften, 2 Bde., Zürich: Orell, Geßner und Comp. 1763/64; eine dreibändige Sammlung einiger prosaischen Schriften erschien bereits 1758 am selben Ort, darin auch schon das „Gesicht von einer Welt unschuldiger Menschen“ (s.u.).

[34]   (Sic!) Die Seraphim tauchen in den schwärmerisch-christlich geprägten frühen Schriften Wielands häufig auf (so auch im „Gesicht von einer Welt unschuldiger Menschen“). Nur ein weiteres Beispiel unter vielen, ist das folgende: „Myriaden von Seraphim schweben, nur dem Geiste des Christen sichtbar, unter den Wolken, und beobachten unsere Taten […]“ (Christoph Martin Wieland: Sympathien [1754], in: Sammlung einiger prosaischen Schriften, Bd. 1, 65f.)

[35]   Gemeint ist: Johann Georg Sulzer: Versuch einiger Moralischen Betrachtungen über die Werke der Natur Berlin: Haude 1745 (2. Auflage 1750); darin: Vierte Betrachtung, über die Größe des Weltgebäudes.

[36]   (Sic!) Voltaire, „Dictionnaire philosophique, portatif“ (Autor und Werk werden vom Verfasser des Briefes abweichend geschrieben), erstmals 1764 anonym in Genf bei Gabriel Grasset erschienen, enthielt zunächst 72 alphabetisch geordnete Artikel, später auf 120 Einträge erweitert. Der antiklerikale Inhalt machte schnell Skandal, das viel verkaufte Buch wurde in Frankreich und der Schweiz verboten, aufgefundene Exemplare öffentlich verbrannt.

[37]   Eine „Piece“ bestand für gewöhnlich aus einem oder zwei Bögen (16/32 Seiten) Papier. Fünf Piecen des Grafen Woldemar Hermann von Schmettau (auch: Schmettow; 1719-1785) – betitelt als „Blätter aus Liebe zur Wahrheit geschrieben“ – wurden zwischen 1771 und 1774 in Plön und Lübeck anonym und ohne Ortsangabe, mit fortlaufenden Seitenzahlen gedruckt und zusammengebunden; die ersten drei Piecen bzw. vier Bögen wurden 1772 vom Dänisch-Holsteinschen Oberkonsistorium verboten. Zur recht komplizierten Geschichte des Drucks und der Zensur, zur außerhalb Holsteins gleichwohl weitgehend ungehinderten Verbreitung der Schrift sowie zum Verfasser Graf Schmettau vgl. Gerhard Kay Birkner, „Blätter aus Liebe zur Wahrheit geschrieben“. Der Zensurskandal „Schmettow“, Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 31 (2006), 47-78. Schmettau liefert in seinen Piecen vor allem eine deistische Kritik der biblischen Offenbarung (im Stile von Reimarus oder D. F. Strauß); dabei geht er mit der Theologie seiner Zeit hart ins Gericht, vgl. etwa S. 64: „Spielt die Theologie nun nicht hierbei recht die Rolle eines Taschenspielers? ‚Ist das ihre Karte, mein Herr?‘, fragt dieser. ‚Nein!‘ ‚Nur drauf geblasen, so ist es diese!‘ Will es zum Unglück noch nicht eintreffen, so macht man ein Hockus Pockus, plaudert den Leuten ein Haufen vor, mischt das Hundertste ins Tausendste, gießt einen langen gelehrten Senf darüber, so, dass, wer nicht recht feste sich an die gesunde Vernunft hält, bald selbst nicht mehr weiß, woran er ist; findet sich denn ein recht eigensinniger Vernünftler, so überschreit man ihn, schimpft, schilt, unterdrückt seine Einwendungen und begnügt sich, dass der größte Haufen, die Taschenspielerin noch immer für eine halbe Hexenmeisterin hält.“

[38]   (Sic!); s.o.

[39]   Laut Wieland entstand die kleine Schrift 1755 als Teil eines nicht beendeten größeren Werks (Sammlung einiger prosaischen Schriften Bd. 1, Zürich 1758, 206). In ihr schildert das lyrische Ich die Vision einer der Erde ähnlichen bewohnten Welt ohne Sünde, Tod oder Privateigentum, voller Liebe, Schönheit und Harmonie. Vgl. auch Wielands frühes Lehrgedicht Die Natur der Dinge: „O wie erstaunt mein Geist, und hört fast auf zu denken, // Da seine Blicke sich in jene Tiefen senken, // die kein Geschöpf ermisst, wo in gewohnten Höh’n // sich Sterne ohne Zahl mit ihren Bürgern drehen.“ (Halle 1752, S. 110)

[40]   Spekulationen über Charakter und intellektuelle Fähigkeiten der Bewohner anderer Welten waren im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Vgl. Michael J. Crowe, The Extraterrestrial Life Debate, 1750–1900: The Idea of a Plurality of Worlds from Kant to Lowell, Cambridge 1986, Kap. 3. Vgl. ferner die Briefe von Wilhelm Abraham Teller und Gottfried Leß, die der Menschheit auf der Skala intelligenter Wesen im All diametral entgegengesetzte Plätze zuweisen. Der junge Kant vertrat ähnlich dem Herausgeber eine mittlere Position. Er glaubte erkannt zu haben, „dass die Trefflichkeit der denkenden Naturen, die Hurtigkeit in ihren Vorstellungen, die Deutlichkeit und Lebhaftigkeit der Begriffe, die sie durch äußerlichen Eindruck bekommen, samt dem Vermögen sie zusammen zu setzen, endlich auch die Behendigkeit in der wirklichen Ausübung, kurz, der ganze Umfang ihrer Vollkommenheit, unter einer gewissen Regel stehen, nach welcher dieselben nach dem Verhältnis des Abstandes ihrer Wohnplätze von der Sonne immer trefflicher und vollkommener werden.“ Ein solcher Zusammenhang habe, „einen Grad der Glaubwürdigkeit, der nicht weit von ausgemachter Gewissheit entfernet ist“. „Von der einen Seite sahen wir denkende Geschöpfe, bei denen ein Grönländer oder Hottentotte ein Newton sein würde; und auf der andern Seite andere, die diesen als einen Affen bewundern.“ (Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels [1755], AA1, 359f.).

[41]   Hier wendet der Verfasser eine Regel an, die oft als „Kopernikanisches Prinzip“, oder „Mittelmäßigkeitsprinzip“ bezeichnet wird. Nick Bostrom spricht von einer „Self Sampling Assumption“ und gibt folgende Definition: „One should reason as if one were a random sample from the set of all observers in one’s reference class“ (Nick Bostrom, Anthropic Bias. Observation Selection Effects in Science and Philosophy, New York, London 2002, S. 57). Auf unseren Fall angewendet heißt das: Anzunehmen, dass von allen intelligenten Beobachtern im Universum ausgerechnet und ausschließlich die Menschheit gesündigt hat, ist irrational (vorausgesetzt, es gibt zahlreiche weitere uns unbekannte Beobachter im Universum). Mehr dazu in meinem systematischen Beitrag in dieser Ausgabe.

[42]   Hebr 9,22.

[43]   Hebr 9,22.

[44]   Diese Stelle weist große Ähnlichkeit zu einer Passage in Thomas Paines 12 Jahre später erschienener Schrift The Age of Reason auf: „And, on the other hand, are we to suppose that every world in the boundless creation had an Eve, an apple, a serpent and a redeemer? In this case, the person who is irreverently called the Son of God, and sometimes God Himself, would have nothing to do than to travel from world to world in an endless succession of deaths with scarcely a momentary interval of life.” (The Age of Reason [1794]; The Life and Works of Thomas Paine, Bd. 8, New Rochelle 1925, 85, Hervorhebung CW)

[45]   Hier steht eine zur damaligen Zeit populäre (und mindestens auf Platon zurückgehende) Familie an Ideen im Hintergrund, die der Philosophiehistoriker Arthur O. Lovejoy mit dem Ausdruck „Principle of Plenitude“ bezeichnet hat. Zu dieser Familie an Ideen gehört vor allem 1) die Annahme, dass alle möglichen Formen (Arten) von Lebewesen in der Natur (irgendwo, irgendwann) vorkommen, und (2) die Ansicht, dass die Welt umso besser ist, je mehr Wesen in ihr existieren (vgl. Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being, Oxford 1936, v.a. 52.) Siehe auch wieder Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels [1755], AA 1, 352: „Ich bin der Meinung, dass es eben nicht notwendig sei, zu behaupten, alle Planeten müssten bewohnt sein, ob es gleich eine Ungereimtheit wäre, dieses in Ansehung aller, oder auch nur der meisten zu leugnen.“ Vgl. erneut Crowe, The Extraterrestrial Life Debate. Es ist für die Aufklärungszeit insgesamt typisch, dass mit einer Ausnahme (Goeze) keiner der Briefpartner die Existenz außerirdischen Lebens ernsthaft in Zweifel zog!

[46]   Griech. μετεμψύχωσις, Seelenwanderung, Wiederverkörperung.

[47]   Vgl. z.B. Mk 16,19.

[48]   Aus der Schrift Wernsdorfs (im Briefwechsel S. 123 Fn. 1) geht hervor, dass die Antworten an den Kaufmann Schuler in Worms gesendet werden sollten, mit dem Vermerk „an den Verfasser des Briefs vom 24. Januar 1778“ („ad Auctorem Epistolae, datae die XXIIII. Jan. an. 1778“).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/89/cw1.htm
© Christian Weidemann, 2014