Kurz und gut II

Vorstellungen ausgewählter Kurzfilme: Stress

Andreas Mertin

Mit dem Thema Stress in einem weiteren Sinne haben es alle drei vorgestellten Kurzfilme in dieser Ausgabe von „Kurz und gut“ zu tun. Stress unter dem Druck von Zeit, Stress unter dem Druck politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse und Stress unter dem eigenen Erwartungsdruck bzw. angesichts der mangelhaften Annäherung an die eigenen Vorbilder.

Aber der Reihe nach:


Stress (1:00) https://vimeo.com/51232549

“Stress is an intense, grainy, black and white journey through 24 hours that aims to stress the viewer as well as illustrate the biological, physical and psychological states of stress.” Konkret erzeugt dieses Video von Magnus Engsfors aus dem Jahr 2013 ziemlich heftigen Stress beim Betrachter durch eine einminütige kaskadenartige Bilderfolge, in deren Zentrum eine Zeitansage steht.

Als Zuschauer sieht man sich kaum in der Lage, der Logik der einzelnen Bilder zu folgen. Und wenn die Minute um ist, hat man nicht mehr das Gefühl von „Alles hat seine Zeit ...“ - eher schon: Über jenen Tag aber und die Stunde weiß niemand etwas.

Es ist ein wenig wie beim Graphen des Wortes Zeit im Deutschen Wortschatz: schon beim Lesen wird einem deutlich, wie knapp die Zeit bemessen ist.


Caveirão (10:06) https://vimeo.com/77178239

Man kann diesen Kurzfilm in unterschiedlichen Perspektiven sehen: Vor der Lektüre des Artikels in der Wikipedia zum Stichwort Caveirão oder danach. Die Lektüre des Artikels – so ging es jedenfalls mir – verändert die Wahrnehmung deutlich. Schauen Sie sich also vielleicht zunächst den Clip einfach so an:

In der ersten Minute des zehnminütigen Clips verfolgen wir den Flug einer Mücke durch eine Wohnung. Das Rauschen eines Fernsehers nach Sendeschluss (gibt es das tatsächlich noch irgendwo auf der Welt?), der Summton der weiblichen Stechmücke, die Accessoires einmer Wohnung, Bilder an der Wand, ein schlafender Mann in einem Bett, ein Radiowecker mit der Uhrzeit 3:32, die kurz darauf in 3:33 umspringt. Das Bild friert ein. Was geschieht nachts um 3:33? Die Zeit steht still, der Tropfen vom Wasserhahn hängt in der Luft, die Zigarette qualmt nicht mehr. Geisterstunde? Als Nächstes sehen wir, es sind nun etwa 1½ Minuten um, eine leere, fahl beleuchtete Straße, in der ein altes Grammophon (His Master’s Voice) aus dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mitten auf der Fahrbahn steht. Die Straße ist jedoch gut modern videoüberwacht, was uns ins 21. Jahrhundert verweist. Der Tonabnehmer senkt sich auf die Schelllackplatte, Musik erklingt und die Straße und die angrenzenden Häuser beginnen sich zu illuminieren. Zeichentrickmonster kommen aus den Häusern, Fenstern, Gassen und eilen zum Grammophon. Sie bringen Musikinstrumente mit und die Fiesta beginnt. Eine eigene surrealistische Welt entsteht, die sich zunehmend beschleunigt. Nach knapp 4 Minuten des Films taucht wieder die Videokamera auf, die uns zum Fernseher jenes Protagonisten führt, der am Anfang des Clips im Bett gelegen hat. Nun ist kein Rauschen mehr auf dem Monitor, sondern die bunte Szenerie unserer Straße. Der Mann dreht eine Polizeimütze in seinen Händen und pfeift vor sich hin. Nun ändert sich auch das Szenario in der Geisterstraße. Zu den Zeichentrickfiguren kommen nun Monsterpuppen hinzu. Schnitt. Wir blicken in eine Garage, in der der Protagonist nun in einem Auto sitzt und sich Lederhandschuhe anzieht, während die Stimmung in der Straße ihrem Höhepunkt zustrebt. Die Fahrt des Mannes zeigt uns, dass wir immer noch in der Geisterminute 3:33 sind, denn eine Ratte am Straßenrand ist mitten in der Luft eingefroren. Die unterlegte Musik wird militärischer, das Auto erweist sich als Polizeiauto. Die Monsterwesen in der Straße vermengen sich zu einem Farbenrausch, der durchaus an Franc Marcs Bild „Kämpfende Formen“ von 1914  erinnert.

Es sind 5½ Minuten vergangen, wir sind theaterdramaturgisch bei der Peripetie angelangt.

Eine Hand, die wir gleich darauf als die des männlichen Protagonisten erkennen, hält das Grammophon an, nimmt die Nadel von der Schelllackplatte und stellt sich in gewaltbereiter Pose vor seinen Auto in der Straße auf. Wir erkennen: der Protagonist trägt einen Totenschädel. Es kommt zum Showdown mit den bunten Monsterfiguren auf der einen Seite und dem Polizeizombie auf der anderen. Wild schlägt der Zombie auf die Zeichentrickfiguren ein, die panisch flüchten. Schließlich – 7 Minuten sind vergangen – hat er die Straße von den bunten Figuren befreit. Fast jedenfalls, denn eine grüne Figur klebt noch unter seinem Stiefel fest. Diese fängt er in einem Glas ein. Die Normalität scheint wiederhergestellt, das Grammophon wird eingesammelt und im Kofferraum verstaut. Der Protagonist steigt ins Auto, packt das Glsa mit der grünen Figur ins Handschuhfach und fährt davon.

Urplötzlich sind wir wieder in der Sekunde/Szene angelangt, in der die Stechmücke vor dem Radiowecker um 3:33 Uhr eingefroren war. Der Wecker springt um auf 3:34. Alles was zwischendurch geschehen ist, hat sich in dieser einen Minute des Stillstands abgespielt. Die Mücke fliegt davon, im Fernseher sehen wir eine Comicserie eines prügelnden Polizisten und auf der Toilette der Wohnung unseren Zombie-Polizisten, der nun das Glas mit der kleinen grünen Comicfigur austrinkt und so für eine Sekunde zum Menschen wird. Aber schon gleich darauf verliert er seine Menschlichkeit und wird wieder zum Zombie. Es folgt der Abspann.

Und es beginnt die Deutungsarbeit. Die assoziativen Elemente sind klar: Irgendetwas mit Polizeiterror, Anarchie, Drogen und subversiver Kultur. Mit den Schattenseiten des Lebens, die bunter sein können als der triste Alltag. Hier hilft der Titel des Videos vielleicht weiter. Laut Wikipedia bedeutet er folgendes: „Caveirão (portug. für ‚großer Totenkopf‘) ist eine umgangssprachliche Bezeichnung eines bestimmten, gepanzerten Fahrzeuges in Brasilien. Genutzt wird dieses Gefährt von speziellen Polizeikräften des Bundesstaates Rio de Janeiro.“ Und für die Deutung wichtig: „Ein optisches Merkmal der Fahrzeuge ist ihre schwarze Lackierung.

Weiter prangt auf den Seiten der Fahrzeuge das Logo des BOPE [der Spezialeinheiten der brasilianischen Polizei]. Dieses Logo besteht aus zwei gekreuzten Pistolen hinter einem Totenkopf, der von einem Dolch durchbohrt wird. Hiervon rührt der Spitzname des Fahrzeuges, Caveirão, her. Als weiter charakteristisch für dieses Fahrzeug erachtet werden die Lautsprecher, deren Geräusche ein Herannahen des Caveirão verheißen ... Hierbei unterstützt der Caveirão Interventionen und taktisches Vorgehen in den favelas genannten Armenvierteln. Dort geht es vor allem um die Bekämpfung des Drogenhandels.“

Nun geht es im Video erkennbar nicht um die positive Schutzfunktion der gepanzerten Fahrzeuge für die Polizei, sondern um die Polizeigewalt, um das symbiotische Verhältnis von Ordnungsmacht zu den Verbrechen, die sie zu bekämpfen vorgibt und denen sie ihre Legitimation und Existenz verdankt.

Vielleicht geht es auch um das Phänomen des Wiedergängers? Das überlasse ich der Deutung der Leser und schließe mit Notizen zum Wiedergänger in der deutschen Mythologie: „Die Wiedergänger erscheinen in mannigfachen Gestalten. Einige zeigen sich so, wie sie sich im wirklichen Leben gezeigt haben: Körper, Kleidung, Benehmen sind eine treue Wiedergabe dessen, was man an dem lebendigen Menschen gekannt hat. Andere erscheinen in ihrem gewöhnlichen körperlichen Aussehen, aber in weiten weißen, grauen oder schwarzen Gewändern; es sind die Totenhemde, in denen sie auftreten. Ist der Wiedergänger noch von seiner qualvollen Wanderung zu erlösen, so ist das Gewand weiß; ist dasselbe aber grau oder schwarz, so ist alle Rettung vorbei, der Wiedergänger ist auf ewig verdammt, ein Teufelsgenosse, und wird endlich selbst Teufel. Oftmals erscheinen ferner die wandelnden Seelen als Flammen (die unschuldigen als kleine, meist blaue Flämmchen, die verdammten in der Regel größer)“.


Chinti (8:25) https://vimeo.com/96063688

Dazwischen liegen aber mehr als 8 Minuten dieses wunderbaren Clips, der von Vorbildern und Enttäuschungen, von Träumen und Alpträumen erzählt.

Am Anfang blicken wir auf das Ufer eines unbekannten Flusses, an dem sich Abfälle und Müll zu stapeln scheint, während auf dem Fluss irgendwelche Ausflussdampfer kreuzen. An diesem Ufer transportieren einige Ameisen eine weggeworfene Gabel, unterstützt von einer kleinen Ameise, die mehr am Ende der Gabel hängt als dass sie sie trägt. Plötzlich weht der Wind ein weiteres Stück Abfall herbei, das die kleine Ameise aus der Bahn wirft. Es ist, wie es sich herausstellt, eine Briefmarke, und zwar nicht irgendeine Briefmarke, sondern eine mit dem Bild des Taj Mahal. Die kleine Ameise ist unendlich beeindruckt. Während der folgenden Tage im Dienste der Gemeinschaft der Ameisen sinnt sie immer wieder über dieses fantastische Gebäude nach. Aber ihr Vorbild erleidet einen Schaden: eine weggeworfene Zigarette brennt ein Loch in ihre Briefmarke! Die Ameise beschließt, das Bild Wirklichkeit werden zu lassen und selbst etwas Derartiges zu bauen. Das ist nun an einem zur Müllhalde verkommenen Ufer schwieriger als es an sich schon wäre. Der erste Entwurf besteht aus Büroklammern, Zigarettenkippe und Streichhölzern – hat aber nur so lange Bestand, bis ein vorbeikommender Mistkäfer sich Teile des Ensembles aneignet. So ein Mist! Aber man kann es ja noch einmal versuchen.

Und dieses Mal bildet ein angebissener Apfel die Grundlage. Aber hier besteht das Problem darin, dass die Ameise quasi über Kopf bauen muss und der Apfelrest zudem noch von einem Wurm bewohnt ist, der sein Haus nun ganz und gar nicht als Kunstwerk sieht.

Der dritte Versuch ist eine Art Zeichnung, die aber  sofort von einem Tausendfüßler überrann t wird. Zur Ablenkung gibt’s dann erst einmal eine Sause mit einer vorbeiziehenden Musikertruppe. Als dann auch noch nach der Rückkehr ein Schaf die Briefmarke frisst, scheint alles vorbei zu sein. Der pure Stress. Die kleine Ameise ist auf das Stadium einer ersten Entwurfszeichnung zurückgeworfen. Wie hat das tolle Gebäude noch einmal ausgesehen?

Wind und Wetter können die Ameise nicht aufhalten und endlich: das Gebäude steht! Und man glaubt es kaum: die vorbeifahrenden Schiffe mit den Touristen bejubeln es, sie halten an und machen Fotos. Die kleine Ameise ist mit sich und der Welt zufrieden.

Die Kamera erfasst noch einmal das neu erschaffene Werk, fährt dann zurück und zeigt dem Betrachter, dass das Ufer, an dem die kleine Ameise gearbeitet hat, das Ufer des Yamuna war, jenes Nebenflusses des Ganges, an dem das Taj Mahal steht (und der Beifall und die Fotos natürlich dem Original galten). Für die Ameise ist das egal. Allein das Werk zählt.

Das Video verzichtet soweit es eben geht auf Computeranimationen, und stellt seine Bildwelten mit Hilfe verschiedenfarbiger Teeblätter dar. Das ist nicht nur vom Bildeindruck unendlich poetisch, sondern ist selbst noch einmal eine Metapher für das im Video Dargestellte. Chinti von Natalia Mirzoyan hat zu Recht zahlreiche Preise bekommen. Im Internet gibt es übrigens ein sehr schönes „Making of“ des Kurzfilms mit Statements der Künstlerin:

„The Ant as well as the rest of the film is made of deferent variety of tea, rooibos, mate etc. I had very primitive light table based on old enlarger with about six layers of glass. I made this construction with the help of my friend. It took just one day and cost only around 30 US dollars. Some part of the film, such as the water, the caw, is made as stop motion animation. The main character is made of small groups of tea and is moved in After Effects. I tried not to use computer much to make the backgrounds and color correction. Thus, to make the sky I used simple colored paper folders and different photo filters. It was made from the very small tea leaves from tea packets. The red color items were made from rooibos. For yellow and white I used mate. To get blue color I used  blue filters on mate. Everything is so simple, but the work was thrilling.”

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/90/am479.htm
© Andreas Mertin, 2014