Supermarkt der Religionen?

Von der Kirchendämmerung zur globalisierten Religion.
Eine Rezension

Andreas Mertin

Graf, Friedrich Wilhelm (2014): Götter Global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird. München: Beck, C H.

Als 2011 das Buch Kirchendämmerung von Friedrich Wilhelm Graf erschien, schrieb ich einleitend: „Friedrich Wilhelm Graf gehört zu den wenigen Theologen im deutschsprachigen Bereich, die noch in der öffentlichen Wahrnehmung Gehör finden. Man muss nicht alle seiner Diagnosen teilen, um dennoch nach jeder Lektüre seiner Interventionen in der NZZ oder der FAZ zu sagen: darüber denke ich einmal nach. Was immer er aufspießt und der kritischen Betrachtung unterzieht, ist es wert, untersucht zu werden.“ Nun liegt ein weiterer Band kritischer Interventionen von Graf vor. Im Klappentext wird das Buch so beschrieben: „Weltweite Migrationen, das Internet und der entgrenzte Kapitalismus haben die Religionen in zuvor nie gekannte Bewegung versetzt. Gott und vielerlei Götter werden zunehmend vermarktet, und auf den globalen Religionsmärkten setzen sich harte, kompromisslose Glaubensweisen durch. Friedrich Wilhelm Graf beschreibt Grundmuster der neuen unübersichtlichen Religionskonflikte in aller Welt, analysiert die Ausbreitung der aggressiv missionierenden Pfingstler in Südamerika und deutet den Siegeszug des Kreationismus in den USA. Das ... Buch zeigt, dass die Auflösung traditioneller Ordnungen und die wachsende Vielfalt von Frömmigkeitsstilen zu noch rigideren religiösen Ordnungsrufen führen. Am Ende steht die Frage, ob und wie sich Religionen überhaupt liberal und demokratisch einhegen lassen.“

Ging es in Kirchendämmerung sozusagen um das kritische Theater der Institution Kirche (Prolog, sieben Akte und Epilog), so geht es in Götter global um das epische Theater der weltweiten religiösen Vielfalt (Prolog, acht Akte und Epilog).

Prolog: Einleitend schlägt Graf die Tageszeitung auf, um anhand der Nachrichtenlage stichprobenartig das Vorkommen religiöser Phänomene zu kontrollieren. Und er findet zahlreiche Meldungen, die über die Vielfalt der Religionen Auskunft geben: „Mord aus Glaubenshass, Dauerstreit um Kopftücher, Kirchenkampf um homosexuelle Priester, Blasphemie durch einen Burka-Comic, ein Papst der Armen als Fußballfan, die theologische Schwäche der EKD — all das gehört zur religiösen Signatur der Gegenwart.“ (12) Aber zu dieser Signatur gehört auch, dass die Vielfältigkeit wie „ein Supermarkt der Religionen“ erscheint. Und wie in einem Supermarkt gibt es ein schier unübersichtliches Angebot, dass sich aber auf unterschiedliche Abteilungen verteilt. Und einige dieser Abteilungen stellt Graf vor: die weltweite Ökumene, die Glaubensrevolution der Pfingstchristen, die kreationistische Internationale und die Wiederkehr des Heiligen Kriegs. Und an der Kasse stellt sich ihm dann die Frage, „ob und wie sich Religion zivilisieren lässt“ (13).

Glaubensfakten (14-35): Im ersten Kapitel geht es zunächst einmal um die Vermittlung der Erkenntnis, dass es „das“ Christentum, „den“ Islam, „das“ Judentum , „die“ Atheisten nicht gibt, sondern dass alle diese Gruppen selbst wiederum in eine Vielzahl von Untergruppierungen aufgeteilt sind, ja dass es zudem so etwas wie ein für das beginnende 21. Jahrhundert typisches Religionssampling, also Bricolagen, gibt. Aber es gibt nicht nur die an die konventionelle Religion gekoppelte Religiosität: Denn „auch die fanatische Begeisterung für den eigenen Fußballverein kann religionshaltige Unbedingtheit gewinnen ... Alles Mögliche, Sport, Politisches, die Kunst, auch Sex, kann mit religiösem Sinngehalt aufgeladen werden.“ (35)

An dieser Stelle möchte man erst einmal Stopp! rufen, denn aus der Tatsache, dass alles Mögliche mit religiösem Sinngehalt aufgeladen werden kann und auch aufgeladen wird, ergibt sich ja keinesfalls, dass es sich auch um Religion handelt. Es gibt ein analoges Phänomen im Blick auf die Kunst: alles möglich wird mit dem Begriff Kunst etikettiert: die Kunst der Predigt, die Kunst des Essens, die Kunst des Vergessens, die Kunst des Krieges, die Kunst des Liebens. Manche halten sogar Religion für eine Kunst. Nichts davon ist wirklich Kunst, sondern das Wort Kunst wird nur herangezogen, um das damit etikettierte zu veredeln. Kunst wird hier mit dem vorneuzeitlichen „Können“ verwechselt und zum gelungenen Handwerk gemacht. Was garantiert, dass es bei der Religion nicht auch so ist? Dass also hinter der Aufladung mit religiösem Sinngehalt nichts anderes steckt als der Wunsch, die damit bezeichneten Dinge als letzte Werte ‚aufzuwerten‘? Und auch sachlich finde ich die die Erweiterung des Religionsbegriffes problematisch. Der Differenzierungsgewinn der Moderne, dass nicht alles, was einem bedeutsam ist, gleich als Religion benannt werden muss (weil es sich oft eben auch um Dinge wie Rasse, Nation, Ehre, Begeisterung, Fanatismus oder dergleichen handelt), droht so nivelliert zu werden. Festzuhalten ist aber, dass es kein eng umgrenztes Phänomen Religion gibt.

Deutungsangebote (36-85):  In diesem Kapitel geht es um „Versuchsfelder der Analyse“, mit deren Hilfe sich „die Religionsgeschichten des 20. und 21. Jahrhunderts“ erfassen lassen. Da ist zum einen der Hinweis auf die von Peter L. Berger begründete Disziplin der Religionsökonomie, da sind zum anderen die fortdauernden Kirchenfunktionen: „Viele Europäer legen großen Wert darauf, dass die kirchliche Institution nicht nur in den individuellen Lebenspassagen und -krisen, etwa beim Tod naher Verwandter oder Freunde, sondern prononciert auch in den großen Kontingenzkatastrophen des Gemeinwesens ihre alte Rolle präzise wahrnimmt, kollektiver Trauer in den althergebrachten liturgischen Formen stilsicheren, würdevollen Ausdruck zu geben.“ (45) Die Religionsgeographie versucht dagegen die „Gelebte Religion“ wahrzunehmen, sie „versucht über ganz konkret ortsbezogene Mikroperspektiven religionsdiagnostische Gegenwartskompetenz zu schärfen und entwirft religiöse Topographien, kartiert die Versammlungsräume der Gemeinden, lässt das in jeder Stadt oder auf dem Lande verborgene religiöse Koordinatennetz der Frommen sichtbar werden.“ (47) Für unterentwickelt hält Graf vor allem in Deutschland die Erforschung der Rechtskultur im Blick auf die Religion. Das sei bedauerlich, denn im „Medium des Rechts spiegelt sich die mit Multireligiosität verbundene Konfliktdynamik nicht zuletzt deshalb besonders prägnant, weil juristische Auseinandersetzungen auch dank reich orchestrierter medialer Verstärkung häufig mobilisierend wirken.“ (53) Aber nicht nur die Religionsmärkte oder die Religionsgeographie bedarf der Untersuchung, sondern auch die Theologiegeschichte(n), als das „Beobachten der professionellen Religionsbeobachter“. Aber auch hier gilt: „Rezeptions- und Wirkungsgeschichten theologischer Ideen sind bisher kaum geschrieben, und es fehlen Untersuchungen zu den Konjunkturschwankungen sowohl auf den akademisch-theologischen als auch den populärtheologischen literarischen Märkten.“ (55) Als ein weiteres Versuchsfeld der Analyse benennt Graft die Erforschung der komplexen Bildwelten des Glaubens: dabei würde deutlich „in welch starkem Maße die Grenzen zwischen den Symbolwelten ganz unterschiedlicher Religionen durchlässig waren, wie also beispielsweise jüdische Symbole durch nachgerade osmotischen Ideentransfer in christliche und muslimische Kontexte Eingang fanden. Evangelikale Christen reisen zum Laubhüttenfest nach Jerusalem, und Tag für Tag kommen 3000 Muslime in die Kirche des Sankt Anton in Istanbul, um hier Kerzen anzuzünden und zu beten.“ (60) Das vielleicht wichtigste Feld der Erkundung mit den heftigsten Umbrüchen ist sicher das, das Graf unter dem Stichwort „Gendering Religion“ aufgreift. Während die Frage, ob bei allem Gerede vom homo religiosus nicht doch in der Regel vom vir religiosus gesprochen wird, die Theologie schon seit Jahrzehnten produktiv beschäftigt, ist die darüber hinausgehende Frage der Vielfalt der sexuellen Orientierungen und Lebensentwürfe religiös noch nicht umfassend erforscht, nicht zuletzt, weil hier die zur Zeit größten Konfliktfelder liegen. Und keinesfalls, darauf weist Graf zu Recht hin, sind hier die Fronten zwischen den Religionen klar verteilt, in dem Sinne, dass es einige fortschrittliche bzw. traditionelle und andere weniger fortschrittliche bzw. weniger traditionelle Religionen gäbe. Vielmehr lassen sich Verwerfungen und gegensätzliche Strömungen in allen großen Religionen feststellen.

Unter dem Stichwort „Selbstinszenierungen deuten“ geht es Graf dann um ein Moment, dass schon beim Stichwort „Bildwelten“ anklang: „Nicht zuletzt die christlichen Kirchen leben von einem spezifischen Symbolkapital wie Heiligen Schriften, Bekenntnissen, Ursprungsmythen, theologischen Lehren, Zeit- bzw. Feiertagsordnungen, Riten, kultischen Zeichen und Gebärden, das sie zu pflegen und zu tradieren haben. Religiöses Symbolkapital lässt sich als eine spezifische Kapitalsorte deuten. Es hilft Individuen wie kollektiven Akteuren ... dazu, Selbstgewissheit zu gewinnen und eine starke Identität auszubilden“ (71/72). Hier sieht Graf gerade den katholischen ordo als eine Art Krisengewinnler. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels ist u.a. dem Monotheismusstreit gewidmet, also jener Debatte, die sich an Jan Assmanns „Moses der Ägypter“ bzw. „Die mosaische Unterscheidung“ anschloss. Hier urteilt Graf freilich: „zur Analyse der religiösen Lage der Gegenwart ist Assmanns Modell alles andere als hilfreich“ (78). Für Grafs Konzept sind dagegen „Begriffe leitend, die zunächst widersprüchlich, paradox erscheinen mögen: Pluraler Monotheismus oder - wohl ein wenig zu artifiziell — Polymonotheismus.“ (79) Er verweist zur Begründung darauf, dass in allen monotheistischen Religionskulturen „sich gerade in der Gegenwart Entwicklungs- und Transformationsprozesse beobachten (lassen), die konventionellen Vorstellungen vom Eingottglauben elementar zuwiderlaufen. Religiöse Symbolsprachen sind Sprachen der Vieldeutigkeit, geprägt durch eine extrem hohe Ambiguitätstoleranz ... Religiöse Symbolsprachen sind ähnlich wie ästhetische Sprachen deshalb durch eine extrem hohe Interpretationsoffenheit gekennzeichnet“ (79/80). Zwar reden allen von dem einen Gott, aber jeder und jede Gruppe eignet ihn sich je spezifisch an: „Das Unbedingte wird vorrangig auf ein bestimmtes Bedingtes, die eigene Gruppe, das spezifische Milieu, meinen ganz unverwechselbaren Lebensentwurf bezogen.“ (84) Zugespitzt gesprochen: „Gott überlebt als Gruppengott, weil er sich so gut an bestimmte soziokulturelle Umwelten, Lebenswelten, anpasst.“ (85) Das wird den Vertretern institutioneller und konventioneller Religion nicht schmecken, aber in diesem Modell gehören sie eben auch nur noch zu einer kleiner werdenden Gruppe.

Vielfalt in Deutschland (86-101): Dem deutschen Konfessionsteppich geht Graf am Anfang des dritten Kapitels nach. Zunächst dient das auch dazu, die beliebte Rede vom „jüdisch-christlichen Erbe“ abzuweisen. Die Heterogenität, die allein schon die beiden großen Konfessionen in Deutschland kennzeichnete, verbietet es, daraus so etwas wie eine bewusste kulturelle Prägekraft abzuleiten. Von der konkreten Geschichte der Unterdrückung des Judentums einmal ganz abgesehen. Hier handelt es sich um ein ideologisches Konstrukt. Europäische Religionsgeschichte ist Pluralisierungsgeschichte. Tatsächlich sind aber die harten konfessionellen Konfrontationen mit dem Entstehen der Bundesrepublik Deutschland zunehmend an ihr Ende gekommen. Wenn es auch in einzelnen öffentlichen Debatten noch klare Unterschiede zwischen den Vertretern der beiden großen Konfessionen gebe, so hätten diese doch in der öffentlichen Wahrnehmung an Relevanz verloren. Dieser Effekt wird durch die ungebrochene Entwicklung der Kirchenaustrittszahlen noch verstärkt.

Auf der Ebene der „Alltagsökumene“, der sich Graf dann zuwendet, haben die Konfessionen aus ihrer Geschichte gelernt und sich von der aggressiven Abgrenzung abgewendet: „Wo Kulturkampf war, soll ‚Ökumene‘ sein“ (97) – eine Entwicklung, die auch der deutsche Staat im eigenen Interesse gefördert hat. Und diese Ökumene geht inzwischen weiter, als es Kirchenoffizielle sich eingestehen mögen. Oder wie es Graf süffisant formuliert: „Auf lokaler Ebene, in der Welt der Gemeinden und in der Gemeindediakonie, sind sich viele Katholiken wie Protestanten nicht zuletzt im ganz fundamentalen Misstrauen gegenüber ihren kirchlichen ‚Obrigkeiten‘ bzw. den ‚Amtskirchen‘ einig. Auch in Sachen Kirchenkritik funktioniert die deutsche Alltagsökumene bemerkens­wert gut.“ (101)

Europäische Sonderwege (102-128): Dieses Kapitel wäre vermutlich treffender mit „Europäische Wege“ überschrieben, denn es zielt u.a. auf jene Modelle, die sich im Staat-Kirche-Gesellschaftsverhältnis in Europa der Neuzeit ausgebildet haben. Das ist zum einen der radikale Laizismus der Franzosen, also die konsequente Zurückdrängung des Religiösen ins Private – mit der fatalen Konsequenz, dass über Religion öffentlich kaum noch debattiert wird. Das Gegenmodell ist das Staatskirchentum, hier exemplifiziert am Beispiel Griechenlands. Das ist deshalb interessant, weil hier die drohenden bzw. bestehenden Konflikte etwa im Blick auf muslimische Immigranten besonders in den Fokus rücken. „Nicht nur sind Staat und orthodoxe Kirche rechtlich ganz eng miteinander verbunden. Vielmehr nimmt ein erheblicher Teil der griechischen Bevölkerung den Islam primär nur als die Religion der osmanischen bzw. türkischen Unterdrücker wahr; man darf nicht vergessen, dass die sogenannte Turkokratia, das ‚Türkenjoch‘, vierhundert Jahre dauerte. Im Bewusstsein der großen Mehrheit sind griechische Nationalität bzw. Ethnizität und Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche identisch.“ (111) Allerdings lassen sich auch in den Staatskirchen europaweit Liberalisierungstendenzen erkennen. „Die Mehrheit der europäischen Länder hat sich für kooperativ angelegte Trennungsmodelle entschieden. Sie wollen keinen radikalen Laizismus oder ‚säkularen Fundamentalismus‘ (Dieter Grimm), sondern erkennen religiöse Akteure als wichtige gesellschaftliche Kräfte an, die im gelingenden Fall dem Gemeinwohl dienen.“ (117)

Zum zweiten wendet sich Graf in diesem Kapitel den Muslimen in Europa zu (120ff.). Gleich zu Beginn macht er deutlich, wie schwierig es ist, von „den“ Muslimen in Europa zu sprechen, da die ethnische Zusammensetzung in Deutschland z.B. eine ganz andere ist als in Frankreich. Auch differieren Fremd- und Eigendeutung der Muslime in den einzelnen Ländern. Deutlich wird hier, wie viel in dieser Frage rein empirisch noch zu erforschen ist. (In Deutschland konnte nicht einmal die letzte Volkszählung von 2011 eine Auskunft über den Anteil der Muslime an der Bevölkerung geben.)

Schließlich benennt Graf drittens die „Theokratischen Versuchungen“ (125ff.), worunter er die Tendenz der großen christlichen Kirchen versteht, „den Staat auf ihre weltanschaulich partikularen Positionen festlegen zu wollen“ (127). Stattdessen gehe es darum, die religiös-welt­an­schau­liche Neutralität des Staates auch theologisch zu verteidigen.

Religiöse Globalisierung (129-165): Berechtigterweise beschäftigt sich die Hälfte der Unterpunkte dieses Kapitels mit dem Phänomen der Pfingstler als der am schnellsten wachsenden und sich stark globalisierenden religiösen Gruppe der Gegenwart. Zunächst aber bilanziert Graf kritisch die weltweite Ökumene (129-138), die nach erfolgversprechenden Anfängen zu einem bedeutungslosen Funktionärstalk verkommen ist („viel eitles Gehabe von Funktionären, die durch Konsensgeschwätz als Beruf gern ihre Pfründe zu sichern suchen“). Man wird ihm da – gerade auch in der Schärfe seiner Formulierungen - kaum widersprechen können. Das betrifft auch seine kritische Einschätzung des Konsenspapieres zur Rechtfertigungslehre: „De facto wurde die Öffentlichkeit mit ein paar vagen Formeln zu täuschen versucht, weil es genau genommen gar keinen substantiellen Konsens über die zentralen Gehalte der Rechtfertigungslehre Luthers gab.“ (137) Den weltweiten protestantischen Lebenswelten wendet sich Graf im nächsten Schritt zu. Gegen den Eurozentrismus, der Protestantismus auf die klassischen Kirchen der Reformation begrenzt, verweist Graf auf die evangelikalen und pfingstlerischen Gruppen, die weltweit lange schon die Mehrheit in der protestantischen Evolutionslinie stellen. [Nebenbei bemerkt: Das wird auch vom aktuellen Papst so eingeschätzt, der seine Aufmerksamkeit schon seit vielen Jahren auf die pfingstlerischen Gruppierungen gerichtet hat und ihnen heute / 28.06.2014 / sogar mit einem Schuldbekenntnis entgegengekommen ist. Das ist weit mehr als sein Vorgänger den klassischen „Gemeinschaften“ der Reformation entgegenzubringen bereit war.] Diesen Bewegungen, darauf deuten alle empirischen Befunde, gehört die (religiöse) Zukunft. Graf skizziert dazu die „Glaubensrevolution der Pfingstchristen“ (143-152). Insbesondere in Lateinamerika ist den Pfingstlern ein beispielloser, aber gut begründbarer Erfolgszug gelungen (152-157) und „die Missionsdynamik der Pfingstler ist ungebrochen“. Es gelingt Graf präzise, die Attraktivität der Pfingstler z.B. für lateinamerikanische Lebensverhältnisse nachzuzeichnen: „Gegen die herrschende Promiskuität im Machismo werden außereheliche Sexualbeziehungen tabuisiert sowie Drogen, Alkohol und nicht selten auch Tabakkonsum abgelehnt. Zu ihrem Erfolg trägt entscheidend bei, dass sie eine religiös-sittliche Disziplinierung von Männern ermöglichen. Das macht pfingstlerische Gemeinden für Frauen attraktiv. Vor allem sie verlassen die katholische Kirche und gehen zu den Pfingstlern, bei denen sie sich als gleichberechtigt erfahren können. Gerade die neuen, neo-pentecostalen Gemeinden bieten ihnen Netzwerke weiblicher Solidarität, die es ihnen dank des empowerments durch andere Frauen erlauben, ihre Männer unter Familiendruck zu setzen: «Ich werde mich scheiden lassen, wenn du dich nicht von deiner Geliebten oder deinem Lover trennst.» «Werde endlich ein guter, anständiger Vater und folge mir und unseren Kindern in die Pfingstgemeinde“ (154f.) Aber „auch den konvertierenden Männern bieten die kleinen Glaubensgemeinschaften ganz neue Gelegenheiten. Sie treffen hier verlässliche Männer, die in Handel, Industrie und Dienstleistungssektor einen vergleichsweise guten Job haben. Sehen sie, dass der neu in die Gemeinde Gekommene sich deren strenge Moral zu eigen macht, werden sie ihm bald eine andere, bessere Stelle verschaffen.“ (155) Die Attraktivität der Pfingstler ist somit ein Effekt der Einbindung in funktionierende Lebenswelten.

Die kreationistische Internationale (166-202): In der öffentlichen Debatte und gerade auch in der Auseinandersetzung mit den „neuen Atheisten“ dreht sich vieles um den Kreationismus, also darum, was man unter „Schöpfung“ versteht. Das steht in einer langen Tradition protestantisch-theologischer Theoriebildung wie etwa der Physikotheologie: „Gott als die invisible hand in den natürlichen Prozessen der Evolution des Lebens.“ (169) Was wir jedoch seit den 60er-Jahren beobachten, das ist der Versuch, auf die schulische Vermittlung des Themas Einfluss zu nehmen. Graf skizziert, wie insbesondere in den USA versucht wird, mit Hilfe von Konzepten wie dem Intelligent Design die klassische Evolutionslehre zurückzudrängen. Die Ursache für die scheinbare Attraktivität diese Konzepte sieht Graf in sechs Momenten: 1) der Wiederverzauberung der Welt; 2) das Vorhandene als Gegebenes; 3) die sakrale Aura der überkommenen Institutionen; 4) das Versprechen der Krisenkompensation; 5) die Identitätsstiftung für Minderheiten und 6) etwas, was er Weltanschauungsbranding nennt, also ein charakteristisches Merkmal. (194-198) Graf meint nun im Gegenzug, derartige Konzepte könnten weniger durch wissenschaftliche Aufklärung, als vielmehr durch aufgeklärte Religion bekämpft werden: „Religion kann nur durch Religion überwunden werden“ (198). Es geht darum, „Schöpfung rational deuten und denken (zu) können“ (201). Allerdings überzeugt mich die skizzierte Antwort nicht: „Wir beanspruchen Freiheit, definieren uns als autonom und sind in Entscheidendem doch unfrei. Denn niemand hat sich selbst das Leben gegeben, sondern jeder, jede ist sich selbst immer schon als frei gegeben. Jeder, jede lebt aus Voraussetzungen, die er oder sie selbst nicht zu garantieren vermag, und jeder muss sich zu seinem Sichselbstgegebensein irgendwie, am besten: reflexiv, nachdenklich verhalten. Genau darum, um individuelle, je eigene Existenz geht es im jüdischen, christlichen und auch muslimischen Schöpfungscredo: Individuum est ineffabile. Indem die Rede von der Schöpfung einen Erfahrungsraum von ‚schlechthinniger Abhängigkeit‘ (Schleiermacher) symbolisch erschließt, eröffnet sie einen Erwartungshorizont von starker individueller Freiheit.“ (201) Abgesehen davon, dass man diese Sätze in Variationen überall und immer wieder hört (was mich ehrlich gesagt schon skeptisch stimmt, wenn es – in der Regel mit Bezug auf das Böckenförde-Diktum – aus dem traditionalistischen Lager kommt), glaube ich bei all dem weiterhin eine Art triumphalistischen Unterton zu verspüren. Es ist, als begebe man sich auf die Suche nach etwas, was dem Subjekt vorgängig wäre, um es ihm (bzw. dem nicht religiösen Menschen) dann quasi religionsproduktiv vorzuhalten. Ist das wirklich etwas anderes als eine Variation der alten god of gaps-Argumentation? Wäre die konsequente Umstellung auf Deutungsangebote (Wir deuten dieses Phänomen im Sinne der christlichen Narratio so ...) nicht sinnvoller?

Heilige Kriege (203-236): Die Rede von den Heiligen Kriegen ist mir persönlich immer eher als Konstrukt, als Beschreibung einer Realität vorgekommen. Eigentlich handelt es sich um durch die Berufung auf Religion legitimierte Kriege, ohne dass damit gesagt wäre, dass diese Berufung auch zu Recht geschieht. Auch bei Grafs Darstellung dieses Phänomens lässt sich ein gutes Stück Skepsis ob der Tauglichkeit des Begriffs feststellen. Aber unbestreitbar spielt er in den religiösen Auseinandersetzungen der Gegenwart eine wichtige Rolle.

Die fundamentalistische Herausforderung (237-245): Dieses Kapitel ist eigentlich eher eine Summe der vorangegangenen, denn auch bei den Pfingstlern, den Kreationisten und dem Heiligen Krieg ging es ja bereits um Bewegungen, die im Kampf gegen die liberale Moderne stehen. Graf aber akzentuiert hier noch einmal, worum es im Kern geht: „Die Modernitätskritik des protestantischen Fundamentalismus ist Kritik am Geltungsanspruch aufklärerischen Denkens.“ (241) Der Gegner ist der säkulare Humanismus. Gegen eine Kultur der Toleranz wird das Gesetz Gottes als höhere Instanz in Geltung gebracht.

Epilog: Die Zivilisierung der Religionen (246-256): Deshalb geht es letztlich um eine Zivilisierung der Religionen. „Soll religiöser Glaube mit einer freiheitlichen politischen Ordnung kompatibel sein, muss er sich selbst begrenzen können und zivilisieren. Das ist in erster Linie eine religiöse Aufgabe. Doch wie kann sie begründet und umgesetzt werden? Dazu bedarf es zunächst der Erinnerung an das Projekt der Aufklärung, die in vielen europäischen Ländern und in den USA immer auch theologische und vernunftreligiös motivierte Aufklärung war.“ (249)

Fazit: Was ist das Zielpublikum, wer ist der Adressat dieses Buches? Der Klappentext benennt als Adressaten all jene, die die wachsende Macht der Religionen besser verstehen wollen. Aber wer ist das? Man könnte die Ausführungen von Friedrich Wilhelm Graf in einem guten Sinn als Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern bezeichnen. Insofern zielen sie – anders als das Buch Kirchendämmerung – weniger auf den inner circle der Kirchen. Sie versuchen vielmehr jenen, die dachten, sie könnten die Religion hinter sich lassen, zu verdeutlichen, welche Bedeutung Religion heute hat. Insofern zeigen sie auch keine Lösungen für die Probleme der Kirche von heute auf, sondern machen eine Gemengelage deutlich, die dem an der Frage der Religion Interessierten ein Urteil über die Möglichkeiten und Risiken von Religion(en) in der heutigen Zeit ermöglicht. Es schafft somit etwas Ordnung angesichts der Unübersichtlichkeit der religiösen Lage in der Gegenwart.

Auf der anderen Seite konnte Schleiermacher 1799 noch auf Ansprechpartner bei den Gebildeten unter den Verächtern der Religion zählen. Ob es diese Gesprächspartner 2014 auf breiter Ebene noch gibt, dessen bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Die Beschneidungsdebatte hat gezeigt, wie dünn die Zivilisationsschicht in Sachen Religionsverständnis und Toleranz ist. Wenn, wie Graf meint, die Konflikte und Auseinandersetzungen um Religion eher noch zunehmen werden, sind wir aber auf derartige Diskussionspartner angewiesen. Grafs Buch ist zumindest ein Gesprächsangebot: Let’s talk about religion!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/90/am480.htm
© Andreas Mertin, 2014