Unser heutiges Zeitalter: ein liminales Zeitalter?

Kim de Wildt

Es hat schon immer zahlreiche Diagnosen gegeben, um zu deuten, in welchen Zeitalter wir leben und was uns jetzt bestimmt. Diese Diagnosen sind immer ein Versuch zu definieren, was uns unterscheidet im Vergleich zu vergangenen Generationen und Strömungen und einen Ausblick in die Zukunft zu geben. Jeder kennt die 68‘er Generation, die heutige Generation bezeichnet man als Generation Praktikum. In den Niederlanden kennt man die  Babyboomer, Generation Nix und heute die Screenagers.

Innerhalb der Geisteswissenschaften werden Paradigmenwechslungen seit den 1980er als sogenannte ‚turns‘, ‚Wenden’ beschrieben. Einige Beispiele davon sind die Linguistic turn, Performative Turn und Spatial Turn. Diese Wenden bezeichnen neue Fokussierungen innerhalb der Analyse von Kultur und Gesellschaft. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird von neuen intellektuellen Moden geredet, die einander rapide ablösen.[1]

Wahrscheinlich werde ich keine neue Mode auslösen, das möchte ich auch nicht, aber ich kann mich als jemand, der sich sowohl mit Raum, wie auch mit Ritual beschäftigt, nicht beherrschen, einige Gedanken zu diesem Thema zu äußern.

Leider muss ich die Analyse unserer heutigen Zeit, die geprägt wird von vielen Phänomenen, die unübersichtlich mit einander interagieren, noch ein bisschen schwieriger machen. Außer den schon besprochenen Phänomenen der Generationen und Wenden muss ich auch kurz einige Phänomene erwähnen, die die Selbstverständlichkeiten von vergangenen Jahrzehnten immer mehr in Frage stellen. Es ist niemals so gewesen, dass eine ganze Kultur unter einen bestimmten Nenner gefasst werden konnte, sei es Generation Nix oder performative turn. Dennoch geben solche Bezeichnungen immer ein Zeitbild wieder, das eine bestimmte Atmosphäre atmet und irgendwie die Befindlichkeit eines Zeitalters wiedergibt.  

Unser heutiges Zeitalter ist, abhängig von denjenigen die es betrachten, als entweder negativ oder positiv zu bewerten. Negativ im Sinne vom Verlust von traditionellen Formen der Familie, der Gemeinschaft, der Religion und zunehmenden Materialismus, um nur einiges zu nennen. Positiv im Sinne der zunehmenden Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung, Selbstentfaltung und Globalisierung, die es uns ermöglicht mit einem Mausklick die Welt unter unserem Finger zu haben.

Diese Phänomene sind aber nicht eindimensional als negativ oder positiv zu bewerten und können nicht in einem Begriff gefangen werden. Gerade diese heutige Realität ist vieldimensionaler und macht es uns unmöglich, sie in monodisziplinären Herangehensweisen zu verorten. Raum ist nicht die ausschlaggebende Kategorie, ebenso wenig wie Zeit, Sprache oder Handlung. Die Interaktion dieser Phänomene soll immer in Betracht genommen werden in der Analyse unserer heutigen Kultur und von daher ist der zunehmende Ruf um Interdisziplinarität und Multidisziplinarität angemessen.

Ein Konzept, das mir persönlich behilflich ist um innerhalb dieser Phänomene Griff zu bekommen auf unser Zeitalter und die Weise, wie es am besten zu beschreiben ist, ist der Begriff der Liminalität. Liminalität ist der Begriff, den der britische Anthropologe Victor Turner (1920-1983) geprägt hat, um innerhalb des Konzeptes der ‚Rites de Passage‘ von dem französischen Ethnologen Arnold van Gennep (1873-1957) die Transformationsphase zu deuten.[2]

In seinem berühmten Buch Les rites de passage, verfasst im Jahr 1909, beschreibt Van Gennep Übergänge, die immer von derselben Struktur gekennzeichnet sind. Es geht hierbei um soziale Übergänge, also Statusänderungen, aber auch um räumliche Übergänge, die eine dreiteilige Struktur aufweisen, nämlich die dreiteilige Struktur der Übergangsriten oder rites de passage: den ersten Teil beschreibt Van Gennep als rites de séparation (Trennungsriten), den zweiten Teil als rites de marge (Transformationsriten, Umwandlungsriten, oder Schwellenriten) und den dritten Teil als rites d'agrégation (Integrationsriten oder Angliederungsriten). Diese drei Phasen bezeichnet Van Gennep als die Ablösungsphase, Zwischenphase und Integrationsphase.[3]

In Anlehnung an Victor Turner möchte ich mich auf die Zwischenphase konzentrieren. Turner bezeichnet die Zwischenphase als liminale Phase; limen meint auf Latein Schwelle (treshold auf English). In der liminalen Phase sind die Merkmale des Subjekts (Turner nennt das Subjekt „der Reisende / Passagier“ [passenger auf English]) ambigue: diese liminale Phase wird dadurch gekennzeichnet, dass sie weder der Vergangenheit noch der Zukunft ähnelt.[4]

Liminal entities are neither here nor there; they are betwixt and between the positions arranged by law, custom, convention and ceremonial.[5]

Was bedeutet aber Liminalität für uns heute? Um dies zu verdeutlichen nehme ich ein persönliches Beispiel um deutlich zu machen wie Liminalität sich heutzutage auswirken kann.

Dezember 2013 wurde ich von den Gleichstellungsbeauftragten meiner vorigen Arbeitsstelle, der Technischen Universität Dortmund, eingeladen, etwas über berufliche und private Stationen in meinem Leben zu erzählen, so wie die jeweiligen Herausforderungen dabei, Grenzen, Lösungen, Ideen und Kraftquellen. Diesen Beitrag habe ich ‚Religion auf der Grenze. Biografische Schwellen im Leben‘ genannt. Der Titel deutet für mich mein liminales Leben an: sowohl das Wort ‚Grenze‘ wie auch das Wort ‚Schwelle‘ weisen darauf hin. Anhand einiger biographischen Beispiele werde ich zeigen, wie sehr mein Leben geprägt war und ist von Liminalität.

Die erste Station meines Lebens, meine Kindheit, wurde sehr beeinflusst von einem bestimmten Mädchenbild: das Bild von Pippi Langstrumpf. Was mich so sehr zu ihr hingezogen hat, war unter anderem ihre (körperliche) Kraft und ihre (finanzielle) Unabhängigkeit. Diese Merkmale sind klassisch Männer und Jungen zugeschrieben, Pippi aber vereinte in ihre kleine, liminale Person eine Vielzahl an Eigenschaften, die das klassische männliche und weibliche Menschenbild übersteigen. In dieser Zeit erfuhr ich noch eine bestimmte andere Form der Liminalität: die Gläubigkeit in eine schnell entkirchlichte Gesellschaft. Es war sicherlich eine liminale Erfahrung, einerseits selber angesprochen zu sein von den Glaubensformen der katholischen Kirche und andererseits auch sehr kirchenkritisch erzogen worden zu sein in eine Welt, die die Plausibilität des Glaubens immer mehr unter Druck stellte.

In meinem späteren Leben habe ich Liminalität in der Spannung zwischen meinem Glauben und meinem Frau-sein immer wieder erfahren: es ist eine schwierige Gratwanderung, die auszuhalten ist in einem Kontext, der geschichtlich nicht immer von seinem Wesen her frauenfreundlich ist:

11 Eine Frau lerne in der Stille in aller Unterordnung. 12 Ich erlaube aber einer Frau nicht zu lehren, auch nicht über den Mann zu herrschen, sondern ich will, dass sie sich in der Stille halte, 13 denn Adam wurde zuerst gebildet, danach Eva; 14 und Adam wurde nicht betrogen, die Frau aber wurde betrogen und fiel in Übertretung’  1 Timotheus2

Auch jetzt werde ich mein Leben als ein sehr liminales Leben bezeichnen: Ich lebe und arbeite als geborene und aufgewachsene Niederländerin jetzt sieben Jahre in Deutschland. Wie sehr ich Holländerin bin, habe ich erst jetzt in Deutschland erfahren. Und wie sehr ich verdeutscht bin, erfahre ich, wenn ich in meiner alten Heimat bin. Es ist ein ‚betwixt and between‘ zwischen zwei Nachbarländern mit ihren eigenen Kulturen die einander manchmal ähneln und dann wiederum sehr unterschiedlich sind. Außerdem bin ich keine reine Theologin, aber auch keine reine Religionswissenschaftlerin: ich bin eine Grenzgängerin zwischen beiden Disziplinen. Zudem bin ich weder Liturgiewissenschaftlerin noch Religionspädagogin: auch hier bewege ich mich zwischen beiden Bereichen. Und gerade das macht meine Arbeit spannend: die Verbindung zu suchen zwischen unterschiedlichen Herangehensweisen in der Hoffnung, dass das Ergebnis eine glückliche Beziehung ist. Ein letzter Bereich, den ich ansprechen möchte, bezieht sich auf das Land- und Stadtleben: ich komme aus einer niederländischen Stadt, arbeite jetzt in einer deutschen Stadt, die mir inzwischen mehr und mehr ans Herz wächst, lebe aber auf dem Land mit Mann und Tieren. Es ist immer wieder eine besondere Erfahrung innerhalb weniger Stunden in zwei so unterschiedlichen Welten zu sein, wo die Unterschiede leiblich zu erfahren sind: Natur und Kultur, Intellekt und Körperlichkeit, Ruhe und Hektik. Ich kann und möchte mein liminales Leben nicht ändern: in allen Fällen, sowohl beruflich als auch privat, brauche ich es, mich in mehreren Welten zu bewegen: das Leben auf der Grenze ist ein spannendes Leben.

Vielleicht ist diese kurze Skizze von meinem Leben nicht nur exemplarisch für meine Person: ähnliche Lebensentwürfe begegnen mir tagtäglich in unserer Kultur von Menschen, die sich auf dem Weg zwischen Länder, Karrieren, Beziehungen familiärer oder anderer Art machen. Was diese heutigen Menschen zu vereinen scheint, ist dieses dazwischen: statt dass jemand, wie vor einigen Jahrzehnten, eine bestimmte Rolle in einem bestimmten geographischen Umfeld, in einem bestimmten gesellschaftlichen Kreis, während eines ganzen Lebens einnehmen könnte, wird unser Zeitalter vermehrt bestimmt von fluiden Rollen auf die Schwellen des Lebens, wobei Lebensentwürfe sich schnell ändern können und manchmal auch müssen. Es bringt viele schon angesprochene Vorteile mit sich: wer ich bin, bestimme ich selber und wenn nötig bestimme ich das jeden Tag erneut. Aber die Kehrseite ist auch da: Menschen können auf der Strecke bleiben, wenn sie nicht in der Lage sind, diese spannungsvollen Schwellen auszuhalten und proaktiv auf das Angebot einer ganzen Welt zu agieren. Die Gefahr besteht dann, dass man sozusagen in Limbus bleibt; das muss nicht zwingend schlecht sein, es kann auch eine Rückbesinnung sein auf das eigene liminale Leben: gelingt mir die Gratwanderung immerhin noch und möchte ich sie in dieser Form aushalten können? Sollte ich mich erneut orientieren oder kann ich den Ansprüchen der Welt und meinen eigenen Bedürfnissen gerecht werden? Wie unsere Gesellschaft sich entwickeln wird, bleibt eine offene Frage, aber auch das gehört zur Liminalität: die Unsicherheit auf der Schwelle aushalten zu können.

Anmerkungen

[1]    Doris Bachmann-Medick (2006). Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt. S. 7-8; Victoria E. Bonnell & Lynn Hunt (1999). Beyond the cultural turn: new directions in the study of society and culture. California: University of California Press, S. 1-2.

[2]    Victor W. Turner (1964). Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage. In: The Proceedings of the American Ethnological Society, Symposium on New Approaches to the Study of Religion, S. 4-20; Arnold van Gennep (1960). The Rites of Passage. Chicago: The University of Chicago Press.

[3]    Arnold van Gennep (1986). Übergangsriten. Frankfurt/Main: Campus Verlag, S. 21; Van Gennep (1960). The Rites of Passage. S. 10-11.

[4]    Victor Turner (1969). Liminality and Communitas. Nachdruck in: Michael Lambek (2008). A Reader in the Anthropology of Religion. Wiley-Blackwell, 358-374, hier: 359.

[5]    Liminale Entitäten sind nicht hier oder da; sie sind zwischen die vom Recht, Gebrauch, Konvention und Zeremonie zugewiesenen Positionen.` (Übersetzung KdW).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/90/kdw1.htm
© Kim de Wildt, 2014