Notizen VII

Ein Blogsurrogat

Andreas Mertin

Raum für Unkultur / 02.08.2014

Es gibt Texte, die ihre Denkungsart schon offenbaren, bevor sie zur Sache kommen. Wenn ein feuilletonistischer Text mit den Worten beginnt:

„Als ganz besonderen musikalischen Leckerbissen ...“,

dann weiß man, man ist unter Barbaren geraten. Die Zurichtung der Wahrnehmung nach Kategorien des Kulinarischen ist fast immer ein Indiz für den Widerwillen, sich etwas Sperrigem, nicht Eingängigem, eben nicht Schmeckendem auszusetzen. Das Gefällige ist erwünscht, Nachdenken weniger. Kunst und Kultur soll dem Bürger Genuss bereiten, ein Leckerbissen sein. Der Moment von Wahrheit, der der Kultur einmal zugewiesen wurde, wird damit von vornherein ausgeschlossen. Der „musikalische Leckerbissen“, um den es im vorliegenden Falle ging, war ein Oratorium von Händel, genauer das Werk „Israel in Egypt“ das er 1738 schrieb. Es wurde Anfang August 2014 in Lübeck aufgeführt.

Der Teaser der Besprechung gibt bereits vor, wie die Rezensentin sich die Erschließung des Gehörten vorstellt:

„Mit kriegerischen, musikalisch erstklassig vorgetragenen Bibeltexten hielt Händels großes Barockoratorium Israel in Egypt Einzug in die Lübecker MuK.“

Die Schizophrenie dieser Formulierung ist der Redaktion wohl gar nicht aufgefallen. Wenn die vorgetragenen Bibeltexte tatsächlich kriegerisch wären, dann wäre ihre erstklassige musikalische Umsetzung wohl als Kriegspropaganda einzustufen. Denn die einfache Trennung von Form und Inhalt dürfte in diesem Falle kaum einleuchten: Er war zwar für das Abschlachten von Menschen, aber die Art seines Vortrags war ein Leckerbissen! Ich kenne diese Art der Argumentation aus der Diskussion um Leni Riefenstahl und Arno Breker, wo auch immer gesagt wird, das zu Transportierende sei zwar schlecht, die Art der Umsetzung aber erstklassig.

Werfen wir also einen Blick auf die ‚kriegerischen‘ Texte, um die es hier geht. In den Worten der Rezensentin:

„Mörderisch grausam ist die alttestamentarische(sic!) Vorlage zu diesem Oratorium. Mit sieben grausamen Plagen bringt der ‚Liebe Gott‘ den ägyptischen Pharao dazu, sein auserwähltes Volk Israel aus den Sklavendiensten zu befreien und abziehen zu lassen, nachzulesen im Psalm 105 und im 2. Buch Mose, 7-11. Hagel, Feuer und Massenmord setzt der biblische Gott ein, um sein geliebtes Volk zu befreien.“

Es geht mit anderen Worten um die zehn und nicht sieben Plagen, die im Buch Exodus in den Kapiteln 7-12(!) beschrieben werden. Ich will hier gar nichts zur Historizität sagen, es dürfte klar sein, dass kein historisches Ereignis geschildert wird, sondern ein kunstvoll komponierter literarischer Text zur Aufführung kommt. Näheres liefert einem jeder fachwissenschaftliche Artikel, der heutzutage ja selbst für oberflächliche Kulturkritikerinnen über das Internet greifbar ist (Plagen/Plagenerzählung), sogar die Wikipedia liefert genügend Anhaltspunkte.

Aber einmal angenommen, man würde glauben, dass sich hier etwas Reales spiegelt, dann muss man ja ebenso glauben, dass der biblische Gott existiert und ein real in die Geschichte eingreifender Gott ist. Sonst macht der Vorwurf an ihn ja keinen Sinn [Vorwürfe an literarische Figuren kann man nicht erheben]. Für die Ägypter waren im Rahmen der literarischen Konstruktion die Plagen – da sie ja nicht an den Gott der Hebräer glaubten – eine Anhäufung unglücklicher Naturkatastrophen. Nichts Mörderisches. Und grausam nur im Blick auf die Folgen, denn der Natur kann man keine Absicht unterstellen.

Insofern die Rezensentin vermutlich nicht an den Gott der Hebräer glaubt, kann sie auch nicht glauben, dass dieser mörderische Plagen geschickt hat. Sie kann allenfalls kritisieren, dass die biblische Überlieferung Naturereignisse irrtümlich als Handlungen eines Gottes deutet.

Aber selbst wenn man einmal auf der merkwürdigen Gedankenebene der Rezensentin verbleibt, was ist eigentlich „mörderisch“ daran? Die Geschichte erzählt von der Versklavung eines ganzen Volkes, das sich nach Freiheit sehnt. Die Führer dieses unterdrückten Volkes fordern vom sie versklavenden Herrscher die Freiheit, die er ihnen versagt. Er will das Volk weiter versklaven. Das scheint für die Rezensentin noch normal, nicht grausam, nicht mörderisch zu sein. In einem ersten Akt wird dann eine Plage angekündigt, die den Nil blutrot färbt und die Fische tötet. Auch danach werden die Hebräer nicht aus ihrer Versklavung entlassen. Nun kriechen die Frösche ans Land, sterben dort und verpesten die Gegend. Mücken vermehren sich und quälen Mensch und Tier, Ungeziefer dringt in die Häuser vor. Dies wird immer wieder unterbrochen von der Aufforderung, die im 20. Jahrhundert durch Martin Luther King noch einmal sprichwörtlich wurde: Let my people go!

Man könnte also sagen, es handelte sich um eine kalkulierte Sanktionspolitik. Wenn Du die versklavten Menschen nicht freilässt, werden wir Dich dazu bringen, dass auch Deine Leute darben müssen. Wenn Du weiter Sklavenherrscher sein willst, wirst Du spüren, was es heißt, versklavt zu sein. Sanktionen dieser Art, das ist bis in die Gegenwart deutlich, haben einen Hang zur Eskalation. Wenn der mit Sanktionen Bedrohte nicht nachgibt, dann wird die nächste Stufe der Bedrohung folgen. Andererseits besteht jederzeit die Möglichkeit zur Deeskalation, indem man zum Beispiel die Unterdrückten frei lässt. Und ja, zur Eskalationsrhetorik gehört auch die Androhung von Gewalt gegen Menschen. In der Logik der Erzählung kommt diese Stufe der Gewalt tatsächlich am Ende zur Anwendung und erst dann wird das versklavte Volk der Hebräer freigelassen.

Ein mörderischer Kriegsgott hätte sicher nicht so lange gewartet. Warum nicht gleich den Feind vernichten? Warum ihm noch die Möglichkeit zur Umkehr von seinem Fehlverhalten geben? Warum, während die Sklaverei doch weitergeht, noch Zeit einräumen, warum noch diskutieren?

Wie gesagt, es handelt sich um einen komplexen fiktionalen Text, der den 1000 Jahre später lebenden Generationen verdeutlichen soll, dass Gott sie aus Ägypten und das heißt, aus der Sklaverei befreit hat. Der Text, auch das muss noch einmal hervorgehoben werden, legt Wert darauf, dass Gott der zentral Handelnde ist und die Betroffenen ihr Schicksal nicht in die eigene Hand nehmen. Ich betone das deshalb, weil die Kulturrezensentin nun von der etwas merkwürdigen moralinsauren Zusammenfassung des biblischen Kerns des Oratoriums von Händel unmittelbar übergeht in die antijudaistische Kommentierung der Gegenwart.

Sie beginnt diesen Absatz mit den Worten

„Der aktuelle Bezug ist offenkundig“.

Nun kann man ja mal überlegen, worin denn die offenkundige Parallelität des aktuellen Geschehens im Nahen Osten zur biblischen Erzählung von Israel in Ägypten, den Zehn Plagen und dem Exodus besteht. Wenn man auf der ideologischen Seite der Menschen im Gazastreifen stünde, könnte man vielleicht sagen, die Israelis haben uns versklavt, wir wollen Freiheit, „Let my people go“ – sonst regnet es Feuer und Hagel vom Himmel. Gut, man würde dann gleich mit der siebten Eskalationsstufe einsteigen, aber eine gewisse Ähnlichkeit der Situation wäre in dieser Perspektive da. Es wäre eine Inversion der Geschichte. Das Volk, das unterdrückt war und durch Plagen befreit wurde, ist nun selbst zum Unterdrücker geworden und wird nun auch von (freilich von Menschen hergestellten) Plagen bedroht.

Das macht aber nur Sinn, wenn man zugleich die Logik und den Sinn der Exodusgeschichte nachvollzieht, nach der das Land Kanaan den Israeliten von Gott zugewiesen wurde. Ich glaube nicht, dass die Hamas oder irgendein Palästinenser sich auf diesen Gedanken einlassen möchte, denn man kann schlecht den einen Teil der Geschichte wörtlich nehmen und den anderen nicht.

Worin aber könnte sonst ein aktueller Bezug bestehen?

„Der aktuelle Bezug ist offenkundig, nur dass die Israelis mittlerweile die Bestrafung ihrer Feinde mit allen neuzeitlichen Kriegsmitteln selbst übernommen haben. Wenn auch musikalisch delikat verpackt, so klingen die Sprüche wie: ‚Es soll Feuer und Hagel regnen‘, ‚Die Völker sollen hören und sich fürchten‘, ‚Der Herr ist ein Mann des Krieges‘ und ‚Der Herr wird immer und ewig regieren‘ dennoch unheimlich grausam. Das mag daran liegen, dass die biblischen Vorlagen von der gegenwärtigen Wirklichkeit noch weit übertroffen werden.“

So etwas nenne ich Antijudaismus (um nicht zu sagen Antisemitismus) in Reinkultur. Sieht man einmal von der atemberaubenden Ungeheuerlichkeit ab, mit der die Autorin Israel unterstellt, den von ihr so attribuierten „Massenmord“ Gottes in Ägypten noch „weit zu übertreffen“, so ist der gesamte Text eine einzige Ansammlung von Ressentiments. Die Geschichte vom Exodus hat mit dem gegenwärtigen Geschehen in Israel überhaupt nichts zu tun.

Die Assoziation kommt zustande, weil die Autorin die zehn biblischen Plagen für schrecklich hält und das Handeln Israels im Gazastreifen ebenso. Und nun wird, und das macht das Ganze zu einem antijudaistischen Text, hieraus ein Zusammenhang konstruiert. So waren sie zu ihren Feinden schon immer, die Juden: beim Exodus und im Gaza. Nur dass sie früher den Massenmord Gott zuschoben und ihn heute selbst erledigen. Und während Gott noch auf die Natur setzte, setzen die Israelis heute „alle neuzeitlichen Kriegsmittel“ ein. Dass man heute nicht mehr mit Fröschen Krieg führt, dürfte auch der Autorin klar sein. Dass Israel aber gerade nicht(!) alle neuzeitlichen und schon gar nicht alle biblischen Kriegsmittel einsetzt, ebenso.

[Zu den biblischen Kriegsmitteln hilft vielleicht ein kleines Zitat aus dem Artikel „Krieg“ des Wissenschaftlichen Bibellexikons: „... Mit den Strafaktionen wurde zudem das Ziel verfolgt, ein militärisches Wiedererstarken dauerhaft zu unterbinden. Sie sind daher nicht nur irrationale Vergeltungsmaßnahmen, sondern auch Teil eines längerfristigen Kalküls. Zu den materiellen Verlusten kam die Gefahr für Leib und Leben von Militär und Zivilbevölkerung. Auf das Ende des Krieges folgten Erniedrigungen wie Hohn und Spott (z.B. Ps 44,13-17; Ps 79,4) oder die nackte Zurschaustellung von Besiegten (z.B. Jes 20,4; Jes 47,1-3; Nah 2,8). Zu den Kriegsgräuel zählten Folter (z.B. Ri 8,16), Verstümmelung, Blendung (vgl. 2Kön 25,7), Häutung (2Makk 7,4) sowie das Aufschlitzen von Schwangeren (2Kön 15,16; Hos 14,1). Auch Akte sexualisierter Gewalt durch marodierende Soldaten werden im Alten Testament erwähnt (z.B. Dtn 28,30; Jes 13,16; Sach 14,2; Klgl 5,11). Dtn 21,10-14; Ri 5,30 oder Jdt 16,4 [Lutherbibel: Jdt 16,6] machen deutlich, dass Frauen als Kriegsbeute gesehen wurden, der man sich sexuell bemächtigen konnte. Gewaltakte wurden meist in aller Öffentlichkeit verübt, um die Überlebenden zu demütigen und neuerlichen Widerstand im Keim zu ersticken. Dieselben Ziele erfüllte die Zurschaustellung von Leichen und Leichenteilen an exponierten Stellen wie Stadtmauern oder Pfählen ...“ Von all dem kann bei der militärischen Intervention Israels im Gaza überhaupt keine Rede sein. Es gilt also keinesfalls, „dass die biblischen Vorlagen von der gegenwärtigen Wirklichkeit noch weit übertroffen werden“.]

In diesem Krieg starben und sterben Menschen. Das ist schrecklich und jeder Tote ist ein Toter zu viel. Es muss deshalb daran gearbeitet werden, dass die permanente Bedrohung und die Beschießung Israels aus dem Gaza [allein 15.000 Raketen und Granatenangriffe seit 2001] ebenso wie die Begrenzung der Lebensverhältnisse im Gaza ein Ende findet.

Das Entsetzen über einen Krieg darf aber auf der anderen Seite nicht dazu führen, dass man sprachlich auf mittelalterliche bzw. neuzeitliche Stereotypen rekurriert. Wenn man wissen will, warum Antisemitismus so verbreitet ist in unserer Gesellschaft, dann braucht man nur auf Texte, wie den gerade zitierten zu blicken. Da wird nichts aus der Geschichte des Antijudaismus ausgelassen. „Mörderisch grausam ist die alttestamentarische Vorlage“ – das ist die Sprache der Antisemiten seit der späten Romantik.

Wie willkürlich diese Assoziationskette darüber hinaus ist, wird auch daran deutlich, dass die erwähnten Formeln mit einer ganz anderen Bedeutung heute ja nicht von Israelis, sondern von ganz anderen Kriegsherrn im Mund geführt werden: ‚Es soll Feuer und Hagel regnen‘, ‚Die Völker sollen hören und sich fürchten‘, ‚Der Herr ist ein Mann des Krieges‘ und ‚Der Herr wird immer und ewig regieren‘ wird zur Zeit im so genannten Kalifat des Abu Bakr al Bagdadi auf wirklich mörderische Weise umgesetzt. Gnadenlos, grausam. Nur hat noch niemand ein Oratorium darüber geschrieben und Gott sei Dank wird das auch niemals jemand tun.

Ein sogenannter Katholik / 03.08.2014

Durch Zufall stoße ich heute auf einen Eintrag in einem Blog, der sich mit den Friedensaktivitäten einer ökumenischen Gruppe im Westfälischen beschäftigt. Der Blogger ist kritisch gegenüber dem, was die Friedensbewegten so machen – das ist sein gutes Recht. Was ich inzwischen aber auch in den letzten Jahren bei den katholischen Blogs (kennen)gelernt habe, ist der herabsetzende Gebrauch des Adjektivs. Ein Paradebeispiel dafür ist kath.net. Da ist ein kritisch Beurteilter niemals das, als was ihn seine Amtsfunktion oder Berufsbezeichnung auszeichnet, sondern immer zugleich auch ein „umstrittener ...“  Theologe, Pfarrer, Politiker usw. Manchmal ist er sogar ein „höchst umstrittener ...“. Da weiß der Leser, was er zu denken hat. Und auch der von mir entdeckte Blogger schätzt diese Art der diskriminierenden Etikettierung. Bei ihm lautet das so:

Die sog. Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche von Westfalen, Superintendentin Annette Muhr-Nelson erinnerte daran, daß das Evangelium uns sagt: "Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein." Eine Quellenangabe für diesen Satz bleibt die umstrittene Frau leider schuldig.

Nun, Annette Muhr-Nelson ist nicht die sogenannte, sondern sie ist die Friedensbeauftragte meiner Landeskirche. Warum sie umstritten sein soll, kann unser Blogwart nicht benennen, wir sollen ihm diese üble Nachrede einfach glauben. Aber zumindest gibt er ein Indiz: sie habe behauptet, dass das Evangelium uns sagt "Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein."

Nun ist diese Beschreibung etwas irreführend. Annette Muhr-Nelson hat, das lässt sich schnell überprüfen, an das Friedenszeugnis des Evangeliums erinnert: "Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein." Sie argumentiert also erkennbar mit der Mitte der Schrift. Die Botschaft des Evangeliums lässt sich zusammenfassen mit dem benannten Satz. Der Satz selbst, dass weiß jeder, der sich mit christlicher Theologie nach 1945 einmal beschäftigt hat, stammt aus einer Erklärung der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1948 in Amsterdam. Ganz korrekt ist das Zitat übrigens nicht, im Text des ÖRK heißt es: "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein." Eine kleine, aber wichtige Akzentverschiebung. Unser sogenannter Katholik weiß das vielleicht nicht, weil die Katholische Kirche dem ÖRK nur als Gast angehört.

Ich habe für mich eine Schlussfolgerung aus dem Blogeintrag gezogen. Künftig werde ich – selbstverständlich nur bei Bedarf – katholische Blogger immer „sogenannte Katholiken“ nennen. Und Bischöfe der katholischen Kirche immer „umstrittene Bischöfe“. Das hat – nicht zuletzt mit Blick auf Mixa und Tebartz van Elst - eine höhere Plausibilität als die Herabsetzung unserer Superintendentinnen mit derlei Etiketten.

QualitätsJournalismus heute / 03.08.2014

WELT Online schreibt einen Hintergrundbericht über das Scheichtum Katar, dem die Finanzierung so ziemlich aller dschihadistischen Gruppierungen dieser Welt vorgeworfen wird:

Das Emirat Katar hat laut CIA Factbook im Juli 2014 geschätzte 2.123.160 Einwohner, allein Doha, die Hauptstadt hatte 2011 über 567.000 Bewohner. Zutreffend ist, dass nur ein geringer Teil der Einwohner ohne Migrationshintergrund ist, also zur indigenen Bevölkerung gehört. Aber auch dieser Anteil liegt höher als 250.000, er wird mit rund 300.000 angegeben. Alle anderen Einwohner sind anderer Abstammung. Immerhin leben über 100.000 Christen in Katar.

Mathematik / 12.08.2014

Jedes Jahr gibt es bei idea die Sensationsmeldung vom erfolgreichsten Film aller Zeiten, vor allem auch dem missionarisch erfolgreichsten Film aller Zeiten. Es ist der „Jesus-Film“, 1979 in Israel gedreht. Seitdem haben ihn angeblich 6 Milliarden Menschen gesehen und alle 6 Sekunden bekehrt sich weltweit wegen dieses Filmes ein Mensch neu zum Christentum. Der Film läuft also etwa 13.000 Tage. Macht bei 6 Milliarden Zuschauern 461.535 Zuschauer am Tag. Bei 10.800 Bekehrten pro Tag wird jeder 40. Bekehrt. Das setzt natürlich voraus, dass nur Unbekehrte den Film sehen. Was wenig wahrscheinlich ist. „Bekehrung“ scheint hier einen anderen semantischen Gehalt zu haben, als der uns vertraut ist, sonst müssten bald alle Menschen bekehrt sein. Vermutlich meinen sie eher ‚wiedergeboren‘. Und vermutlich kann man unendlich oft wiedergeboren werden. So also kommen die 6 Milliarden Zuschauer und die zahlreichen Bekehrten zustande. Alles andere wäre schon eine arg wundersame Menschenvermehrung. Als Wundermittel gegen Kirchenmitgliederschwund eignet sich der Film jedenfalls nicht.

Heimat / 22.09.2014

Weniges irritiert mich bei Diskussionen um Kirchenbau und Kirchennutzungen so sehr wie das Wort Heimat. Ich bin mit dem berühmten Bloch-Wort aufgewachsen: „Nicht Heimat suchen, sondern Heimat schaffen! --- Es geht um den Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ (Ernst Bloch) Anders ausgedrückt: die spirituelle Heimat steht unter eschatologischem Vorbehalt. In der Diskussion taucht das Wort Heimat aber mit einem anderen semantischen Gehalt auf: als vertraute Umwelt. Gerade die ist aber keine Heimat. Vertraute Umwelt war den Israeliten während des Exodus die Fleischtöpfe Ägyptens, während sie Angst vor der ihnen von Gott zugesagten, aber eben unvertrauten Heimat hatten.

Spuren! / 26.09.2014

Vermutlich ist es eine bloße Idiosynkrasie meinerseits. Bei einem engagierten Vortrag einer Kollegin über Gottes- und Jesusbilder verwendete sie als leitenden Topos die Formulierung „In der Spur“. Und irgendetwas irritierte mich.

Was aber könnte falsch daran sein, Jugendliche in die Spur Jesu Christi zu bringen? Subjektiv hätte ich die Formulierung „auf die Spur“ bzw. genauer: „auf die Spuren“ gewählt. Ganz im Sinne des 2. Kapitels des 1. Petrusbriefes: „Denn in dieses Leben seid ihr berufen: Weil auch Christus für euch litt, euch hinterließ er das Vorbild, damit ihr seinen Spuren folgt“ (BigS).

Dieses Sprachbild setzt – ob nun explizit oder wenigstens doch implizit – voraus, dass man sich selbst auf die Suche machen muss, dass die Spurenlage keineswegs so eindeutig ist, als dass man sofort wüsste, wohin die Reise geht. Dass also, um im Bild zu bleiben, zahlreiche Spuren Jesu Christi vorhanden sind, die von Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Paulus und vielen anderen je unterschiedlich benannt werden, aber eben nur mit Mühe so etwas wie eine konkrete Spur (im Sinne der Mitte der Schrift) ergeben.

In der Spur Jesu dagegen setzt eine Normativität voraus, die sich in Formulierungen wie „in der Spur bleiben“, „einspuren“, „nicht aus der Spur geraten“ etc. konkretisiert. Und von dort ist es dann für meine empfindlichen Ohren nicht mehr weit zu den Linientreuen und den Abweichlern, die auf Linie gebracht werden müssen. Spurensuche dagegen hat etwas mit Subjektivität, mit Schlussfolgerungen (Abduktionen) und mit Denken zu tun. Und das ist mir sympathischer.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/91/am 474.htm
© Andreas Mertin, 2014